»Grüne Listen zu unseren Lasten«
SPIEGEL: Herr von Oertzen, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner haben die Delegierten des Hamburger SPD-Parteitags eindringlich vor der Gefahr einer Aufsplitterung des Parteienspektrums gewarnt. Sind die Sozialdemokraten in der Gefahr. einer solchen Aufsplitterung Vorschuh zu leisten?
OERTZEN: Die Warnungen waren von der aufrichtigen Sorge bestimmt, eine Veränderung der Parteienlandschaft könne die Bundesrepublik in einen ähnlichen Zustand der politischen Agonie versetzen, an dem die Weimarer Republik zerbrochen ist. Und grundsätzlich wird man die Gefahr der Neugründung von Splitterparteien nicht von der Hand weisen können.
SPIEGEL: Die Warnungen des Parteivorstandes waren nicht nur von grundsätzlicher Art, sondern direkt auf die SPD gezielt. Wer in der SPD wäre denn ein potentieller Spalter? Die Kernkraftgegner, die Linken?
OERTZEN: Die Zersplitterung vollzieht sich doch nicht einfach so, daß sich etwas aus einer bestehenden Partei von oben bis unten abspaltet. Eine Parteispaltung kann sich durchaus so entwickeln, daß neue Gruppierungen von außerhalb einer Partei, hier also außerhalb der SPD, deren Wahlanhängerschaft teilweise abspenstig machen.
SPIEGEL: Der Parteitag hat in der umstrittenen Energiefrage einen taktischen Kompromiß beschlossen zwischen Kohle und Kernenergie. Kann dieser Beschluß die SPD Mitglieder und, was bei den knappen Mehrheitsverhältnissen weit schlimmer wäre, entscheidende Wählerstimmen kosten?
OERTZEN: Ich kann und will die Auswirkungen des Energiekompromisses auf die Sozialdemokratie und auf Teile der sozialdemokratischen Anhängerschaft jetzt nicht prognostizieren. Sicher ist, daß sich Bürgerinitiativen gegen Kernkraftwerke, aber auch gegen
Kohlekraftwerke schon in der gegenwärtigen Situation zu Parteien oder parteiähnlichen Gebilden formieren.
SPIEGEL: Zu Lasten der SPD?
OERTZEN: Überwiegend zu Lasten der SPD, wie wir bei den zurückliegenden Kreistagswahlen in Niedersachsen erlebt haben. Dort hatten sich in den Landkreisen Hildesheim und Hameln Umweltschutz-Wahlparteien gebildet. Diesen Grünen Listen ist es in beiden Kreisen im ersten Anlauf gelungen, je ein Mandat im Kreistag und Stimmenzahlen um die zwei Prozent zu erringen.
SPIEGEL: Ein solches Ergebnis auf die Bundestagswahl übertragen würde bedeuten: Die sozialliberale Koalition wäre nicht mehr regierungsfähig.
OERTZEN: Die organisatorische Anstrengung für eine Bundestagswahl mit Listen in sämtlichen Bundesländern und 248 Kandidaten in allen Wahlkreisen ist natürlich ungleich schwieriger, als eine Bürgerinitiative in einem Landkreis in eine Partei umzuformen. Ich denke eigentlich auch noch nicht an die Bundestagswahlen im Jahre 1980. Es wäre schon schlimm genug, wenn wir bei den Landtagswahlen in Niedersachsen im nächsten Jahr eine Kernkraftgegner-Partei oder meinetwegen auch eine Grüne Partei bekommen wurden.
SPIEGEL: Woher sollten denn die Grünen so schnell so viele vorzeigbare Kandidaten nehmen?
OERTZEN: Diejenigen Teile der Bevölkerung, die geneigt sind, solche Parteien zu wählen, tun das um bestimmter Sachziele willen. Sie sind an einem Programm und weit weniger als die Anhänger etablierter Parteien an der Persönlichkeit der Kandidaten interessiert. Aber davon abgesehen: Respektable und engagierte Persönlichkeiten als Kandidaten werden auch diese Parteiengruppierungen ohne Zweifel finden.
SPIEGEL: Was wäre denn die Klientel einer solchen Grünen Partei? Nur die von den Sozialdemokraten enttäuschten Umweltschützer?
OERTZEN: Meiner Einschätzung nach würde sich die Wählerschaft einer solchen Partei, ob sie nun in den Ländern oder bundesweit antritt, aus drei unterschiedlichen Gruppen zusammensetzen. In der Reihenfolge der Größe in erster Linie aus engagierten Natur- und Umweltschützern und Kernkraftgegnern, zweitens aus ganz allgemein Unzufriedenen mit dem gegenwärtigen Parteiensystem
SPIEGEL: ... oder ganz besonders Unzufriedenen mit dem pragmatischen Mittelkurs der SPD ...
OERTZEN: ... und drittens aus potentiellen Anhängern einer Linkspartei, links von der SPD, die es derzeit nicht gibt.
SPIEGEL: Aber möglicherweise demnächst durchaus geben kann, wenn man die kritischen Reaktionen auf die Parteitagsbeschlüsse zur Rechts- und Sicherheitspolitik und die Drohungen ehemaliger SPD-Vorständler wie Jochen Steffen ernst nimmt.
OERTZEN: Ich glaube nicht, daß Parteitagsbeschlüsse in dieser Sache das auslösende Moment sein könnten. Eine Chance für eine solche Partei links von der SPD, die mehr als das Schattendasein einer Sekte führen will, bestünde nur, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse bei uns erheblich verschlimmern, etwa bei einer erneuten Rezession und erheblich größeren Arbeitslosenzahlen.
SPIEGEL: Gibt es in der gegenwärtigen Bundestagsfraktion jemanden, beispielsweise unter den Kernkraftgegnern oder den 16 Dissidenten beim Kontaktsperregesetz, dessen Weg als möglicher Anhänger einer der beiden Gruppierungen außerhalb der SPD vielleicht schon bald zu den Linken oder den Grünen führt?
OERTZEN: Ich kann nur noch einmal sagen: Ich sehe die Gefahr der Abspaltung gegenwärtig nicht so sehr in der SPD selbst als bei der Wählerschaft unserer Partei. Bei den Mandatsträgern im Bundestag ist meiner Kenntnis nach niemand, der einen solchen Weg gehen wollte oder gehen würde.