PROZESSE / MILITÄRGERICHT Gut zu wissen
Der Schuß fiel um Mitternacht. Die Kugel durchbohrte den Bauch des Bierfahrers. Der griff den Schützen und setzte ihn vor die Tür des Stuttgarter »Seestüble«. Dann rauchte er am Kneiptisch seine letzte Zigarette.
Das war am Abend vor dem Heiligen Abend. Am Morgen nach dem Christfest war der angeschossene Friedrich Koch, 31, tot.
Laut Leichenbegleitschein starb er am 27. Dezember vergangenen Jahres an »Peritonitis« (Bauchfellentzündung). Wie es zu dieser todbringenden Krankheit gekommen ist, suchte in der vergangenen Woche ein amerikanisches Militärgericht im Stuttgarter US-Camp »Kelley-Barracks« zu klären:
> ob durch einen Pistolenschuß des wegen Mordes angeklagten US-Sergeant Charles Wood, 29, im »Seestüble« oder
> wegen unzulänglicher Behandlung durch den Stuttgarter Arzt Dr. Konrad Mailänder, 60, der den Bierkutscher im Stuttgarter Furtbach-Krankenhaus versorgt hatte und der im Wood-Prozeß als Zeuge auftreten mußte.
Mailänder ist bisher freilich nur von Wood-Anwalt Melvin M. Belli beschuldigt worden, während die Stuttgarter Staatsanwaltschaft -- ein Strafverfolger saß als Zuhörer im Verhandlungssaal -- noch prüft, ob sie ein Ermittlungsverfahren gegen den Arzt einleiten soll. Belil verteidigte seinen Mandanten durch Angriff, und er verwandelte mit dieser Taktik die Verhandlung gegen den Angeklagten Wood vor dem Court-Martial in einen Prozeß gegen den Zeugen der Anklage.
Dergleichen hat ihn berühmt gemacht. Zu seinen Klienten zählten Hollywood-Stars wie Errol Flynn und Dean Martin, der Wimbledon-Siegerin Maureen Conolly erstritt er für eine Beinverletzung 95 000 Dollar. Und er verteidigte Jack Ruby, den Mörder des Kennedy-Mörders Oswald. Aber er prozessiert auch für mittellose Rentner und Witwen ("Die Reichen sollen für die Armen bluten"), bei denen er nur kassiert, wenn er gewinnt.
Melvin M. Belli gilt als einer der »erfolgreichsten, umstrittensten und blendendsten Verteidiger der Gegenwart« ("Saturday Evening Post"). Gewiß ist er einer der skurrilsten Anwälte.
Wenn Belli einen Prozeß gewonnen hat, pflegt er auf seiner Villa eine Piratenflagge zu hissen und eine Kanone abzufeuern. Seine Anzüge läßt er in der Londoner Savile Row schneidern, und die Cowboy-Stiefeletten, die er gern trägt, werden nach Gipsabdrücken seiner Füße ebenfalls in London gefertigt. Abends bevorzugt er knallrote Hosen und leuchtendblaue Jacketts. Seinen Rolls-Royce läßt er ständig umfärben.
Bellis Kanzlei mutet an wie ein Antiquitätenladen: alte Samtsessel, eine mächtige Lederbank, viktorianische Öllampen. Berühmt sind die Diners des vielfachen Millionärs für die Männer des verschwiegenen »Zero Club«. Als eine Zeitung schrieb, »zwischen den einzelnen Gängen« habe »ein Mädchen unbehindert von jeglicher Kleidung auf der Harfe« gespielt, klagte er auf 15 Millionen Dollar Schadenersatz: »Es war eine kalte Nacht. Die Frau hatte Schuhe an.«
Zu den Requisiten seiner Auftritte gehören Farbfilme, die er im Gerichtssaal vorführt, Wandtafeln, auf die er seine Thesen schreibt, Skelette und riesige Röntgenbilder. Einen 300 Kilo schweren Zirkus-Schausteller, der bei einem Unfall verletzt worden war, ließ er in einem Möbelwagen zum Schadenersatzprozeß fahren und mit einem Spezialkran durchs Fenster in den Gerichtssaal hieven.
Auch in Deutschland mochte Melvin M. Belli auf die Szene nicht verzichten: Er ließ im Gerichtssaal ein Modell des Tatorts »Seestüble« aufbauen. Die Attrappe füllte den Raum zur Hälfte, und so mußten die Militär-Richter in einen kleinen Konferenzraum ausweichen und auf Tuchfühlung Haltung wahren. Schließlich wurde die Staffage wieder abgebaut.
Doch kaum mit seinem weinroten Samtkoffer im Saal, demonstrierte der saloppe Kalifornier den Offiziersrichtern abermals, wer die beherrschende Figur in einem amerikanischen Strafverfahren ist. Ohne Begründung (sein Mit-Verteidiger Edward F. Bellen, 29: »Gefühlssache") lehnte er den grimmigsten Richter der Jury ab. Grußlos räumte Colonel Frederick A. Schmaltz Bellis Bühne. Kollege Bellen vernahm die ersten Zeugen aus jener Adventsnacht, in der Sergeant Wood samt zwei Freunden aus dem »Seestüble« geworfen worden war. Bei zweien war das ohne Umstände gelungen.
Den dritten, Wood, der sich sträubte, riß Gastwirt Pfeffer an Hals und Haaren zu Boden. Mindestens vier Deutsche, unter ihnen Bierfahrer Koch, 110 Kilo, drückten anschließend den Sergeant in einer Lokalecke an die Wand. Bauch an Bauch griff der Amerikaner zur Waffe und drückte ab, um sich, wie er versichert, »aus der gefährlichen Situation zu befreien«.
Eine halbe Stunde später, Heiligabend um 0.15 Uhr, lag Koch bei Dr. Mailänder im Furtbach-Krankenhaus. Und der tat, laut Belli, so gut wie nichts.
Sechs Stunden lang bewies der Anwalt, daß er nicht nur kernige Sprüche beherrscht ("Ich glaube an die Verfassung, das Gesetz und den Sex, aber nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge") und etwas vom Show-Geschäft versteht, sondern auch, daß ihm die Regeln der Vernehmungskunst mindestens ebenso geläufig sind wie dem Dr. Mailänder die Regeln ärztlicher Kunst.
Sechsmal hintereinander stellte Belli dieselbe. Frage in anderer Form, wenn Mailänder auswich. So, als der Mediziner sich in Banalitäten erging: »Es ist in der deutschen Medizin nicht üblich, für den Staatsanwalt zu arbeiten.« Oder: »Ich bin gewohnt, kritisch vorzugehen und alle Dinge kritisch zu prüfen« (Belli: »Gut, zu wissen, Doktor"). Oder: »Ich bin dafür bekannt, daß ich alle meine Anordnungen schriftlich gebe.«
Schließlich gab der bedrängte Zeuge zu, er habe seinen Patienten Koch zwei Tage lang ohne nennenswerten Eingriff -- mit Penizillin und Kortison behandelt. Am dritten Tag war der schwerverletzte Bierfahrer operiert worden. Zu der Zeit aber, so Mailänder, sei Kochs Darm schon »brandig« gewesen. Und endlich gestand der Arzt: »Wenn ich so diagnostiziert hätte, wie die Verteidigung meint, dann hätte jeder Arzt öffnen müssen.«
Genauso aber -- Bauchdurchschuß und nicht nur »Durchschuß im Bereich des Unterhautfettgewebes« (Mailänder) -- hätte der Mediziner nach Meinung des renommierten Pathologen und britischen Armee-Generals Francis Camps, den Melvin M. Belli aus London zitiert hatte, diagnostizieren müssen.
Die Stuttgarter Offiziersrichter folgten Bellis General. »Not guilty« (nicht schuldig), urteilten sie am Freitag letzter Woche über Sergeant Wood und sprachen ihn von der Mordanklage frei.
Den Verteidiger, der zum erstenmal vor einem Militärgericht plädiert hatte, lobte sogar der Ankläger: »Ich finde, Belli ist einer der charmantesten und besten Verteidiger.«