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ADEL / TIMO VON SACHSEN Guter Oberförster

aus DER SPIEGEL 16/1968

Der Großvater war der reichste Sachse und fluchte, als ihm vor 50 Jahren in Dresden die Herrscherrechte aberkannt wurden. Der Enkel ist mittelloser Flüchtling und war froh, als ihm jüngst in Kassel das Armenrecht zugebilligt wurde.

Friedrich August III., letzter König von Sachsen, verabschiedete sich 1918 mit dem Ruf »Macht Eiern Dreck alleene« von seinen ungetreuen Untertanen und zog sich millionenschwer auf seine Liegenschaften zurück. Enkel Georg Timo Michael Nikolaus Maria Prinz von und Herzog zu Sachsen, 44, haust in einem alterskrummen Fachwerkhaus der Marburger Oberstadt.

Um »endlich als einfacher Bundesbürger wie jeder andere auch« leben zu können, will er jetzt vor Gericht den Flüchtlingsausweis C erstreiten -- als kreditfördernde Existenzgrundlage.

Bis dahin war von Timos Existenz nur in der Regenbogen-Presse die Rede, die ein paar Skandale zu schildern wußte. Der hochadlige Sachse war durch Frauen ins Gerede gekommen -- wie viele seiner Vorfahren seit den amourösen Höchstleistungen des Stammvaters August des Starken (1670 bis 1733); der erste August, der die sächsische Königskrone trug, zeugte mit ungezählten Mätressen nach genealogischen Schätzungen rund 900 Kinder.

Der letzte August, Timos Großvater, war schon als Kronprinz wochenlang in den Schlagzeilen: 1902 brannte seine Kronprinzessin Luise, eine gebürtige Habsburgerin, mit einem belgischen Sprachlehrer durch.

Enkel Timo machte ein halbes Jahrhundert später Familiengeschichte: 1952 heiratete er wider alle Hochadelstradition die Mülheimer Schlachterstochter Margrit Lucas, 20. Die bunten Blätter berichteten von einer »Märchenhochzeit«.

Timos Familie, die nach dem Kriege nach Irland ausgewandert war, wähnte den Prinzen in Südamerika und nicht in Mülheim; Timo sollte nach Ecuador aus demselben Grund auswandern, der schließlich zum Scheitern seiner Ehe führte: Timo war im Laufe der Jahre dem Rauschgift verfallen, seit er -- auf Führerbefehl wie andere Angehörige regierender Häuser vom Wehrdienst befreit -- im Kriege als Sanitäter eingesetzt war,

Wie einst als blaublütiger Rotkreuzler, nahm Timo auch als Ehemann weiter Drogen. Eine Erbschaft -- 30 000 Mark -- war schnell verbraucht. Der Prinz verließ seine Familie, vagabundierte durch Europa und versuchte sich glücklos als Export-Kaufmann, Dolmetscher, Lastwagenfahrer, Autowäscher, Möbelverkäufer, Schuhvertreter. Parfüm-Reisender, Steineklopfer und Bauhilfsarbeiter.

1955 ließ sich die Schlachterstochter Margrit, als seine Ehefrau mit dem Titel »Prinzessin« versehen, scheiden. Sie starb 1957, kurz nachdem Timo auf ihren Antrag entmündigt worden war: Der fast dauernd Berauschte zahlte schon seit langem keinen Unterhalt für seine Frau und seine beiden Kinder Rüdiger und Iris mehr. Die Kinder kamen zu den Eltern der Mutter.

Und Timo, der sich nun in Obdachlosen-Asylen und halbverfallenen Behausungen vor seinen Gläubigern verborgen hielt, wurde 1958 vom Vormundschaftsgericht in eine Heilanstalt eingewiesen.

Sieben Jahre lang mußte der Prinz von Psychiatern behandelt werden -- dritter Klasse auf Staatskosten. Erst am 15. Dezember 1965 hob das Vormundschaftsgericht den Unterbringungsbeschluß auf.

Der Patient wechselte in Marburg aus einem festen Haus in feste Hände über. Die gleichaltrige Charlotte Schwindack nahm ihn in ihre Wohnung in der Altstadt auf. Am 15. Februar 1966 schloß Timo seine zweite Ehe, doch diesmal so heimlich, daß nicht einmal die Nachbarn davon erfuhren.

Prinzessin Charlotte ist gebürtige Dresdnerin und wurde nach dem Krieg an der Lahn als Sprecherin bei der Blindenhörbücherei und als Erzieherin seßhaft. Sie ist auf schwierige Fälle spezialisiert. Wie sie lerngestörten Kindern hilft, so suchte sie den apathischen Gatten wieder aufzurichten. Sie beschaffte ihm eine Halbtagsstellung bei der Marburger Landmaschinenfabrik Martin Rausch; Monatslohn: 500 Mark.

Charlotte von Sachsen erkannte: »Auf die Dauer ist die Fabrik nichts für Timo.« Doch es fand sich bislang kein anderer Posten für den Prinzen, der keinen Beruf, sondern nur das Weidwerk erlernt hat. Charlotte über Timo: »Er wäre ein guter Oberförster geworden.«

Um ihrem entmündigten Lebensgefährten »einen neuen Lebensinhalt als freier Mann« zu besorgen, will die Pädagogin ein Heim für externe Schüler eröffnen. Dort soll sich Timo in Haus und Garten nützlich machen.

Das Startkapital von etwa 10 000 Mark hofft die resolute Prinzessin zu bekommen, sobald ihr Mann als »Sowjetzonenflüchtling« anerkannt ist. Doch der Regierungspräsident in Kassel lehnte das Gesuch im Februar ab: Der aristokratische Flüchtling könne »ohne Gefahr für Leib und Leben« in die DDR zurückkehren.

Seit ihm jetzt das Armenrecht bewilligt worden ist, kann Timo prozessieren; die erste Instanz ist das Verwaltungsgericht in Kassel.

Im roten Sachsen wäre Timo nicht nur aus politischen Gründen ein Fremdling. Der in München geborene und in süddeutschen Jesuitenkollegs aufgewachsene Sachsen-Prinz ist seiner Heimatsprache nicht mächtig. Er kann nicht sächseln.

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