Burma Großes Los
Den Tod im Auge, verhielt sich die schmale, grazile Frau ganz so wie die leibhaftige Tochter eines Helden und Märtyrers:
Umgeben von ein paar Anhängern befand sich die Burmesin Aung San Suu Kyi, 44, vor gut einem Jahr auf dem Weg zu einer Parteiveranstaltung, als plötzlich vor ihr sechs Soldaten von einem Jeep sprangen und ihre Waffen auf sie anlegten. Kaltblütig befahl sie ihren Begleitern, sich in Sicherheit zu bringen, dann ging sie beherzt weiter. Einem Major, der den Schießbefehl in letzter Sekunde kassierte, verdankt sie ihr Leben.
»Es schien so viel einfacher zu sein«, sagte sie später, »ihnen nur ein einziges Ziel zu bieten.« Und: »Man kann entweder voranschreiten mit dem, was man tut, oder man kann weglaufen.«
Suu Kyi, Tochter des Unabhängigkeitshelden General Aung San, der 1947 zusammen mit sechs Ministerkollegen Opfer eines rechtsgerichteten Mordkomplotts wurde, kann derzeit weder voranschreiten noch weglaufen.
Seit dem 20. Juli vorigen Jahres verbringt sie ihr Leben in einem Haus am Inja-See in der Hauptstadt Rangun unter Arrest, ihre Telefonleitung ist gekappt, Soldaten bewachen die Politikerin. Aus dieser demütigenden Position heraus hat sie gleichwohl die seit 28 Jahren herrschenden Militärs vernichtend geschlagen: Die von ihr mitbegründete Nationale Liga für Demokratie errang bei den noch immer nicht ganz ausgezählten Wahlen vom 27. Mai etwa 80 Prozent der Stimmen. Die Nationale Einheitspartei der Militärs muß sich, wenn sie den Wählerwillen respektieren will, wahrscheinlich mit 6 von 492 Parlamentssitzen bescheiden.
Aber die Siegerin kann ihren überwältigenden Triumph nicht in Politik umsetzen. Denn der regierende »Staatsrat zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung«, der noch immer von dem vor zwei Jahren zurückgetretenen Diktator Ne Win, 79, dirigiert wird, macht keine Anstalten, mit der Wahlsiegerin auch nur Verhandlungen aufzunehmen, geschweige denn ihren vorerst bis zum 20. Juli währenden Hausarrest aufzuheben. Im Gegenteil: Die Armee ließ zusätzlich Wälle von Sandsäcken um ihr Haus auftürmen.
Die von den Militärs selbst heraufbeschworene neue Demokratie - die Machthaber spekulierten auf eine Wiederaufnahme der von den USA, Japan und der EG gesperrten Auslandshilfe - läßt sich vermutlich nicht mehr mit Sand ersticken. Aung San Suu Kyi, die einzige Hoffnung der sozialismusmüden Burmesen, ist längst, wie ihr Vater, zum Mythos geworden.
Eine halbe Million Menschen hatte sie bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt am 26. August 1988 in Rangun angelockt, und die verfielen in ohrenbetäubenden Jubel, als sie »den zweiten Kampf für die Unabhängigkeit« proklamierte.
Nach 28jähriger Abwesenheit war sie im April jenes Jahres nach Rangun zurückgekehrt, um ihre sterbende Mutter zu pflegen. Doch Suu Kyi geriet in die Demokratiebewegung der Studenten, die sich zu einer Volkserhebung gegen die Militärs auswuchs - »scheinbar eine Politikerin wider Willen«, so der Londoner Independent.
In Wahrheit hatte sie nur auf eine solche Gelegenheit gewartet. Bevor sie 1972 den Oxford-Dozenten und Tibet-Forscher Michael Aris heiratete, ließ sie sich versichern, daß er ihr nicht im Weg stehen dürfe, wenn eines Tages die Zeit reif sei, sich in Burma politisch zu betätigen. »Als Tochter meines Vaters«, sagt sie, »konnte ich angesichts der Ereignisse nicht gleichgültig bleiben.«
Sie war zwei Jahre alt, als der Vater, ein linksnationaler Demokrat, erschossen wurde. 1960, zwei Jahre vor Ne Wins Putsch, begleitete sie ihre Mutter nach Indien, die dort als Botschafterin Burma vertrat. Nach ihrem Schulabschluß studierte Suu Kyi Philosophie, Politologie und Nationalökonomie in Oxford.
Die intelligente, redegewandte Tochter des Nationalhelden Aung San, dessen Porträt bis heute in allen Amtsstuben Burmas hängt, war für die verzweifelt nach einer Führungspersönlichkeit suchende Volksbewegung nicht nur ein fabelhaftes Symbol. Sie hatte gegenüber ihren seit drei Jahrzehnten auf Geheiß Ne Wins völlig von der Außenwelt abgeschotteten Landsleuten auch weitere Vorzüge: Sie kannte die Welt, hatte Erfahrung in Demokratie und war im Gegensatz zu anderen Politikern frei von jedem Makel zeitweiliger Zusammenarbeit mit den Militärs.
Die Rolle einer Oppositionsführerin fiel ihr so fast automatisch zu: Suu Kyi unterbreitete der von immer größeren Demonstrationen bedrängten Marionettenregierung Ne Wins Reformvorschläge. Auf das Drängen von Freunden hin sprach sie vor den Massen, die das Ende der Militärherrschaft zum Greifen nah wähnten - bis zum Armeemassaker vom 19. September 1989, bei dem, ein Dreivierteljahr vor dem Tienanmen-Massaker in Peking, Tausende Menschen umkamen. Mehrere tausend Suu-Kyi-Anhänger flohen außer Landes.
Die Wahlen, die Burmas Herrscher auf internationalen Druck für 1990 ankündigten, drohten zur Farce zu werden: Die Opposition bekam keinen Zugang zu den staatlich kontrollierten Medien, ein Regierungsdekret verbot Ansammlungen von mehr als vier Menschen.
Wo immer im Land Suu Kyi erschien und eine von insgesamt über tausend Reden hielt, schlug die zu Zehntausenden herbeigeeilte Bevölkerung alle von Soldaten per Lautsprecher verbreiteten Warnungen in den Wind, auch die, daß es verboten sei, die Politikerin anzulächeln. »Dies«, befand sie selbst, »ist ja wohl das letzte Menschenrecht, das den Burmesen geblieben ist.«
Die Tatsache, daß sie aus dem Ausland kam, versuchten die Militärs im Wahlkampf gegen die »Verräterin« Suu Kyi auszuspielen. Soldaten verteilten Karikaturen, die sie und ihren europäischen Mann bei »fremdländischen« Sexpraktiken zeigten.
Sie schlug zurück, indem sie Ne Win öffentlich vorwarf, die Ehre der Armee zu besudeln und sie zu seinem persönlichen Machterhalt zu mißbrauchen. Wenig später, am 20. Juli, einen Tag nach dem »Märtyrertag«, an dem alljährlich ihr Vater geehrt wird, umstellten Truppen Suu Kyis Haus und halten sie dort seither unter Arrest. Ihre aktiven Wahlhelfer verschwanden zu Hunderten in Gefängnissen, wo Platz geschaffen worden war durch eine Amnestie für 18 000 Kriminelle.
Die Eingesperrte, der die Militärs vor kurzem verboten, ihren Mann und ihre zwei Söhne zu sehen, dominierte gleichwohl die folgenden zehn Monate bis zu den Wahlen. Ihr Gesicht - verehrt wie eine Ikone - war allgegenwärtig, auf Postern und Transparenten, Buttons, T-Shirts und Fahnen.
Der überwältigende Wahlsieg ihrer Partei kam dennoch für alle überraschend - für ihre Anhänger ebenso wie für den Rat der Militärs. Die Armee muß sich, wie ein westlicher Diplomat in Rangun vermutete, sehr sicher gefühlt haben. Nun werfen die Machthaber den Siegern Wahlbetrug vor und legten Beschwerde bei der Wahlkommission ein.
Allerdings hatten die Militärs bereits vor den Wahlen unmißverständlich klargemacht, daß sie in absehbarer Zukunft nicht weichen würden. Vorletzte Woche bestätigte Juntachef General Saw Maung, daß er erst dann zugunsten der Zivilisten abtreten werde, wenn eine neue Verfassung ausgearbeitet ist. »Unsere Partei hat das große Los gewonnen«, klagte ein Oppositioneller, »doch der Gewinn wird nicht ausgezahlt, die Bank bleibt geschlossen.«
Derzeit erwägen die düpierten Herrscher einen Bann für Politiker, die in irgendeiner Form Unterstützung von ausländischen Personen oder Organisationen erhalten: Haushaltsgeld, gezahlt vom Ehemann Michael Aris, würde demnach theoretisch reichen für das politische Aus der Wahlsiegerin.
Zudem hat Ohn Gyaw, Burmas stellvertretender Verteidigungsminister, wissen lassen, das Regime habe genügend Belastungsmaterial in der Hand, um Suu Kyi wegen »Untergrundkontakten« und versuchter Spaltung der Armee vor Gericht zu bringen. Der Vorgang ist ein Hinweis darauf, daß die Herrscher in Rangun sehr wohl registriert haben, wie stark die Stimmabgabe für die Partei Suu Kyis auch in den von Soldaten bewohnten Bezirken war.
Stellen sich die Militärs weiter stur, ist nach Ansicht von Diplomaten spätestens zum Märtyrertag am 19. Juli mit Massendemonstrationen wie 1988 zu rechnen.
Zwischen Ne Win und Aung San Suu Kyi, die an gegenüberliegenden Ufern des Inja-Sees residieren, der eine in selbstgewählter, die andere in erzwungener Isolation, ist noch nichts entschieden. »Der Kampf«, orakelt die Far Eastern Economic Review, »hat eben erst begonnen.«