SCHWEIZ Gulasch gratis
Wunderbar! Irrsinnig!« jubelte Kaspar Villiger, eidgenössischer Verteidigungsminister, als er am Montag vorletzter Woche nach einem 45-Minuten-Flug aus dem Kampfjet F-5F kletterte. Die Plastiktüte, die ihm der Pilot für alle Fälle bereitgelegt hatte, war unbenutzt geblieben.
Der Flug im »Tiger«, diese »Erfüllung eines Bubentraums«, gehörte zu einer PR-Kampagne, mit der die Regierung die Wehrhaftigkeit der Schweizer stärken möchte. Denn nach Ansicht von Spitzenmilitärs hat »das Verständnis für die bewaffnete Verteidigung in beunruhigender Weise nachgelassen«.
Zur Erinnerung an die vorsorgliche Mobilmachung vor 50 Jahren sind Wehrschauen und Ausstellungen, Besuchstage und Gedenkfeiern mit Gratis-Gulasch für die alten Kameraden angesagt.
Der Aufwand scheint nötig, denn am 26. November müssen die Bürger zum erstenmal in der Schweizer Geschichte per Volksbegehren über die Abschaffung ihrer Armee entscheiden.
Zwar zweifelt niemand daran, daß die Nein-Stimmen überwiegen werden. Denn ohne allgemeine Wehrpflicht, ohne die Kameraderie der regelmäßigen Übungen und ohne das Gewehr im Schrank wäre es nicht so schön, Schweizer zu sein.
Doch selbst wenn im Spätherbst nur jede vierte Stimme für die totale Abrüstung abgegeben wird, wie Umfragen erwarten lassen, sieht das bürgerliche Establishment das Vaterland in Gefahr. »Wir werden vom Ausland sehr genau beobachtet«, behauptet Minister Villiger, »deshalb ist ein möglichst geschlossenes Bekenntnis zur bewaffneten Neutralität unerhört wichtig.«
Neutralität und Wehrhaftigkeit, das lernen die kleinen Eidgenossen schon in der Grundschule, gehörten untrennbar zusammen. Sie bilden die Grundlage der Schweizer Unabhängigkeit, die von den europäischen Mächten 1815 garantiert wurde. Ohne Armee, glaubt die Mehrheit des Volkes, hätte sich der Bundesstaat seit seiner Gründung 1848 nicht aus allen europäischen Händeln heraushalten können. Und ohne Waffenschutz entstehe im Herzen Europas ein gefährliches Vakuum.
Würde sich die Schweiz nicht mehr selbst mit Waffen schützen, fürchtet Helmut Hubacher, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, »könnte die Nato auf die Idee kommen, uns als Sicherheitsrisiko zu betrachten und bei uns Stützpunkte zu verlangen«.
Doch die Kritik am überlieferten Wehrkult wächst. Viele Bürger mögen nicht einsehen, daß im Ernstfall auf jedem der 41 000 Quadratkilometer 15 Soldaten stehen, ausgerüstet mit modernsten Waffen und teuerstem Gerät.
Die erste Bürgerpflicht, meinen Linke, Grüne und auch viele Liberale, heiße heute Umweltschutz, nicht Waffendienst. Anderen ist das Militär schlicht zu teuer. Fast drei Viertel der Wehrpflichtigen (alle Männer zwischen 20 und 50) glauben nicht daran, daß die Schweiz in einen Krieg gezogen werden könnte - und wenn doch, daß sie dann von der Armee zu retten wäre. 49 Prozent sind nicht mehr bereit, das Land »mit allen Mitteln« zu verteidigen, ergab eine Umfrage.
Als besonders unsichere Kantonisten gelten die Sozialdemokraten: Ein Teil von ihnen unterstützt das Volksbegehren. Schon vor Wochen drohte deshalb der konservative Parlamentarier Christoph Blocher den Roten, sie müßten die Regierung verlassen, wenn sie sich nicht eindeutig zur Armee bekennen würden.
Um die Partei vor einer Zerreißprobe zu bewahren, schlug der Vorstand deshalb am letzten Samstag den Delegierten vor, die Stimme freizugeben. Dem verbreiteten Pazifismus der Genossinnen und Genossen kam er mit einem »13-Punkte-Programm zur Friedens- und Sicherheitspolitik« entgegen. Hauptpunkt der angestrebten Neuerungen: Der »Einsatz der Armee für den Ordnungsdienst im Innern ist ausgeschlossen«.
Damit wird ein wichtiges Argument der Armeegegner aufgenommen, die darauf hinweisen, daß die Miliz seit ihrem Bestehen bisher nur gegen eigene Bürger eingesetzt wurde - zum Beispiel gegen streikende Arbeiter.
Schon 1905, als zum erstenmal von einer Abschaffung der Armee die Rede war, pries die »Neue Zürcher Zeitung« unmißverständlich den »Säbel des Infanteristen«, der dazu da sei, »das Eigentum des Unternehmers« gegen den »Knüppel des Streikenden« zu verteidigen.
1918, im Generalstreik, schossen Soldaten auf Arbeiter, es gab Tote und Verletzte. 1933 wurden in Genf zehn Teilnehmer einer antifaschistischen Kundgebung getötet. Zum Ordnungsdienst aufgebotene Rekruten hatten in Panik in die Menge gefeuert. Und noch vor wenigen Jahren drohten rechte Politiker mit dem Einsatz der Armee gegen Atomkraftgegner.
Der Widerstand nährt sich nicht nur aus der Geschichte: Gerade in traditionell regierungstreuen ländlichen Gegenden wächst in letzter Zeit die Opposition gegen das Militär und seine Verkörperung, die Beamten des Verteidigungsministeriums. Die sind als Landaufkäufer gefürchtet, weil sie sich bei der Einrichtung und Erweiterung neuer Übungsplätze rücksichtslos gegen die Bauern durchsetzen.
Die Quittung erhielten Regierung und Parlamentsmehrheit im Dezember 1987, als das Volk überraschend einer Verfassungsänderung zustimmte, die zur Folge hatte, daß der Ausbau des Truppenübungsplatzes in Rothenthurm gestoppt wurde.
Seither nahmen die Proteste gegen die Belästigung durch Soldaten zu: In Tuggen, einem Dorf am südlichen Ende des Zürichsees, forderten die Gemeinde-Behörden eine Verringerung des Übungsschießens auf höchstens sechs Tage pro Jahr.
Lärm und Flurschäden durch schwere Kettenfahrzeuge brachten auch die Bewohner anderer Ortschaften in Wut, sie schickten eine Delegation nach Bern. Die Militärs ließen nicht mit sich handeln. Statt auf sechs Übungstage, wie die Zivilisten verlangten, boten sie eine Beschränkung auf 25, später auf 30 Tage pro Jahr an.
Empört reagieren die Bürger auch auf Fehlschüsse der Artillerie in Wälder oder Wohngebiete. Im Dezember 1985 brannte bei Balzers im Fürstentum Liechtenstein der Wald, weil die Schweizer trotz herrschendem Föhnsturm Granaten verschossen hatten.
Am 3. Mai dieses Jahres schlugen um zwei Uhr mitten im Dorf Vättis vier Übungsgranaten ein, rissen Krater in Wiesen und Wege. Es vergehe keine Woche, kommentierte die »Bündner Zeitung« den Vorfall, »in der nicht irgendein Fehlschuß bekannt wird«.
Selbst von der Wirtschaft, die mit der Miliz materiell und personell eng verflochten ist, wird die Armee in den letzten Jahren nur noch halbherzig unterstützt. Vor allem mittlere und kleine Betriebe finden die langen militärischen Ausbildungsdienste ihrer jungen Kader zunehmend lästig - sie brauchen ihre Leute dringend selbst.
Am vorletzten Donnerstag setzte Minister Villiger ein Zeichen gegen den wachsenden Frust - ohne Konzessionen an die Abrüstungsfreunde: Er will die Wehrpflicht auf die 20- bis 42jährigen beschränken und die jährlichen Übungen von drei auf zwei Wochen verkürzen. Da aber die Dienstzeit von 331 Tagen für Mannschaften gleichbleiben soll, müßten die Schweizer nach der Reform häufiger einrücken als heute. #