LUFTFAHRT Grün oder Gelb
Genau 16 Sekunden nach dem Start sackte der Lufthansa-Jumbo »D-ABYB« auf dem Flugplatz Nairobi plötzlich ab. Das Heck scharrte über den Boden. »Beim ersten Aufprall noch ein zusammenhängendes Ganzes«, so später der amtliche Unfallbericht, »begann das Flugzeug sich aufzulösen.«
Es verlor die Triebwerke, das Heck und ein Außenbordstück des linken Flügels. 1400 Meter jenseits des Flugplatzes blieb das Wrack liegen. In den Trümmern: 59 Tote und 54 Verletzte (von insgesamt 156 Insassen).
Jetzt, gut vier Jahre nach dem Absturz von Nairobi, kommt es zu einer gerichtlichen Erörterung des Unglücksfalles, über den bislang nie öffentlich verhandelt wurde. Anlaß ist eine ZDF-Sendung vom 18. Juni letzten Jahres mit dem Titel »Warum stürzen Flugzeuge ab?«, in der ZDF-Redakteur Dieter Riwola auch über die Nairobi-Katastrophe berichtete:
An 20. November 1974 vergaß in Nairobi der Lufthansa-Kapitän der Boeing 747, die Startklappen auszufahren. Die Maschine konnte sich nicht in der Luft halten und zerschellte am Boden.
Der Kommandant des Unglücksflugzeugs, Flugkapitän Christian Krack, 57, mochte das nicht hinnehmen. Er verklagte das ZDF, »vertreten durch seinen Intendanten, Herrn Karl-Günther von Hase«, sowie den Redakteur Riwola auf Unterlassung dieser Behauptung und auf Zahlung eines immateriellen Schadenersatzes.
Krack ließ auch nicht ab, als das ZDF, bei einer zweiten Ausstrahlung der Sendung im vergangenen September, den beanstandeten Nairobi-Text durch einen neuen ersetzte:
Am 20. November 1974 wurde der Start mit einer Lufthansa-Boeing 747 in Nairobi durchgeführt, obwohl durch ein Versagen der Besatzung die Vorflügel nicht ausgefahren waren. 59 Tote waren das Ergebnis dieses Fehlers.
»Aus reinem Entgegenkommen gegenüber Herrn Krack« war laut Autor Riwola diese Textänderung »ohne jede Anerkennung einer Rechtspflicht« vorgenommen worden. Denn, so Riwola: »Der Kapitän, mit seinen 10000 bis 15000 Mark Monatsgehalt, trägt die Verantwortung für alles, was im Cockpit geschieht. Mit dieser »Gesamtverantwortung« haben die Piloten jahrelang ihre sozialpolitischen Kämpfe geführt.« Krack beharrte auf seiner Klage; für den 16. März hat nun die 7. Zivilkammer des Landgerichts Mannheim mündlichen Termin angesetzt.
Für die Lufthansa fliegt Krack nicht mehr. Ganz diskret schickte die Gesellschaft den Unglückspiloten ebenso wie den Flugingenieur Rudi Hahn, 51, schon im Winter 1975/76 nach einem Vergleich vor dem hessischen Landesarbeitsgericht mit vollen Übergangsbezügen in den Ruhestand (nachdem sie die beiden nach dem Absturz der »D-ABYB« zunächst fristlos entlassen hatte).
Ein halbes Jahr später, im Juli 1976, sprach eine für die amtliche Unfalluntersuchung zuständige kenianische Regierungskommission ihr Verdikt über den Hergang des Unglücks. »Der Unfall«, hieß es, »wurde durch die Besatzung beim Einleiten des Starts mit eingefahrenen Nasenklappen verursacht, weil die Druckluftanlage, die diese antreibt, nicht eingeschaltet war.«
Um heim Start von Maschinen des Schlages Boeing 747 den Auftrieb zu erhöhen, werden die Tragflügelflächen durch das vorübergehende Ausfahren 26 mächtiger sogenannter Vorflügelklappen vergrößert, im Luftfahrerjargon »Nasenklappen« genannt. Am Unglückstag in Nairobi hatte die Crew den Flügelklappenhebel zwar betätigt, doch vor dem Start, so der amtliche Untersuchungsbericht, »unterließ es der Flugingenieur, die Zapfluftventile zu öffnen, und setzte dadurch die Druckluftanlage ... außer Betrieb«. Die Vorflügel kamen nicht heraus, 48 Quadratmeter zusätzlicher Flügelfläche fehlten, die Maschine bekam nicht genug Auftrieb.
Vier Monate nach dem Spruch der Nairobi-Kommission gab das Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig unter dem Aktenzeichen »2 x 0002/74« einen eigenen Untersuchungsbericht in den Computer. Als »wahrscheinliche Unfallursache« speicherte es in lapidarer Kürze: »Flugingenieur: Ausrüstung unsachgemäß benutzt. Verantwortlicher Luftfahrzeugführer: Überwachung des Fluges unzureichend.«
Ein Mysterium jedoch konnten weder die Deutschen noch die Afrikaner aufklären: Sobald die Vorflügel eines Boeing-Jumbo ausgefahren werden, gehen nämlich am Armaturenbrett des Piloten eine gelbe Lampe und an der Warnleuchttafel des Flugingenieurs eine Reihe von acht gelben Lampen an. Sind die Vorflügel draußen, leuchten anstelle der gelben grüne Lichter auf. Doch wie eh und je beteuert der Jumbo-Kapitän Krack noch heute etwas, was oh der nachweislich eingezogen gewesenen Flügeiklappen eigentlich gar nicht sein kann: »Das grüne Licht war da.«
Nicht nur er, auch der Flugingenieur Hahn und der mittlerweile von der Lufthansa zum Kapitän beförderte seinerzeitige Kopilot Hans-Joachim Schacke wollen an den Instrumententafeln grünes Licht -- »Vorderklappen ausgefahren« -- gesehen haben. Inzwischen spielen die grünen Lampen auch in dem Prozeß des Kapitän Krack gegen das ZDF die tragende Rolle. Der Kronberger Luftfahrt-Jurist H. Peter Kehrberger, Anwalt des Zweiten Deutschen Fernsehens, hält die Erklärung der drei aus dem Cockpit schlicht für eine »Schutzbehauptung«. Kehrberger will ein Sachverständigengutachten als Beweis für das Gegenteil anbieten: »Bei eingefahrenen Klappen kann das grüne Licht unmöglich gebrannt haben.«
Aber darüber, was unmöglich ist und was nicht, finden sich in der bislang im Wortlaut unveröffentlichten Nairobi-Untersuchung höchst aufschlußreiche Angaben: Nach einer dort erwähnten »Ausfallanalyse« des Flugzeugherstellers Boeing aus dem Jahre 1975 könnte nämlich das grüne Licht für die Flügelklappen bei einer zwar sehr unwahrscheinlichen, doch nicht auszuschließenden Verkettung vieler unglücklicher Umstände tatsächlich auch bei nicht ausgefahrenen Flügelklappen aufgeleuchtet haben.
»Die grüne Lampe der Nasenklappen«, so wörtlich, »kann auf dem mittleren Instrumentenbrett des Piloten als Ergebnis von Einzelfehlern »an« sein. und die gelbe kann »aus« sein, obwohl die Klappen in Wirklichkeit eingezogen oder im Übergang sind.«
Die Untersuchungskommission in Nairobi folgerte daraus, die Warnanlage des Lufthansa-Jumbo »D-ABYB« sei »unzulänglich« gewesen und habe die Forderung nach einer »unmißverständlichen Anzeige« nicht erfüllt. Und die amtlichen Prüfer entdeckten eine Reihe vorangegangener Störfälle dieser Art.
»Ein hervorstechendes Merkmal dieses Unfalls«, notierten sie, »ist die Anzahl früherer, die Nasenklappen betreffender Störungen, von denen wir jetzt erfahren haben und die aus unbekannten Gründen weder die Aufmerksamkeit des Herstellers noch die der Luftfahrtbehörde oder -- mit wenigen Ausnahmen -- der betroffenen Fluggesellschaften erregt haben.«
Zwischen 1972 und dem Unglück von Nairobi im November 1974 ortete die Kommission neun Vorkommnisse mit Boeing-Jumbos, »bei denen eine gänzliche oder teilweise Inaktivierung der Anlage der Nasenklappen stattfand«. Doch schon der erste Zwischenfall hätte, nach Ansicht der Untersucher, die Firma Boeing und die zuständigen Behörden zu weltweiten Vorsichtsmaßnahmen veranlassen müssen.
Die Besatzung einer Boeing 747 der britischen Fluggesellschaft BOAC (inzwischen British Airways) ging nämlich 1972 in London unbemerkt mit nur halb ausgefahrenen Nasenklappen an den Start. Der Aufstieg gelang dem Piloten trotzdem -- im Gegensatz zum Kapitän Krack in Nairobi, der in der kritischen Phase kein Gas nachschob.
Aber unmittelbar nach diesem Zwischenfall meldete die BOAC den Fehler sowohl der Boeing-Zentrale als auch (als Zulassungsbehörde) der Bundesluftfahrtverwaltung der USA und baute ihre Jumbos im Einvernehmen mit den Boeing-Werken um: Fortan ertönte in den britischen Jumbos bei falscher Stellung der Nasenklappen auch ein akustisches Signal.
Die Herstellerfirma Boeing stimmte dieser Änderung zwar zu, unterrichtete aber die anderen Flugzeughalter nicht offiziell davon. Denn, so gibt der Nairobi-Bericht in diesem Punkt Aufschluß, »sowohl die Zulassungsbehörde wie der Hersteller waren der Ansicht, daß dies ein ... Einzelfall war, der keinerlei Maßnahmen ihrerseits erforderte«.
»Sie müssen«, qualifiziert der Nairobi-Text, »zu dieser Schlußfolgerung gekommen sein im vollen Bewußtsein, daß ein Flugzeug mit eingezogenen Nasenklappen, das mit Sollgeschwindigkeit startet, die Sicherheitsspanne seiner Geschwindigkeit in einem solchen Maße verringert, daß es sich sehr nahe an der Überziehungsgeschwindigkeit befindet -- in einer Höhe, in der eine Rückführung in den Normalzustand unwahrscheinlich ist.«
Die Formulierung »im vollen Bewußtsein« entspricht dem Text, nach dem gemäß den Bestimmungen des »Warschauer Abkommens« -- eines Vertrages, der die Beziehungen zwischen den Fluggesellschaften und ihren Passagieren regelt -- die Höchsthaftungsgrenzen der Lufttransporteure gegenüber ihren Kunden auf internationalen Linien (je nach Flugstrecke bis zu 53 500 Mark pro Person, auf Lufthansa-Flügen als Sonderservice: bis zu 150 000 Mark) hinfällig werden:
Zwischen Fluggast und Beförderer gelten keinerlei Haftungsbeschränkungen mehr, wenn -- Warschau-Artikel 25 -- »der Schaden durch eine Handlung oder Unterlassung des Luftfrachtführers oder seiner Leute verursacht worden ist, die ... leichtfertig und in dem Bewußtsein begangen wurde, daß ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten werde«.
Wären der Lufthansa das »unzureichende Warnsystem« (Untersuchungsbericht des Luftfahrt-Bundesamtes) und die »Unzulänglichkeit der internationalen Berichterstattung« (amtliche Nairobi-Kommission) über neue Gefahrenerkenntnisse beim Jumbo anzulasten, könnten die Opfer und Hinterbliebenen der Katastrophe von Nairobi versuchen, sich vor Gericht das Recht auf unbegrenzten Ersatz sämtlichen Schadens zu erstreiten.
So aber, da die Herstellerfirma Boeing in Seattle mögliche Versäumnisse selbst zu verantworten hat, haben die Angehörigen und Verletzten aus dem Versicherungspool, der die Entschädigungen für die Lufthansa regelt, auch bei Tod und Vollinvalidität lediglich zwischen 27 000 und 150 000 Mark erhalten. Und nur, wenn ein Richter dem Kapitän Krack und seiner Besatzung grobe Fahrlässigkeit bescheinigt, eröffnen sich den Geschädigten neue Chancen.
Den Flugzeughersteller Boeing indessen können die Opfer allein aus der »Produzentenhaftung« in die Pflicht nehmen -- im Falle Nairobi mit fraglicher Erfolgsgarantie: Denn Schadenersatz gibt es nach den US-Gesetzen in der Regel erst dann, wenn das »Produkt« nachgewiesenermaßen »mangelhaft« gewesen ist und infolge seiner Mangelhaftigkeit »unverhältnismäßig gefährlich«.
Inzwischen ertönt längst auch in den Jumbo-Jets der Lufthansa ein akustisches Warnsignal, falls die Vorflügel beim Start nicht ausgefahren sind. Daneben muß vor jedem Start ein Mann vom Bodenpersonal die Klappen in Augenschein nehmen und der Besatzung deren richtige Stellung bestätigen. Den Prozeß zwischen dem Kapitän Krack und dem ZDF derweil sähe die Lufthansa am liebsten so bald wie möglich, durch einen Vergleich, beendet.
Bleibt immer noch die Staatsanwaltschaft in Frankfurt: Unter dem Aktenzeichen 58 Js 1034/75 ermittelt sie weiter in Sachen Nairobi -- wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung.