»Guerilla diffusa« gegen »theoria confusa«
Die Festlichkeit sollte »Aktionstage« einleiten. Als Gäste waren vor allem Arbeitslose, Jugendliche, Besetzer und Punker ausersehen, kurz: die Beleidigten und Entrechteten dieser Stadt. Sie kamen tatsächlich.
Die Verbrüderung zwischen der Kreuzberger »Szene« und den Studenten der Soziologie endete erst einmal in Zerstörungen, Diebstahl und Katzenjammer. Studentische Akteure hatten vergangenen Montag zu einem Festgelage im Berliner Institut für Soziologie geladen.
Nach zwei, drei Stunden räumte die Intelligenz das Feld. Die verwegenen Gestalten in ihrer Lederuniform hielten aus. Sie labten sich an den Bier- und Weinvorräten. Plötzlich kam sogar Stimmung auf. Feuerlöscher hüllten die Seminarräume in ein romantisches Weiß, Türen wurden eingetreten, Scheiben klirrten.
Es war nicht nur die Neugierde auf die geheimen Winkel der Wissenschaft oder die Erinnerung an die langen Gänge und Zimmer der Arbeits- und Jugendämter. Fast zielstrebig wurden Türen geknackt, elektrische Schreibmaschinen geklaut. Auch eine Videoanlage wurde mitgenommen.
Während die einen also die Solidarität dieser Intelligenz für bare Münze hielten, übten sich die anderen im Flaschenwerfen, in Ulk und Happening. Weit nach Mitternacht rief ein Student die Polizei, die ach so verhaßten »Bullen« an, die nun dem »Freundschaftstreffen« ein Ende setzten.
Hinter dieser Geschichte verbergen sich mehrere Bezüge: Revolutionierungsabsichten einer konfusen Intelligenz, die Verantwortungslosigkeit von Verantwortlichen und deren Gleichgültigkeit.
Bereits vierzehn Tage vor dem Ereignis tauchten an verschiedenen Stellen des »Campus« Flugblätter auf. Sie beklagten die Bafög-Kürzungen, die Sparmaßnahmen und Streichungen im Bereich der Universität. Die elende Lage der Studenten wurde in Beziehung gesetzt mit aktuellen Häuserräumungen.
Ein Plan wurde so nebenbei angesprochen. Das Haus in der Babelsburg, das Institut für Soziologie in der Babelsberger Straße, sollte in eine Fluchtburg für die aus besetzten Häusern »Vertriebenen« umgewandelt werden.
Der Plan blieb nur in diesem geheimnisvollen Flugblatt angedeutet. Offen wurde darüber kaum geredet. Auch als etwa 150 Studenten von circa 2500 Studierenden auf einer »Vollversammlung« Aktionstage beschlossen, wurde zwar viel gestritten, der Plan wurde nicht aufgedeckt. Er war wohl als Überraschung gedacht.
Um Aufklärung oder gar um Einschätzung von Politik und Macht geht es schon längst nicht mehr. Ein politischer Existentialismus hat sich primär bei einem bestimmten Typus von Aktivisten S.42 breitgemacht. Es gibt keine Kompromisse, keine Versöhnung, keine Zugeständnisse. Hier und jetzt muß das »Schweinesystem« gestürzt werden. Eine Poesie von alltäglicher Verweigerung, von Haß und Aktion wird ausgesprochen. Sie sind Maßstäbe eines naiven Freund-Feind-Denkens. Die Gestik des Revolutionären ist in. Der Krieg gegen die Bonzen und Bürokraten ist zwar nicht zu gewinnen, er muß aber durchgestanden werden.
Vielleicht bringt die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit eine derartige Lebensperspektive. Die studentische Intelligenz hat kaum die Geborgenheit ihrer Klasse, ihrer Familie oder Bildung aufgegeben. Sie schöpft vom Schreibtisch her. Sie verhält sich ästhetisch und manipulativ zugleich zur Gewalt.
Der Knüppel auf den Kopf soll politisieren, die direkte Konfrontation. Das gilt für die anderen. Die Elite blickt durch und schafft brenzlige Situationen.
Stunden vor dem Fest inspizierten einige Hausbesetzer von der Fraktion der »Nichtverhandler« das Haus. Die Studenten hatten sie eingeladen. Einer der Gäste wollte sich gerade in die Toilette verdrücken, als er mich sah. Ich sprach ihn an. Wir waren uns 1968 begegnet, damals hatten wir Studenten das Institut besetzt.
Bevor damals die Tür aufgebrochen werden konnte, hatte ein Professor die Tür aufgeschlossen und die Besetzung als ein Go-in bezeichnet. Ein junger sozialdemokratischer Assistent war den Eindringenden entgegengetreten und hatte diese Aktion in Beziehung zur »künftigen« Bildungspolitik gesetzt. Später hatte er die Partei verlassen. Er radikalisierte sich politisch und verließ die Universität. Er jobbte als Taxifahrer. Bei den Häuserbesetzungen Anfang der achtziger Jahre war er dabei.
Jetzt sind unsere Rollen vertauscht. Damals vertrat er die Ordnung und die politische Perspektive. Diesmal habe ich das »Gewissen« von Wissenschaft und Universität herauszukehren.
Ihm und mir bereitet die Wiederbegegnung Freude. Er schwärmt von dem Dachboden, weil unter dem Dach nach seiner Meinung viel Platz für die Besetzer ist. Er fragt nach dem Umfang der Unterstützung durch die Studenten. Ich teile ihm meine Einschätzung mit, daß an dem größten soziologischen Institut der Welt nur ein Bruchteil der Studenten und des Mittelbaus ansprechbar ist. Er ist darüber bestürzt, daß sich kaum jemand von den Soziologen am Häuserkampf beteiligen will. Ohne Unterstützung einer großen Anzahl von Studenten, sagt er, müsse eine derartige symbolische Besetzung als Überfall empfunden werden. Er gibt zu erkennen, daß er sich verantwortlich fühlt. Mir fällt ein Stein vom Herzen.
Noch vor dem Fest verlasse ich das Haus. Auf der Treppe fängt mich der Hausmeister ab. Er hatte etwa 25 Kästen Bier und 20 Kisten Wein gezählt, die in den dritten Stock getragen wurden. Er beruhigt sich damit, daß das Direktorium dieses Fest genehmigt hat. Der amtierende Direktor säße in seinem Zimmer und beobachte das Geschehen. Mehr um sich selbst Mut zuzusprechen, meint er, daß nichts passieren würde, keine Orgie, kein Krawall.
Ich denke an den Taxifahrer und hüpfe fast freudig aus dem Haus. Von oben dröhnt der Rock, die ersten bunten und verwegenen Gestalten steigen noch zögernd die Treppe hinauf.
Am anderen Morgen war die Aufregung groß. Die Angestellten besichtigten die Schäden, Vertreter der Universitätsverwaltung registrierten die Diebstähle und Zerstörungen.
Die ersten verstörten Studenten tauchten auf. Auch ein paar Mittelbauern waren zu sehen. Erst gegen Mittag erfuhr der Direktor auf einem Kongreß über den »Mythos des Weiblichen« von dem Ereignis.
Sollte von nun an nachts die Tür verriegelt, sollte das Institut geschlossen oder die Aktionswoche beendet werden? Niemand wußte Rat. Als aus den Archiven die Anregung kam, eine Wache aufzustellen, um wenigstens Brandlegung zu verhindern, verwiesen fast alle auf den Arbeitsvertrag. Außerhalb der Arbeitszeit gab es für dieses Institut kein Engagement. Es passierte tatsächlich nichts.
Die Aktionstage gingen weiter. Neben der Bestürzung kam auch so etwas wie Freude auf. Guerilla diffusa hatte zugeschlagen, theoria confusa sah sich bestätigt.
Was sich so ein Intellektueller nicht zutraute, das machten die mit einem Fußtritt: Sich nichts gefallen lassen, kämpfen, so fingen sie an zu schwärmen. Die jungen Leute aus dem Kiez waren so etwas wie ein Medium ihrer Träume, Stellvertreter ihres Kampfes.
Zwei Tage nach dem Fest tagte in den Abendstunden der Besetzerrat aus Kreuzberg im Institut.
Der Taxifahrer raunte mir voller Überzeugung zu, daß seine Leute mit den Zerstörungen nichts zu tun hatten. Und er gehe grundsätzlich nicht auf Feste, schon gar nicht dorthin, wo die »Szene« sich tummelte.
Anschließend wurde ein Kultfilm gezeigt. Die Schlacht im Juni dieses Jahres am Nollendorfplatz, der Krieg gegen die Bullen und gegen Reagan, Kampfszenen wurden freudig kommentiert, der Feind mit Verachtung belegt. Wie Frontsoldaten redeten sie anschließend über Wunden, Verfahren, Rechtsanwälte und über die »Gefallenen« im Knast.
Mich sprach ein Jugendlicher an, ob ich derjenige sei, der sie immerzu als irrational, als Gesindel beschimpfe. Ich lächelte. In den nächsten Tagen wird es ein Abschlußfest geben, jubelte ein Student.