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»HÄTTE ICH JEMAND UMGEBRACHT ...«

aus DER SPIEGEL 40/1967

Mit dem Johann Evangelist Lettenbauer, der von 1947 bis 1965 fälschlich als der Mörder seiner Tochter Maria und seines Enkels Arthur galt, ist man inzwischen im reinen. Freilich ist man mit ihm auf die übliche, irdische Manier ins reine gekommen.

Groß war der Schrecken, als am 10. August 1965 ein Schwurgericht in Kempten im Allgäu den Johann Lettenbauer (damals 81) im Wiederaufnahmeverfahren freisprechen mußte, wegen erwiesener Unschuld und nach 18 Jahren Verwahrung in Zuchthaus und Anstalt. Der Schrecken löste ein tolles Wettrennen aus. Jeder beeilte sich, sein Scherflein als Pflaster auf das im Namen des Volkes zugefügte Unrecht zu legen.

Dezember 1965: Vier Monate nach dem Freispruch weist der Freistaat Bayern 15 000 Mark Vorschuß auf die Haftentschädigung an. Mai 1986: Neun Monate nach dem Freispruch wird der Restbetrag von 35 000 Mark an Johann Lettenbauer (inzwischen 82) ausgezahlt. Über die Gesamtsumme hatte man erst mal verhandeln müssen, auf der Basis eines ofenfrischen Gesetzes aus dem Jahr 1898.

Juli 1967: Nach fast zweijährigem Prozessieren verzichtet das Land Baden-Württemberg auf Revision gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart; und so erhält Johann Lettenbauer (nun 83) 60 000 Mark Schmerzensgeld plus Zinsen. Das Land hatte sich zunächst vor die Beamten stellen müssen, die 1950 einen amtlichen Hinweis so leichtsinnig behandelt hatten, daß Ermittlungen unterblieben, die schon damals die Unschuld Johann Lettenbauers offenbart hätten.

Man muß nur dem Himmel vertrauen. Der wird doch einen alten Mann nicht ohne Rücksicht auf das Tempo wegsterben lassen, in dem der Staat für seine Irrtümer bezahlt.

Die Blindheit in der Sache Lettenbauer soll jetzt wiedergutgemacht werden durch Scharfsinn in der Sache Manfred Jung. Der stand als der vermutliche Täter vor dem Gericht in Kempten, als Lettenbauer 1965 freigesprochen wurde. Gegen den verhandelte die Jugendkammer des Landgerichts Kempten im Juni 1966 -- und sie sprach ihn frei.

Das Gericht sagte: Nach 19 Jahren können wir nicht mehr mit dem nötigen Grad von Gewißheit verurteilen. Die Jugendkammer hätte jedoch dieser Erkenntnis eine lückenlose Beweisaufnahme vorangehen lassen müssen. Die Revision der Staatsanwaltschaft hatte Erfolg. Die Jugendkammer habe -- unter anderem -- versäumt, den Richter und den Staatsanwalt zu hören, vor denen Manfred Jung ein später widerrufenes Geständnis abgelegt hatte.

So steht nun Manfred Jung, inzwischen 40, seit Mittwoch vergangener Woche erneut vor einer Jugendkammer, nur diesmal in Augsburg, wohin der BGH die Sache verwiesen hat, über deren nüchterner Beurteilung in Kempten offenbar Schatten lagen. Bis in den Oktober hinein wird man verhandeln, doch schon jetzt ist zu fragen, was wirklich auf dem Spiel steht,

19 Jahre alt war Manfred Jung, als er 1947 in die Bodenseegegend kam, auf dem Weg in die Schweiz, wo er Arbeit zu finden hoffte. Sein Wandergefährte war Wilhelm Schwall. Dieser Wilhelm Schwall erzählte später einem Dritten, der Jung sei ein gefährlicher Bursche, vor dem möge er sich in acht nehmen. Der sei ein Mörder. Der habe 1947 am Bodensee eine Frau und ein Kind erschlagen. Der Dritte ist es gewesen, der 1950 der Polizei an der Sieg den Hinweis auf ein Verbrechen in der Bodenseegegend zukommen ließ, für das der falsche Mann verurteilt worden sei. 1965 wiederholte er seinen Hinweis, der diesmal direkt bearbeitet und nicht in die Sackgasse Ravensburg weitergeleitet wurde.

Am 21. April 1965 wurde Manfred Jung, der als Busfahrer arbeitete, verhaftet und auf der Polizeistation Eitorf belehrt und verhört. Er bestritt zunächst. In einem zweiten Verhör jedoch gestand er, und er gestand später auch vor einem Richter. Er habe im Sommer 1947 die Maria Lettenbauer und ihren Sohn Arthur erschlagen. Das Motiv blieb dunkel. Alles sei aus einem Streit entstanden. Unklar blieb der Anlaß des Streits auch in dem Widerruf, mit dem Manfred Jung nach dem »Weißen Sonntag« 1965 aufwartete.

Er und Schwall hätten die Maria Lettenbauer eines Morgens im Sommer 1947 in Oberreitnau um Wasser zum Rasieren gebeten und sich vor dem abgelegenen Haus des Johann Lettenbauer gewaschen. Danach, als er die Wasserflasche ins Haus zurückbrachte, habe die junge Frau unversehens mit einem Messer vor ihm herumgefuchtelt und ihn schließlich mit einer Axt bedroht.

Mit ihr ringend, habe er ihr zunächst einen Schlag mit der Flasche, schließlich einen Stoß mit der Axt versetzt. Manfred Jung will sich nicht erinnern, daß Maria Lettenbader umfiel. Nach seiner Darstellung verließ er einfach das Haus und wartete auf Schwall, der ihm nach mehreren Minuten aus dem Haus folgte. Unterwegs habe ihm Schwall -- in die Schweiz zu gelangen war unmöglich, und sie hatten sich auf den Rückweg nach Westdeutschland gemacht -- später erzählt, er habe dem Kind »eine gedupt«.

Jung hält jetzt in Augsburg an dieser Darstellung fest. Die Tonbänder mit seinem Leugnen und seinem Geständnis von 1965 läßt er über sich ergehen, sie rauschen dahin, sind technisch nicht einwandfrei. 1965, im Wiederaufnahmeverfahren Lettenbauer, 1966 vor der Jugendkammer Kempten, war Jung ein harter Brocken. Mürrisch und aufbegehrend glich er einem, dem man das Zuschlagen zutraut. Nach dem Freispruch wurde er 1966 auf freien Fuß gesetzt. Im Februar 1967, nach Erfolg der Revision, verhaftete man ihn wieder.

Jung ist verheiratet, hat eine sympathische Frau, einen Sohn von elf Jahren. 1948 ging er in die Fremdenlegion. Er war Fallschirmjäger, wurde in Indochina ausgezeichnet und verwundet. Er hätte in der Legion seinen Namen ändern können, oder eine fingierte Todesnachricht nach Hause schicken, wie andere das getan haben.

Er tat das nicht, er fühlte sich nicht als Mörder, sagt er. »Hätte ich jemand umgebracht« -- er wäre in der Legion und später in Frankreich geblieben. Den Schwall, mit dem er korrespondierte, will er gefragt haben, ob noch etwas aus der Sache geworden sei. Denn das gibt er zu: Die Angst hat ihn verfolgt, es körne da doch etwas gewesen sein, nicht nur eine Verletzung der Frau (vom Kind will er überhaupt nichts gewußt haben). Schwall habe ihn beruhigt. Da sei nichts gekommen, denn da sei nichts gewesen.

Der Zeuge Schwall hat 1965 und 1966 nur wenige überzeugt. Er wirkte wie der Mann, der aufatmend die Rolle des Kronzeugen erwischt hat, der weiß, daß die Anklage ohne ihn barfuß im Regen steht. Nur gibt es den straffreien Kronzeugen bei uns nicht. Manfred Jung ist ein angeschlagener Brocken. Herr Schwall war bislang schwer zu greifen. Die Anklage in Augsburg hat aber auch einen neuen Zeugen. Einen Häftling, dem Manfred Jung in der U-Haft die Tat gestanden haben soll. Hoffentlich, er soll deswegen schon vereidigt sein, ist der Zeuge auch eidesfähig.

Da sind auch Richter und Staatsanwalt, vor denen Jung gestanden hat. Wie er heute sagt, in verzweifelter Stimmung, entschlossen Selbstmord zu begehen und darum willens, den Schwall zu schonen. Heute weist er auf Schwall, wenn es darum geht, daß Maria Lettenbauer und ihr Kind tot gefunden wurden. Der müsse wissen, was in dem Haus noch geschehen sei, nachdem er es verlassen habe. Er hat nur zwei Dinge zu verantworten: den Schlag mit der Flasche und den Stoß mit der Axt.

Zwischen den Nachkriegsjahren, in denen Manfred Jung an die Untat von Oberreitnau geriet, und seiner Gegenwart: die Fremdenlegion, Indochina, die Ehe und das Kind. Dazwischen auch die Sympathie, die Manfred Jung dort erwarb, wo er sich in Hausen (Siegkreis) ein Haus gebaut hat. Lügt er über den Ablauf 1947, so ist das der verzweifelte Versuch, zu bewahren, was er gewonnen hatte.

Er spricht nicht mehr unbefangen. Der Dialekt der Justiz hat seine Sprache zugerichtet, er spricht vom »Anwesen Lettenbauer« und vom »Tatort«. Es dringt nichts aus seinen Worten, was irgendein Gefühlsverhältnis zu dem spürbar machen könnte, worum es geht. Und wenn da ein Gefühl gewesen ist, dann ist es längst von etwas anderem erdrückt: Dieser Mann starrt nur noch auf die Tür. Wird sie sich schließen für ihn, wird sie sich öffnen: Darauf ist er fixiert. Er antwortet glatt, wie eingeübt, das ist die mühsam beherrschte Oberfläche über einer Panik: Freiheit -- oder für immer verloren.

Die Justiz sieht, verhandelt sie 20 Jahre nach der Tat, nicht gut aus. Verjährung, selbst für Mord, kam nicht aus Sentimentalität ins Gesetz, sondern weil die Wahrheitsfindung nach 20 Jahren (und genaugenommen schon viel früher) an eine Grenze gerät, an der sie zur Karikatur werden kann. Es geht gegen Manfred Jung nicht um die Befriedigung des selten ehrenwerten Bedürfnisses nach Gerechtigkeit. Es geht gegen Manfred Jung darum, ob hier nach 20 Jahren noch Erkenntnisse möglich sind, derer sich niemand schämen muß.

Manfred Jung hat, was auch immer 1947 vorging, tatsächlich vergessen. Von Verdrängung darf man bei einem Menschen seiner Art nicht sprechen. Er spricht von der ledigen Maria Lettenbauer taktvoll als Frau Lettenbauer. Er starrt auf die Tür, die sich öffnen oder zuschlagen wird. Die Gesellschaft, in deren Mitte dies vor sich geht, hat inzwischen einen Entlastungsangriff zu seinen Gunsten gefahren, vor dem ihn grauen, dessen er sich nicht als Stichwort bedienen sollte, wie am zweiten Tag des Prozesses, als er andeutet: Wenn nicht nach mir Schwall tödlich zuschlug -- warum dann nicht doch Lettenbauer.

In einem anonymen Brief an das Gericht halten es mehrere Einwohner und Bürger« für möglich, daß Johann Lettenbauer Vater seines Enkels Arthur war und eigenhändig die Tochter und das Kind tötete, um die Blutschande zu löschen. Was sind das nur für Leute, die da Gerechtigkeit begehren, anonym, in der Maske von »Einwohner und Bürger«? 110 000 Mark hat der Trottel Lettenbauer eingehandelt, da müssen diese Leute einfach an der Gerechtigkeit zweifeln.

20 Jahre nach dem Tod von Maria und Arthur Lettenbauer verhandelt die Justiz mit dem Rücken an der Wand. Ein Freispruch Manfred Jungs auch in Augsburg, mangels Beweisen, was Mord und wegen Verjährung, was Totschlag und andere Tatbestände angeht, käme nicht unbedingt einer Kapitulation gleich. Nach vollständiger Beweisaufnahme und mit sorgfältiger Begründung würde das Gericht mit einem Freispruch an der Grenze innehalten, über die hinaus zu operieren nur den Affekten, nicht aber der Gerechtigkeit dient.

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