DDR-AUSREISE Gütlich trennen
Karl Herrmann, 43, ist Projektierungs-Ingenieur im Ost-Berliner Tiefbaukombinat. Er verdient 1010 Mark im Monat, zahlt für seine Wohnung im Stadtbezirk Treptow 90 Mark Miete und fährt ein Auto der DDR-Marke »Wartburg«.
Renate Herrmann, 42, arbeitete bislang im Organisations- und Rechenzentrum der Deutschen Post, »Fachgebiet Gebühren und Preise«. Zusammen kamen die Herrmanns auf rund 1700 Mark Verdienst im Monat, Prämien nicht gerechnet. Davon könnten sie mit ihren beiden Kindern -- Karl Herrmann gibt das freimütig zu -- »hier ganz gut leben«.
Doch genau das wollen sie nicht. Nicht die billigen Ferienplätze und die Nachmittagsbetreuung der Kinder zum Null-Tarif, nicht die preiswerte Wohnung, die sicheren Arbeitsplätze und auch nicht Erich Honeckers Anpreisung, »im Vergleich zur BRD schon eine historische Epoche weiter« zu sein, können die Familie Herrmann umstimmen: Sie will dorthin, wo -- so der Titel eines DDR-Kinderbuches -- »gestern heute ist«, nach drüben in die Bundesrepublik.
Obwohl die DDR-Publizistik seit Monaten die westdeutsche Arbeitswelt in ausgesucht düsteren Farben malt, scheint die Agitation auf viele Bürger kaum Eindruck zu machen. Im Gegenteil: Auffallend viele beantragen neuerdings ihre Aussiedlung in die Regionen des kapitalistischen Niedergangs. Rund 20 000 solcher Anträge, oft für komplette Familien, sollen derzeit den örtlichen Referaten für »Innere Angelegenheiten« zur Prüfung vorliegen.
Damit wäre die Gruppe der Ausreisewilligen -- im Vergleich zur 17-Millionen-Bevölkerung der DDR -- zwar immer noch eine kleine Minderheit. Aber die Zahl gilt den Ost-Berliner Zentralbehörden als höchst unsicher, weil kaum auszumachen ist, wie viele Anträge als unbegründet überhaupt nicht entgegengenommen werden. Andererseits füllt mancher erst gar kein Formular aus, weil ihm auf den Ämtern, zumal in ländlichen Bezirken, sowohl die Aussichtslosigkeit solchen Begehrens als auch die daraus erwachsenden Nachteile plastisch geschildert werden. Festzustehen scheint freilich -- und dies meldeten unlängst die zuständigen Ministerien für Inneres und für Staatssicherheit der Parteispitze -, daß die Zahl potentieller Westwanderer trotz laufend erledigter Fälle steigt.
Vor allem zwei Aspekte dieser Entwicklung, zu der jetzt Berichte aus dem Partei-Apparat angefordert wurden, beunruhigen die Mitglieder des SED-Politbüros: Immer mehr DDR-Bürger stellen Anträge, obwohl sie nicht zu jenem Personenkreis gehören, dem ein Briefwechsel zum deutsch-deutschen Grundvertrag vom Dezember 1972 Familien-Zusammenführung in Aussicht stellt, also Ehegatten, Verwandte ersten Grades und, in Ausnahmefällen, auch Verlobte. Und immer häufiger begründen staatsverdrossene Bürger ihre Anträge politisch. Karl Herrmann etwa bekannte in seinem Schreiben an DDR-Innenminister Friedrich Dickel »ohne Scheu sozialdemokratische Ideale« und kündigte Hartnäckigkeit an: »Solange mir dazu die Möglichkeit gegeben ist. werde ich mich für mein Ziel, diesen Staat zu verlassen, einsetzen.«
Offenkundig rechnen sich viele DDR-Bürger bessere Chancen aus, ihren Staat verlassen zu dürfen, seit dieser Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen und Mit-Unterzeichner der KSZE-Schtußakte geworden ist. Auf Parteiversammlungen in Betrieben und Behörden etwa fragen weibliche Werktätige seit Helsinki ganz offen, wann sie denn nun zu ihren West-Verlobten ziehen dürften; schließlich habe sich auch die DDR mit ihrer KSZE-Unterschrift bereit erklärt, solche Gesuche »wohlwollend und auf der Grundlage humanitärer Erwägungen zu prüfen.
An der Ost-Berliner Humboldt-Universität beispielsweise beantragte gleich ein ganzes Theologen-Fähnlein die Ausreise Richtung Westen. Die Staatsorgane beeindruckte die Gruppe durch sachlichen Ton und sorgfältige Begründung mit Verweis auf Uno-Charta und Erklärung der Menschenrechte.
Anders als in zurückliegenden Jahren bemühen sich auch immer mehr DDR-Bürger um westliche Publizität für ihre Fälle oder tragen ihre Gesuche gleich selbst internationalen Organisationen vor: Das Uno-Büro im Genfer Palast der Nationen etwa hat dafür längst Vordrucke parat, in denen der Petent umständlich auf diverse Resolutionen ("728 F XXVIII") verwiesen und die Aufnahme seiner Klage »in eine vertrauliche Liste« für die Menschenrechts-Kommission zugesichert wird.
Auch SED-Führung und DDR-Regierung werden zu ihrem Mißvergnügen in immer stärkerem Maß Adressaten für Ausreise-Anträge. So schlug der Berliner Elektro-Ingenieur Eberhard Stengel, 39, seinem Ministerpräsidenten Horst Sindermann kurzerhand vor: »Wollen wir uns gütlich trennen. Sie und Ihre Partei gehen den Ihrigen Weg, und ich schlage den des demokratischen Sozialismus ein, den Weg zur SPD.« Und an Partei-Chef Erich Honecker schickte der ehemalige SED-Genosse Stengel einen 68-Seiten-Brief, handgeschrieben, voll unversöhnlicher Schelte, etwa: Der »stalinistischen Reaktion« in der DDR könne sich nur erwehren, wer »Ihnen und Ihresgleichen mit dem Knüppel entgegentritt und zielgerichtet auf die empfindliche Stelle einschlägt«.
Solche Widerständler-Pose erfordert in der DDR derzeit freilich kaum viel Mut. Stengel wurde eben nicht, was zur Stalin-Zeit -- und wohl auch noch später unter Walter Ulbricht -- durchaus normal gewesen wäre, vom Staatssicherheitsdienst aus dem Verkehr gezogen. Vielmehr konnte er sich schon sechs Monate nach seiner privaten Kriegserklärung die Ausbürgerungs-Urkunde Nummer 2936/74 abholen, unterschrieben von Innenminister Dickel.
Einen Punkt, der den DDR-Führern vor allem Sorge macht, berührte eine Frau aus Thüringen, die seit 15 Jahren für sich und ihre Familie vergebens Ausreise-Anträge stellt. In gleichlautenden Briefen an Dickel und Honecker fragte sie, warum eigentlich »die DDR ihre Ehre aufs Spiel« setze »wegen dieser wenigen Bürger, um die es sich doch nur handeln kann«.
Denn darüber, was die DDR-Wirtschaft an Arbeitskräfte-Schwund verkraften kann, gingen schon zu Beginn der zwischendeutschen Annäherung die Meinungen im SED-Apparat erheblich auseinander. Während einige Funktionäre anfangs glaubten, die DDR täte gut daran, parallel zu ihrer internationalen Anerkennung alle Bürger, die nicht Bereitschaft zu wenigstens minimaler Loyalität zeigen, auswandern zu lassen, laufen die Überlegungen seit einiger Zeit eher in die entgegengesetzte Richtung.
So gilt inzwischen als längst nicht mehr ausgemacht, daß die Ausbürgerung von »Querulanten« (SED-Jargon) zu mehr Stabilität und Staatsbewußtsein führt. Vielmehr scheint heute erwiesen, daß jeder erfolgreiche Aussiedlungsantrag sofort Nachahmer anspornt. Und sosehr Ost-Berlin auch die von Bonn im Gegenzug bereitgestellten Gelder für die chronisch klamme Devisenkasse benötigt -- dringender noch braucht sie in den kommenden Jahren Arbeitskräfte.
Zwar nimmt bis 1980, so haben DDR-Demographen errechnet, die Erwerbsbevölkerung geringfügig zu (pro Jahr um weniger als ein Prozent). Aber schon ab Mitte der achtziger Jahre bewirken die dann in die Fabriken und Kontore einrückenden geburtenschwachen Jahrgänge wieder einen rapiden Rückgang.
Absolut verringerte sich die DDR-Bevölkerung allein von 1973 auf 1974 um 60 000 Menschen. Davon erklärt die offizielle Zählung 49 800 als »Gestorbenen-Überschuß«. Von den restlichen 10 200 dagegen fehlt jede statistische Spur, denn in der DDR werden Wanderungsgewinne oder -verluste über Staatsgrenzen hinweg nicht veröffentlicht.
Einmal unterstellt, jene 10 200 seien allesamt -- legal oder illegal -- in die Bundesrepublik umgesiedelt, so ergibt sich eine verblüffende Rechnung: Nach Bonner Angaben sind 1974 nämlich rund 13 200 Flüchtlinge und Umsiedler aus der DDR gekommen, mithin 3000 mehr, als die ostdeutsche Statistik überhaupt vermißt. DDR-Experten wissen um diese Zahlen-Diskrepanz, witzeln sich jedoch zumeist um eine Erklärung herum: »Das sind«, sagt einer von ihnen, »die 3000 Agenten, die wir jährlich rüberschicken und die unsere Bürger bleiben, in der BRD-Rechnung jedoch erscheinen.«
In der bundesdeutschen Vertretung in Ost-Berlin will man von einer DDR-Tendenz, die Aussiedler-Quoten wieder zu drücken, noch nichts bemerkt haben. Jan Hoesch, Leiter der inzwischen mit rund 10 000 Rechtshilfe-Fällen befaßten Rechtsabteilung, meint, es gebe zwar »keine Explosion von neuen Anliegen«, noch aber halte bei den DDR-Behörden »eine gewisse Regellosigkeit« an -- das heißt, es würden auch weiterhin Aussiedlungsanträge genehmigt, wo von einer Familienzusammenführung im engeren Sinn nicht die Rede sein könne.
Ingenieur Karl Herrmann jedoch hat den neuen Trend bereits zu spüren bekommen: Nachdem seine Ausreise vom Referat »Innere Angelegenheiten« des Ost-Berliner Stadtbezirks Treptow bereits genehmigt war, verweigerte der Arbeitgeber seiner Frau -- die DDR-Post -- plötzlich die »Freigabe«. Bei ihrer Ausreise, so argumentierten jetzt die Behörden, müsse aus Sicherheitsgründen eine »Rückhaltefrist~ von unbestimmter Dauer eingehalten werden. Und auch der Mann dürfe jetzt nicht mehr fort -- »entweder die komplette Familie oder keiner«.
Zumal das Sicherheits-Argument verblüfft die Herrmanns. Denn nach einem gemeinsamen Fluchtversuch vor zehn Jahren war Frau Herrmann eigens der Platz in der Gebührenabteilung zugewiesen worden, weil es dort keine Geheimnisse gebe.