Hauptstadt Gute Bürger
Ihre Neigung zum politischen Aktivismus entdeckte Barbara Jäger, 54, im vorigen Herbst. Die Berliner Buchhalterin begann Leserbriefe zu verfassen, stellte aber schnell fest, »daß das nichts bringt«. Also tat sie sich mit einigen Freundinnen in einer Bürgerinitiative zusammen und organisierte auf der Friedrichstraße, im Zentrum der Hauptstadt, zum ersten Mal in ihrem Leben eine Demonstration.
Unter dem Motto »Tod, Trauer und Leben«, mit »poetischen Plakaten« und rund 50 als Bäume und Sensenmänner verkleideten Mitstreitern prangerte die Buchhalterin die »Arroganz der heutigen Hausfassaden« an. »Wer an den Dingen seiner Stadt keinen Anteil nimmt«, befindet Barbara Jäger, »ist nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.«
Gute Bürger wollen offenbar immer mehr Berliner sein. Was Demonstrationen anbelangt, hat die Metropole Weltniveau erreicht: Allein im ersten Halbjahr 1996 stieg die Zahl der politisch motivierten Umzüge auf 1200; im vergangenen Jahr waren es insgesamt 1008 gewesen. Berlin ist damit unangefochten die deutsche Demo-Hauptstadt.
Hamburg hatte 1995 vergleichsweise magere 584 Veranstaltungen aufzuweisen, Frankfurt am Main 560, und im Noch-Regierungssitz Bonn waren es läppische 300. Bundesweit wurden im vergangenen Jahre 8082 Manifestationen registriert - jede achte davon in der Hauptstadt.
Manchmal erregen die Berliner mit ihrer Lust an Demonstrationen das Mißvergnügen des umzugswilligen Bundeskanzlers. Nachdem Helmut Kohl Ende Juni gemeinsam mit Papst Johannes Paul II. ergriffen durchs Brandenburger Tor geschritten war, hatten respektlose Heiden das Papa-Mobil mit Farbbeuteln beworfen.
Wenn die Hauptstädter sich nicht anständig betrügen, zürnte der Kanzler daraufhin, müsse man überlegen, ob überhaupt noch Staatsgäste nach Berlin eingeladen werden könnten.
»Wenn die Regierung und das Parlament kommen«, sagt dagegen Joachim Haß, 46, voraus, »wird die Demotätigkeit erheblich zunehmen.« Der Referatsleiter für ordnungsbehördlichen Staatsschutz der Berliner Polizei ist der Herr über sämtliche Demonstrationen in der Stadt.
Ein Verbot erläßt der Staatsschützer, wenn die Stoßrichtung einer Aktion nicht verfassungsgemäß ist oder wenn schlicht die Voraussetzungen für eine Demo nicht erfüllt sind.
Zuletzt mußte Haß gegen eine Dauermahnwache vor dem Roten Rathaus einschreiten. Die hatten Studenten der Humboldt-Universität angemeldet, denen in den Semesterferien aber das studentische Wachpersonal abhanden kam, weshalb ein barfüßiger Mann mit Voodoo-Kenntnissen den Mahn-Job übernahm. Nicht zulässig, urteilte Referatsleiter Haß, eine Demonstration ist erst ab zwei Teilnehmern eine solche.
Ursprünglich war die Wache durchaus ernst gemeint. Der Protest richtete sich gegen Sozialabbau und Sparmaßnahmen, denn diese Probleme provozierten derzeit die meisten aller in Berlin beantragten Demonstrationen. Es folgen Ausländerfeindlichkeit, Einsätze und öffentliche Gelöbnisse der Bundeswehr sowie die Tarifverhandlungen der Gewerkschaften mit den Arbeitgebern.
Nur im Juli und August ist Demo-Pause. »Das Interesse am Sozialabbau erlahmt schlagartig zur Urlaubszeit«, erklärt Joachim Haß, »aber es wird genügend anderes als politische Veranstaltung verkauft.«
Da ist der Corso von 20 Motorradfahrern, die am 11. August von Berlin in Richtung Rumänien aufgebrochen sind, um gegen die Teilung Zyperns zu demonstrieren. »Es gibt eigentlich kein Thema, das zu blöd ist«, sagt Haß.
In Berlin wurde schon immer mehr demonstriert als anderswo. Vor dem Ersten Weltkrieg ließ der Polizeipräsident Traugott von Jagow plakatieren: »Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Ich warne Neugierige.« Abschrecken ließen sich die Berliner nicht: Allein zwischen Februar und April 1910 demonstrierten in der Reichshauptstadt Hunderttausende gegen das preußische Dreiklassen-Wahlrecht.
Allerdings sorgte man sich schon damals um den Sinn von Demonstrationen, die zum alltäglichen Ritual erstarren. Die Nordostdeutsche Zeitung schrieb am 24. April 1910: »Die Straßenaufzüge verlieren an ihrer Wucht, wenn sie sich immer nach demselben Schema Sonntag für Sonntag wiederholen.«
Nach dem Zweiten Weltkrieg boomte das Protestgewerbe erst wieder gegen Ende der sechziger Jahre dank der West-Berliner Studentenbewegung. Aus den Kundgebungen der »kleinen, radikalen Minderheit« (APO-Slogan) wurden in den siebziger Jahren Massenveranstaltungen. Die Friedens- und Frauenbewegung, Umweltschützer und Atomkraftgegner versuchten mit immer größeren Demonstrationen politischen Druck auszuüben.
Nachdem jedoch auch große friedliche Aufmärsche sich angesichts der Demo-Inflation nur als Kurzmeldungen in der Presse wiederfanden, erkannten Demo-Strategen, daß ein paar hundert tatkräftige Autonome, die ein paar Millionen Mark Sachschaden anrichten, mehr Aufmerksamkeit erregen als Zehntausende, die friedlich durch die Straßen spazieren. Radikale Hausbesetzer zettelten deshalb Anfang der achtziger Jahre erfolgreich immer wieder »Randale« an.
Um rufschädigende Straßenschlachten zu vermeiden, setzte Berlins damaliger Innensenator Erich Pätzold (SPD) das »Deeskalations-Prinzip« als polizeiliche Methode durch. »Deeskalation ist ein künstlicher Begriff für eine Strategie, die es eigentlich schon immer gab«, sagt Staatsschützer Michael Knape, 44, der heute den Einsatz der geschlossenen Polizeieinheiten in Berlin plant. Gemeint ist das gezielte Vorgehen gegen Straftäter, ohne die Masse der Demonstranten zu stören. »Unsere wichtigste Waffe ist dabei Sprache«, erklärt Knape. »Wir versuchen, unser Handeln transparent zu machen.«
Inzwischen ist das kaum mehr nötig, denn nahezu alle Demonstrationen verlaufen friedlich, und Großdemos sind rar geworden.
Für die Demo-Kultur der neunziger Jahre sind eher solche Manifestationen wie die für die »Lohnforderungen von Angestellten des Café Huthmacher« typisch: Sechs ehemalige Beschäftigte marschieren seit Monaten immer wieder vor dem Wohnhaus ihres ehemaligen Chefs auf, um ausstehende Löhne in Höhe von 40 000 Mark einzutreiben.
Da schaut dann nur kurz der Kontaktbereichsbeamte vorbei.