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GUSTAV HEINEMANN

aus DER SPIEGEL 29/1976

Na, da hat das ja doch mal geklappt«, sagte er zur Begrüßung, trocken und ein bißchen barsch wie sonst, aber so leise, daß ich näherrücken mußte, ihn zu verstehen.

Ich war darauf gefaßt, ihn verändert zu finden, vom Tod gezeichnet. Das war er nicht. Sondern dies war unverkennbar Gustav Heinemann, nur reduziert auf höchstens halbe Kraft, plötzlich im Stich gelassen von seiner Physis, die er immer als Instrument begriffen und auch so behandelt hat: pfleglich, mehr nicht.

Der Besuch bei ihm war lang geplant und immer wieder verschoben worden, teils seiner, teils meiner Abhaltungen wegen. Dann kam, im März, die Nachricht von seiner Krankheit: Kreislaufschwäche, Nierenversagen.

Als die akute Gefahr vorüber war. ließ er mir über sein Essener Büro (wo ich nach seinem Befinden gefragt hatte) sagen« er könne durchaus besucht werden, wolle es auch. Er war inzwischen in Berlin, im Dahlemer Haus seines alten Freundes Helmut Gollwitzer, wo er eine Zweitwohnung hatte. Dort traf ich ihn Mitte Mai.

Es ist so gekommen, daß dies das letzte Gespräch war, das er mit einem Journalisten geführt hat; zwei Stunden, ohne Zeugen.

Beklagt hat er seinen Zustand nicht, auch nicht beschönigt. Er hat schlicht festgestellt, daß es nun eben so sei: Gustav Heinemann, ein Pflegefall: nicht gut, aber nicht zu ändern und, was ihn selber anging, auch nicht gänzlich unverhofft: »Ich habe schon gewußt, daß so was jederzeit passieren könnte -- natürlich nicht, wann. Da sehen Sie mal, wie schnell das geht.«

Wichtig war ihm, denn das sagte er ungefragt und sozusagen vorneweg, daß er nun mehr denn je im Frieden sei mit seinem Entschluß, die Kandidatur für eine zweite Amtsperiode als Bundespräsident nicht angenommen zu haben. »Stellen Sie sich vor, ich wäre jetzt noch im Amt! Da darf man doch gar nicht richtig drüber nachdenken!«

Natürlich war ihm bewußt, daß er mit diesem Entschluß die Regierung des (weiland von ihm selber symbolisierten) »Machtwechsels« in Schwierigkeiten gebracht und viele Freunde verprellt hatte, besonders Wehner. In einem seiner letzten Aufsätze, für ein Buch zu Herbert Wehners 70. Geburtstag, hat er denn auch ausdrücklich erwähnt. die »unvermeidliche Entscheidung«, nicht mehr zu kandidieren. habe »auf meine Beziehungen zu Wehner einen Schatten geworfen, was ich tief bedaure«.

Nun aber, sagte er ohne Triumph, freilich auch ohne Trauer, brauche man ihn ja bloß anzusehen, um zu begreifen. daß er gut daran getan habe, nicht zu bleiben.

Er sah schmal aus und blaß, aber nicht eigentlich krank. Er war präsent selbst noch in seiner Schwäche -~ ein Inbild bewußt erlebter, mit wachen Sinnen erfahrener Gebrechlichkeit. Das Sprechen machte ihm Mühe, nicht das Formulieren.

Gustav Heinemann rauchte. Die schrecklich langsamen, duldsam tastenden Bewegungen, mit denen er sich ab und zu eine Reval in die Zigarettenspitze steckte und später den noch glimmenden Stummel daraus zu entfernen versuchte, heischten Hilfe und verboten sie doch wieder. Denn das war es wohl, was er am wenigsten ertragen konnte: ständig auf Hilfe angewiesen zu sein. Nur den Tee, den Frau Gollwitzer uns gebracht hatte, ließ er sich ohne Widerspruch einschenken.

Stimmte es denn, daß er trotz drohenden Nierenversagens die Dialyse verweigert hatte? Dialyse? Das Wort kannte er gar nicht. Und der Anschluß an eine künstliche Niere -- darunter konnte er sich etwas vorstellen -- habe nie zur Debatte gestanden. Soviel allerdings stimmte, und darüber sei er sich mit seiner Familie und den Gollwitzers auch einig: Wenn es hoffnungslos werden sollte -- keine künstliche Lebensverlängerung, schon gar nicht mittels Maschinen. »Ich habe immer gesagt: Gott regiert die Welt. Das beziehe ich auch auf mich.«

Den Tod hat Gustav Heinemann nicht gefürchtet. »Nein, der Gedanke, daß ich morgen vielleicht nicht mehr da bin, der schreckt mich nicht.« Gefürchtet hat er sich nur, dies allerdings ganz unverhohlen, vor der Beschwernis eines medizinisch prolongierten, radikal reduzierten Lebens.

Auch der Gedanke an Versäumnisse hat ihn nicht umgetrieben. Die Frage, oh er etwas Entscheidendes ausgelassen habe, das er gern noch besorgen würde, hat er schlicht verneint. »Ich habe doch eine ganze Menge gemacht, eigentlich immer schon« -- wohl mehr, als er sich je vorgenommen hatte.

Und Memoiren? »Nein. Ich habe genug geschrieben« das komme ja nun sowieso alles in Sammelbänden auf den Markt. Sofern andere Autoren etwas über ihn wissen wollten, »gebe ich jede Menge Auskünfte«. Gustav Heinemann hat sein lutherisches »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.« ohne weiteres auch ins Perfekt setzen können.

Ich wollte wissen, ob er, der allzeit Streitbare, wohl glaube, er habe jemandem etwas abzubitten. er habe irgendwann einen Gegner vermeidbar verletzt. Aber auch das, nach einigem Bedenken. verneinte er. »Sehen Sie mal, selbst den Adenauer, mit dem ich mich doch, weiß Gott, herumgerauft habe und der mich mehr als einmal beleidigt hat, selbst den habe ich doch immer für einen Mordskerl gehalten.«

War da wirklich gar nichts mehr, was ihm noch zu tun blieb? Es hatte doch Gerüchte gegeben, allerdings bevor er krank geworden war, er wolle wieder Wahlkampf machen, wolle womöglich selber nochmal für den Bundestag kandidieren? Heinemann lachte ein bißchen. »Sie wissen doch, wie ich oft geredet habe. Vielleicht habe ich das mal gesagt: Warum sollte ich nicht wieder Abgeordneter werden?« Aber ernst gemeint war das nicht.

Was ihn ernstlich beschäftigt hat, das waren »unsere Verstopfungen« -- soll heißen: die festgefahrenen Interessen; vor allem aber die »Gefahr einer Verwüstung von natürlichem jugendlichem Selbstbewußtsein«, hervorgerufen durch »Gesinnungsschnüffelei« im Gefolge des Radikalenerlasses. Da hat er dann auch gelegentlich noch zur Feder gegriffen, freilich im vollen Bewußtsein der Vergeblichkeit solcher Anstöße.

Bedauern darüber (so wie über Wehners Verstimmung). Bedauern auch über so manches, was nach seinem Abgang in Bonn passiert (oder eben nicht mehr passiert) ist -- das wollte Gustav Heinemann keineswegs verbergen. Aber mehr als Bedauern war es auch nicht. »Ich kann das ja nicht mehr beeinflussen, nur noch beobachten, kritisch begleiten.« Mir schien, das genügte ihm.

Die Krankheit hatte ihn noch ein Stück weiter weggebracht vom Bonn der Macher. die er ohnehin fast nie mehr zu sehen bekam. Einmal war er in der Villa Hammerschmidt zum Abendessen eingeladen, zu einer jener verbindlich-unverbindlichen Geselligkeiten, die zum Stil der Amtsführung seines Nachfolgers Walter Scheel gehören. Gesagt hat er nicht viel darüber. Ich glaube kaum, daß er sich wohl gefühlt hat.

Wir haben dann nicht mehr über Politik gesprochen, auch nicht über ihn, sondern, weil er mich danach gefragt hat, über ein paar Probleme im Leben einer ganz anderen Generation (eben meiner), deren Krisen, Brüche, Trennungen ein Mann mit der nie versagenden Innensteuerung Gustav Heinemanns wohl politisch, aber nicht privat erlebt hat. Er hat aufmerksam zugehört, zuweilen genickt, keine Kommentare gegeben. Einmal hat er gefragt: »Kann ich Ihnen helfen?« Die Antwort bin ich schuldig geblieben.

Er ist noch mitgekommen bis zur Tür, langsam, mühsam« beinah wortlos. Er hat nie viel von großen Verabschiedungen gehalten.

»Wenn Sie mal wiederkommen wollen«, hat er gesagt, »dann tun Sie es.«

Hermann Schreiber

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