Aktengesetz Grundsätzlich tabu
Christian Lochte gelobte, seine Neugierde im Zaum zu halten. Die Nachrichtendienste müßten jetzt zwar schnell ran an die »amtsinternen Akten« der Staatssicherheit, so der Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes Anfang April, um Verbindungslinien der RAF und internationaler Terrortrupps zur Stasi aufzudecken. Aber daß seine Verfassungsschützer bei dieser Gelegenheit auch in Akten schauen könnten, die Honeckers Spitzelapparat über lästige Oppositionelle angelegt hat, wies Lochte als »schlicht abwegig« zurück.
»Wenn wir auf irgendein Blatt stoßen, wo etwas über einen DDR-Bürger draufsteht, das mit der Sache nichts zu tun hat«, versprach er, »dann schieben wir das doch einfach beiseite.«
Die treuherzigen Worte des Nachrichtendienstlers waren vor allem gen Osten gerichtet. Während der Widerstand im Westen gegen einen Zugriff von Verfassungsschutz und BND auf Stasi-Akten nach dem RAF-Mord an Treuhand-Chef Detlev Rohwedder und nach täglich neuen Meldungen über Stasi-Verbindungen zur internationalen Terrorszene rapide _(* Beim Empfang für verdiente ) _(Wintersportler. ) schwand, regte sich in der Ex-DDR weiter Widerspruch.
Die Werbung der Verfassungsschützer verfing bislang nicht. Es bleibe dabei, stellt die Ost-Berliner Bundestagsabgeordnete Ingrid Köppe vom Bündnis 90/Grüne kategorisch fest: Die Nachrichtendienste hätten in den Stasi-Akten nichts zu suchen. Die Spitzel-Dossiers der Mielke-Mafia gehörten »den Opfern, niemandem sonst«.
Der Zwist über das Zugriffsrecht für Nachrichtendienste verhindert bisher jede Einigung - und offenbart das Dilemma der Diskussion über das archivierte Erbe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS): Wie sollen, bei Öffnung und Aufarbeitung der Stasi-Akten, gleichzeitig die Opfer geschützt und die Täter enttarnt werden?
Es wird schwer werden, ein Stasi-Akten-Gesetz wie geplant bis zur parlamentarischen Sommerpause zu verabschieden. Es sei, befand Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble am Donnerstag voriger Woche im Bundestag, das »schwierigste Gesetzgebungswerk« der deutsch-deutschen Vereinigung.
Dabei standen Schäubles Beamte einer schnellen Einigung zeitweise selber im Weg. Bis Anfang April hatten sie den Abgeordneten zwei »vorläufige Formulierungshilfen« für das Gesetz angeboten, das auf Wunsch Kohls nicht von der Regierung, sondern von den Fraktionen im Bundestag eingebracht werden soll. Anstatt sich um Klarheit und Konsens zu bemühen, verhedderten sich Schäubles Juristen im eigenen Paragraphen-Kauderwelsch.
Vor allem aber hatten sie den Nachrichtendiensten die Archive weit geöffnet. Großzügig sollten Stasi-Materialien schon dann herausgegeben werden, wenn sie für »polizeipräventive Aufgaben« oder eine »künftige Strafverfolgung« nötig seien - schwammige Formulierungen, die zum Mißbrauch einladen. Einmal in Fahrt, verschafften die Beamten den Sicherheitsbehörden und anderen staatlichen Institutionen weitreichende Möglichkeiten, aus den MfS-Archiven Geheimmaterial über die alte Bundesrepublik herauszuholen.
Für das Bündnis 90/Grüne waren diese Vorschläge »inakzeptabel«; der FDP-Abgeordnete Wolfgang Lüder empörte sich über den Versuch der »Aktenbereicherung«. Sogar den Christdemokraten, ansonsten lautstarke Lobbyisten der Nachrichtendienste, ging die Aussonderung wichtiger Archiv-Teile zu weit. Ans Innenministerium erging die Aufforderung, noch mal ganz von vorn anzufangen.
Das sechsseitige »Eckwerte-Papier«, das Schäuble am vorigen Freitag mit den innenpolitischen Experten der Fraktionen diskutierte, setzt den Begehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden engere Grenzen.
Die Akten der Opfer sollen grundsätzlich tabu bleiben. In die Akten von Stasi-Mitarbeitern und von MfS-Begünstigten dürfen die Staatsschützer nur schauen, soweit dies erforderlich ist zur Aufklärung *___von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen ____Tätigkeiten für eine fremde Macht; *___von politisch bestimmten Bestrebungen, die darauf ____gerichtet sind, Gewalt anzuwenden oder Gewaltanwendung ____vorzubereiten; *___von extremistischen Bestrebungen gegen die freiheitlich ____demokratische Grundordnung.
Um den Stasi-Tätern auf die Spur zu kommen, sollen zudem das Bundeskriminalamt und die Staatsanwälte das Recht zur Einsicht in die Akten erhalten - allerdings beschränkt auf die Dossiers der Täter. Der Leiter der Archiv-Behörde darf Hinweise auf Straftaten, die er in den MfS-Dossiers entdeckt, an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. Dieses Initiativrecht war ihm bisher vorenthalten.
Ihr wichtigstes Ziel haben das Bündnis 90 und die Bürgerbewegungen im Osten erreicht. Alle Bonner Fraktionen sind sich einig, daß die Stasi-Opfer selbst ihre Akten einsehen dürfen. Die Namen der Arbeitskollegen, Freunde oder Verwandten, die sie vor der Wende als »Inoffizielle Mitarbeiter« des MfS bespitzelt haben, sollen nicht geschwärzt werden.
Der Wille, durch Offenheit die Chance zur historischen Aufarbeitung zu wahren, hat sich gegen die Furcht vor der Wut der Bespitzelten auf die Aushorcher durchgesetzt. Er habe, betont der Liberale Burkhard Hirsch, »selten ein Gesetz gesehen, bei dem man so von Zweifeln hin- und hergerissen ist«. Egal, wie der Gesetzentwurf am Ende aussehe: »Er wird niemandem Freude machen.«
* Beim Empfang für verdiente Wintersportler.