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HALLSTEIN-DOKTRIN Gute Hoffnung

aus DER SPIEGEL 16/1965

Noch in diesem Jahr will die Bundesregierung die Hallstein-Doktrin modifizieren und diplomatische Beziehungen mit einem Ostblockstaat aufnehmen.

Den Plan, das »Verhältnis zu den Staaten Osteuropas (zu) verbessern und soweit wie möglich (zu) normalisieren«, hatte Schröder schon vor einem Jahr bekanntgegeben. Vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU sagte er damals: »Ich glaube Anzeichen dafür zu sehen . . . daß wir in diesen Staaten mit unserem Wunsch nach einer wirklichen Entspannung auf mehr Verständnis stoßen als einstweilen noch bei der sowjetischen Regierung.«

Fast ein Jahr später, Ende März, auf dem Frankfurter FPD-Parteitag, stieß Erich Mende unter dem Eindruck der Bonner Schwierigkeiten im Nahen Osten nach. Er proklamierte, daß die Staaten, die »durch ihre Zwangszugehörigkeit zum sowjetischen Imperium zu keinem Zeitpunkt die Wahl hatten, die Zone anzuerkennen oder nicht«, von der Hallstein-Doktrin befreit werden sollten. Die »Aufnahme diplomatischer Beziehungen« mit diesen Staaten liege also »im wohlverstandenen deutschen Interesse«.

Wiederum acht Tage später sagte Schröder auf dem Düsseldorfer CDUParteitag: Man müsse auf die 'Tendenz zu größerer Eigenständigkeit der osteuropäischen Länder positiv« reagieren.

Eben diese Tendenz beobachtet das AA seit längerem in Bukarest:

- Von allen Ostblock-Staaten in

Europa hat sich Rumänien- die größte außenpolitische Selbständigkeit ertrotzt. So ließ während der Kuba-Krise Rumäniens Ministerpräsident Maurer in Washington wissen, sein Land wolle bei einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Blöcken neutral bleiben. In Rumänien befinden sich keine sowjetischen Truppen.

- Rumänien lehnte ab, sich in die sowjetische Wirtschaftsplanung zu fügen. Es wollte nicht zum »Gemüsegarten und Weizenacker der sozialistischen Welt« werden. Washington zeigte im Juni vergangenen Jahres, wie hoch der selbständige Kurs Bukarests honoriert werden kann: Es versprach den Rumänen zwei Atomkraftwerke von je 500 000 Kilowatt Leistung.

Frankreich zog einen Monat später nach. Die französische Stahlmagnatin Liliane Schneider vom Konzern Schneider-Creusot verabredete mit den Rumänen enge Zusammenarbeit.

Im August 1964 reiste Dr. Dietrich Wilhelm von Menges, der im nächsten Jahr als Nachfolger von Dr. Hermann Reusch den Vorsitz im Vorstand des Gutehoffnungshütte Aktienvereins (GHH) übernehmen soll, nach Bukarest. Das erste Ergebnis dieses Erkundungsvorstoßes war die Beteiligung der GHH -Tochter MAN an einem französischen Entwicklungsprojekt in Rumänien. Die MAN hat die Lieferung eines Dampfkraftwerks im Wert von 100 Millionen Mark übernommen.

In der vergangenen Woche erhielt Menges den Gegenbesuch aus Bukarest: Der stellvertretende rumänische Maschinenbauminister Nacuta und die GHH schlossen einen Vertrag über gemeinsame Projekte in den Bereichen Stahl, Eisen und Chemie.

Nacuta nimmt außerdem ein GHH -Angebot mit, wonach Rumänien ein Stahlwerk erhalten soll. Außerdem möchte die Gutehoffnungshütte in Galatz ein Hüttenwerk mit einer Kapazität von vier Millionen Tonnen bauen.

Bei diesem Milliardenprojekt wird die GHH nicht an der heiklen Kreditfrage scheitern. Sie darf mit Genehmigung der Bundesregierung so weit gehen wie die französische Konkurrenz: bis zu Krediten mit siebenjähriger Laufzeit. Damit hat die Bundesrepublik erstmals bei einem größeren Projekt die Abmachung der sogenannten Berner Union (internationales Übereinkommen, das die Laufzeit von Krediten auf fünf Jahre beschränkt) überschritten.

Im kommenden Monat soll Außenamts-Staatssekretär Lahr die politischen Früchte dieser wirtschaftlichen Zusammenarbeit ernten.

Eine Reise zur Industrieausstellung nach Bukarest gibt dem Bonner Chef-Unterhändler eine unauffällige Gelegenheit, die in aller Stille recht weit gediehenen Gespräche über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Bukarest über die letzten Hürden zu bringen.

Kanzler Erhard jedenfalls hofft, daß Bonn bald in Bukarest durch einen Botschafter vertreten ist: »Noch vor den Wahlen.«

Rumäne Nacuta, Ruhr-Manager von Menges

Oberhausen: Diplomatie mit Stahl und Eisen

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