BAYERN / WAHLEN G'sagt beinah
Um 18.30 Uhr, eine halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale, traf am vorletzten Sonntag beim Landeswahlleiter im steinernen Saal des Münchner Maximilianeums das erste Ergebnis der bayrischen Landtagswahl 1970 ein -- aus Näbburg/Oberviechtach/Vohenstrauß, dem Stimmkreisverband des Ministerpräsidenten Alfons Goppel.
Ein Wahlhelfer, der die Einzelergebnisse auf einer Stimmkreiskarte graphisch fixierte, griff schon vor Bekanntgabe der genauen Daten mit sicherer Hand zum richtigen Filzstift: dem kanariengelben der CSU,
Denn die Ergebnisse aus kleinen, katholischen Bauerndörfern wie Altendorf, Pullenried oder Waldthurn (alle »in Goppels Wahl-Heimat) sind nahezu berechenbar, seit vor vier Jahren zum erstenmal das Wahlverhalten der Bayern nach Geschlecht, Alter, Gemeindegrößen, Konfession und Agrarstruktur ausgelotet wurde. Die auf 399 Stimmbezirke gestützte Repräsentativstatistik sagt:
* Die 4356 bayrischen Gemeinden mit mehr als 90 Prozent Katholiken (wie in Goppels Oberpfalz), die Insgesamt 28,6 Prozent der Wählerschaft beherbergen, liefern stets CSU-Mehrheiten von durchschnittlich 62,1 Prozent.
* Die 6640 bayrischen Gemeinden mit weniger als 3000 Einwohnern (75 Prozent der Goppel-Wähler und 41,4 Prozent aller Bayern wohnen In solchen Dörfern) liefern stets CSU-Mehrheiten -- je nach Alter und Geschlecht bis zu 67,1 Prozent. Wohnen in solchen Mini-Gemeinden überwiegend Landwirte (wie in Goppels Stimmkreis), dann entsprechen CSU-Mehrheiten bis zu 77,5 Prozent dem statistischen Landesdurchschnitt. Goppels tatsächliches Ergebnis bei dieser Wahl (75,9 Prozent) schmiegt sich somit eng an die statistische Erwartung.
Auch das Gesamtresultat dieser Wahl -- Gewinne für CSU und FDP, Einbußen für die SPD -- beugt sich statistischer Gesetzmäßigkeit, sofern man diese Landtagswahl wie Franz Josef Strauß zu einer »Schlacht »um Bonn« oder wie Ex-Kanzler Kurt Georg Kiesinger zu einer »Bundestestwahl« umfunktioniert, Folgte man diesem Wahlkampf-Dreh und ordnete die Wahl vom vorletzten Sonntag als Bundestagswahl ein, so ergäbe sich folgendes Bild:
* Seit 1953 schnitt die CSU bei Bundestagswahlen um 7,4 bis 11,6 Prozentpunkte besser ab als in den nachfolgenden Landtagswahlen -- der jetzige Zuwachs um 8,3 Prozentpunkte auf 56,4 Prozent (gegenüber der Landtagswahl 1966) wäre mithin Durchschnitt.
* Seit 1953 büßt die SPD bei Bundestagswahlen zwischen 2,7 und 5,2 Prozentpunkten gegenüber den Landtagswahlen ein -- ihre jetzige Einbuße von 2,5 Punkten gegenüber den Landtagswahlen 1966 wäre demnach eher unterdurchschnittlich.
* 1961/62 und 1965/66 schnitt die FDP bei den Bundestagswahlen, mal mit 2,9 mal mit 2,2 Punkten, besser ab als »bei den Landtagswahlen -- ihr jetziger Zugewinn wäre noch unter dem Durchschnitt.
Wird die jüngste Wahl aber, wie angemessen, als Landtagswahl gewertet, dann freilich sind erhebliche Veränderungen -- gegenüber 1966 -- zu verzeichnen. Die CSU legte 8,3 Punkte oder 1,2 Millionen Stimmen zu (vermutlich schluckte sie vor allem NPD-Stimmen, Bayernpartei-Stimmen und viele Neuwähler-Stimmen) und besetzt künftig im Landtag die von der NPD noch warmen zusätzlichen Sessel. Die SPD verlor 27 000 Stimmen oder 2,5 Punkte (vermutlich Leihstimmen an die FDP) und muß sich nun mit 70 Sitzen im Landtag (bisher 79) begnügen.
Das landesdurchschnittliche Plus von 84000 Stimmen oder 0,4 Punkten hätte den Liberalen nicht viel geholfen, hätten sie nicht konzentriert in Mitteifranken mit 65 000 Mehr-Stimmen das »Wunder an der Regnitz« ("Süddeutsche Zeitung") und damit die Rückkehr in den Landtag (mit zehn Abgeordneten) geschafft.
Mitteifranken hatte stets als FDP-Hochburg gegolten -- bis sich Thaddens NPD-Truppe ("Man kann wieder wählen") einnistete und 1966 bei den Landtagswahlen die FDP aus dem Feld und damit aus dem Landtag schlug; dort und nur dort hatte die FDP bis dahin die Zehnprozent-Schranke des bayrischen Wahlgesetzes überwunden. Der protestantische Landstrich im Einzugsgebiet des Industriekonglomerats Nürnberg-Fürth-Erlangen, wo einst der Liberale Thomas Dehler lebte, hatte seit je Stimmen für Außenseiter wie die »Wirtschaftliche Aufbauvereinigung« oder die »Gesamtdeutsche Partei« übrig (zuweilen fast 20 Prozent).
Als die NPD zu baissieren begann, wirkte sich das für »die FDP jedoch nicht aus. Die NPD schrumpfte bei den Bundestagswahlen 1969 zwar in Mitteif ranken von 90 000 Zweitstimmen (Landtagswahl 1966) auf 60 000, doch die Liberalen verloren letztes Jahr in Mittelfranken ebenfalls über 20 000 Wähler -- ein kommunizierender Austausch zwischen NPD und FDP schien ausgeschlossen.
Das »gilt seit dem vorletzten Sonntag nur noch bedingt: Da offenkundig viele Wähler in Mittelfranken Ihre beiden Stimmen splitteten, kann die Fluktuation nur deutlich werden, wenn man Erst- und Zweitstimmen addiert. Danach hat die FDP gegenüber der Bundestagswahl im letzten Jahr 102 709 Stimmen gewonnen -- und brauchte »dazu die Verluste der übrigen Parteien: Die CSU verlor 16 662 Stimmen, »die SPD 83 714, die NPD 30 766. Da die Wählerbeteiligung gegenüber 1969 geringer war (minus 8096 Stimmen), ist der Schluß zwingend: Die mittelfränkische FDP-Spitzenkandidatin Hildegard Hamm-Brücher hat alle Parteien Stimmen gekostet.
Örtliche Turbulenzen der liberalen Stimmendrift schienen mancherorts auch SPD-Domänen zu erschüttern: Die Sozialdemokraten verloren in Bayern elf Direktmandate an die CSU, Freilich erweist sich, daß die sogenannten SPD-Hochburgen »in den Städten oft ohnehin wackelig fundiert sind, den besonderen Bedingungen bundespolitisch orientierter Wahlen nicht standhalten oder für Neuwähler nicht attraktiv genug bleiben.
Beispiel Fürth-Land/Neustadt an der Aisch: Der SPD-Kandidat siegte 1966 mit 108 Stimmen Vorsprung (Erststimmen-Zählung), seine Partei blieb gleichwohl hinter der CSU zurück (Zweitatimmenzählung). Selbst alle FDP-Stimmen zusätzlich hätten der SPD diesmal nur zu einem Stimmenvorsprung von 55 gegenüber der CSU verholfen.
Beispiel Augsburg: Die SPD unterlag der CSU bei fünf der sechs bisherigen Bundestagswahlen, auch letztes Jahr. Bei der diesmal bundespolitisch orientierten Landtagswahl verlor sie prompt beide Mandate an die Christlich-Sozialen.
Beispiel Regensburg: In der katholischen Bischofstadt gewann die CSU die letzten vier Bundestagswahlen mit absoluter Mehrheit. Nur bei einer der sechs Landtagswahlen, 1962, hatte die SPD einen winzigen Vorsprung. 1966 erkämpfte Oberbürgermeister Rudolf Schlichtinger, der kommunalpolitische Erfolge bei der Stadtsanierung vorweisen kannte, als SPD-Stimmkreiskandidat fünf Prozent mehr Stimmen als seine Partei. Wegen der inzwischen geltenden Unvereinbarkeit von Amt und Mandat konnte Schlichtinger diesmal nicht mehr kandidieren; das Direktmandat fiel an die CSU.
Schlichtinger in Regensburg, ein Zwei-Meter-Mann mit forscher Managerart, ist ein Beispiel dafür, daß zumindest in Bayern auch die SPD von starken Männern profitieren kann. Schlichtinger absolvierte in der katholischen Donaustadt im letzten Jahrzehnt die beiden Kommunalwahlen mit absoluter Mehrheit und errang bei beiden Landtagswahlen die Direktmandate. Der Rückzug des Lokalmatadors ins Rathaus stellt nun die alte CSU-Dominanz wieder her.
Ähnlich SPD-Oberbürgermeister Andreas Urschlechter in Nürnberg, wo die SPD am vorletzten Sonntag trotz liberaler Konkurrenz vier von fünf Direktmandaten halten konnte; ähnlich Hans-Jochen Vogel in München, der durch erfolgreiche Rathaus-Arbeit zu einem der populärsten bayrischen Politiker emporwuchs; am vorletzten Sonntag blieben alle elf Stimmkreise (drei mit absoluter Mehrheit) der SPD erhalten.
Ob die Münchner Jungsozialisten gut beraten waren, als sie Vogel durch ideologische Attacken vom Überwechseln in die Landespolitik abhielten, bezweifeln sie mittlerweile selber. Denn vor allem der bayrischen Parteispitze unter Volkmar Gabert, der -- so ein Genosse -- »immer aussieht wie sein eigener Buchhalter«, fehlen profilierte Persönlichkeiten. Zwei Tage nach der Wahl sagte es Juso-Landeschef Rudolf Schöfberger unverhohlen: »Mit Gabert können wir keinen Preis mehr gewinnen.«
Gesichtsloser noch als der farblose Gabert ist freilich der fiktive »Genosse Trend«, auf den sich Bayerns Sozialdemokraten gern verlassen haben. In Bayern, wo so vieles anders ist, können die Sozialdemokraten sich allenfalls damit trösten, daß die CSU nun -- wie Strauß selber am Abend nach der Wahl andeutete -- die Grenze ihrer Wahlfang-Kapazität erreicht zu haben scheint.
Denn im Vergleich zur Bundestagswahl vom letzten Jahr, bei der sie bereits NPD wie BP an der Urne beerbt hatte, legte die CSU nur noch 129 866 Stimmen zu (FDP: plus 196 387). Das sind (Stimmen geteilt durch zwei) rund 65 000 Wähler. Und dieses Plus besorgte sich Parteichef Strauß so weit rechts, daß ihm kaum noch Lockmittel bleiben.
Strauß zu Beginn des Wahlkampfes vor Parteifreunden im CSU-Hauptquartier in der Münchner Lazarettstraße: »Ich bin Deutschnationaler und fordere bedingungslosen Gehorsam.« Strauß mitten im Wahlkampf über die Brandt-Politik: »Große Scheiße hätt' g'sagt beinah.«
Viel mehr, so mögen sich SPD und FDP sagen, könnte ihm nun eigentlich nicht mehr einfallen -- bis zur nächsten Wahl.