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GRIECHENLAND Gute Zunge

Fast viermal so viele Anwälte wie in Paris wetteifern In Athen um die Gunst von Klienten. Die Inflation des Berufsstandes treibt immer mehr Juristen zu unlauteren Praktiken.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Griechenland«, klagte Hochschulprofessor Evelpidis, »ist das einzige europäische Land, wo auf 5000 Bauern ein Diplom-Landwirt, aber auf 850 Einwohner ein Rechtsanwalt kommt.«

Das waren, im Jahre 1950, noch harmlose Zustände. Heute kommt im Agrarland Hellas nur noch ein Diplom-Landwirt auf 10 000 Bauern, dafür ein Anwalt auf knapp 500 Griechen.

Allein im Großraum Athen mit seinen 2,5 Millionen Einwohnern sind 11 500 Anwälte niedergelassen, fast viermal soviel wie in Groß-Paris, wo 3161 Anwälte 10 Millionen versorgen.

Ungebremster Drang der Griechen zur Juristerei hat zur »Dikigorokratia« (Anwaltsherrschaft) geführt. Anwälte sitzen auf den Spitzenposten in Staats- und Privatwirtschaft, 50 von insgesamt 56 Präfekturen werden oft von beruflich nicht allzu erfolgreichen Advokaten regiert. Von 41 Ministern und Vizeministern sind 29, von den 300 Abgeordneten 158 Anwälte. (Vergleich Bundestag: 36 von 518.)

In den Reihen der Kollegen ohne Staatsamt treibt die harte Konkurrenz mittlerweile viele zu unlauteren Methoden. Betroffene klagen über doppelzüngige Anwälte, die sich hinter dem Rücken ihrer Klienten mit dem Prozeßgegner einigten oder sich kaufen ließen. Das Mißtrauen hat etliche Ratsuchende schon gezwungen, die Stand- und Ehrenhaftigkeit ihres Anwalts durch einen zweiten prüfen zu lassen.

Der Argwohn richtet sich vor allem gegen jene »Korridor-Anwälte«, die beispielsweise im Athener Gerichtsgebäude »Arsakeion« auf geplagte, rechtsuchende oder ängstliche Bürger lauern, um ihre Dienste anzubieten. Einige beschäftigen ihre Frauen oder andere Gehilfen, Klienten zu angeln.

Der Masse der griechischen Anwälte kommt freilich die »Dikomania«, die Prozeßsucht der Hellenen, entgegen. Streitbar, in ihrem überspitzten Rechts- und Ehrgefühl leicht verletzlich, nehmen sie oft und gern die Hilfe ihres Anwalts in Anspruch, um Nachbarn und Anrainer, Konkurrenten und Rivalen vor den Richter zu bringen. Es reicht, von einem anderen »Esel« oder »Bär« »Bulgare« oder »Junta-Anhänger« geschimpft zu werden.

Daneben erweist sich die griechische Sorglosigkeit im Umgang mit dem Gesetz den Anwälten als förderlich;

Etwa die Hälfte der 1976 verurteilten 112 510 Bürger wurden wegen Verstößen gegen Marktpolizei-Vorschriften, Verkehrsregeln und Gesundheitsbestimmungen mit einer Strafe belegt. 82 Prozent der Verurteilten erhielten eine Gefängnisstrafe unter einem Monat. »Die meisten Delikte«, urteilte die »Apogevmatini«, »sind unserem reizbaren mediterranen Charakter oder der Neigung zuzuschreiben, auf Kosten der Verbraucher Gewinne zu erzielen.«

Gegenwärtig müssen griechische Richter oft in bis zu 70 Sachen am Tag Recht sprehen. Zwar ließen sich viele Streitigkeiten außergerichtlich regeln. Aber viele Anwälte heizen die Prozessiersucht an. Einer von ihnen: »Sie raten ihren Klienten sofort zum Prozeß, so wie Chirurgen zur Operation.«

Das hat seinen tieferen Grund in Pensionsregelungen, welche die Anwälte zu einer bestimmten Prozeß-Zahl im Jahr zwingen. Einer Branchen-Weisheit zufolge muß ein Anwalt »feste Füße zum Laufen und eine gute Zunge haben -- nicht zum Reden, sondern um Gebührenmarken zu lecken«.

Diese Gebührenmarken, die auf alle möglichen Schriftsachen und Urkunden geklebt werden, sind die Sozialversicherungsbeiträge an die Juristenkasse. Wer sie nicht durch zügiges Prozessieren zusammenbringt, kauft die Marken beim Kollegen oder beim Justizsekretär -gegen entsprechenden Aufpreis.

Vielen Anwaltsbüros bringen die Vermittlung in Immobiliengeschäften, die Prüfung von Eigentumstiteln auf Grundstücke sowie Vermögensverwaltung -- von der Einziehung von Mieten bis hin zur Zimmervermietung -- müheloser Geld ein als Prozesse.

Der Disziplinarrat der Athener Anwaltskammer verurteilte vergangenes Jahr 200 Kollegen wegen verschiedener Delikte -- von Unterschlagung und Betrug bis zu Verstößen gegen die berufsständische Ehre sowie wegen unkollegialen Verhaltens; der »Säuberungsausschuß« strich 374 Advokaten wegen der »Unvereinbarkeit« ihrer Anwaltschaft mit anderen Tätigkeiten aus dem Register.

Das Ansehen der Advokaten aufzupolieren, den Stand zu »sanieren« ist denn auch Ziel des Präsidenten der Athener Anwaltskammer, Evangelos Iannopoulos. Er glaubt, die Anwalts-Überzahl sei durch Heraufsetzung der Rente (800 Mark) auf Oberlandesgerichtsrats-Niveau (etwa 2000 Mark) zu verringern. Dann könnten sich, meint Iannopaulos, an die 2000 pensionsreife Kollegen zum Ruhestand entschließen.

* AIKNGOPOS = griechisch Rechtsanwalt.

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