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USA / SIRHAN-PROZESS Häufiger weinen

aus DER SPIEGEL 18/1969

Der Anwalt des Mörders zitierte den Ermordeten. »Wann immer einem Amerikaner das Leben genommen wird«, so hatte Robert F. Kennedy am 5. April 1968, dem Tag nach der Ermordung Martin Luther Kings, gesagt, »ob im Namen oder in Verachtung des Gesetzes -- es entwürdigt die ganze Nation.«

Drei Monate später, in der Nacht nach seinem Vorwahlsieg in Kalifornien, am Morgen vielleicht einer Karriere als US-Präsident, wurde ihm selber das Leben genommen -- durch acht Revolverschüsse des in Amerika lebenden Jordaniers Sirhan Bishara Sirhan, 25.

Am letzten Montag trat Rechtsanwalt Grant Cooper in der Mordstadt Los Angeles zum letztenmal vor die Sirhan-Jury und rief: »Ich beschwöre Sie, Sirhans Leben zu retten. Wenn der Senator hier wäre, er würde Ihnen gewiß etwas Ähnliches sagen.«

Schuldig hatten die sieben Männer und fünf Frauen auf der Geschworenenbank den schmächtigen Araber bereits gesprochen: Nach 63 Verhandlungstagen, nach der Vernehmung von 90 Zeugen, dem Studium von 154 Beweismitteln und einer Klausursitzung von 16 Stunden und 42 Minuten hatten sie am vorletzten Donnerstag auf Mord entschieden -- und nicht, wie die Verteidigung hoffte, auf Totschlag.

Nun ging es um das Strafmaß -- lebenslanges Zuchthaus (mit der Möglichkeit einer Begnadigung nach sieben Jahren) oder Tod in der Gaskammer des Zuchthauses von San Quentin.

»Wollen wir hier in Kalifornien kranke Menschen hinrichten?« fragte Coopers Kollege Russell E. Parsons die Jury.« Wollen wir dem Beispiel Hitlers folgen, der die Krüppel, die Lahmen und Kranken umbrachte?«

Zehn Psychiater und Psychologen, »die besten, die man finden konnte«, hätten Sirhan für bedingt zurechnungsfähig erklärt.« Das können Sie nicht einfach außer acht lassen, darüber können Sie sich nicht einfach hinwegsetzen!«

»Dieser Angeklagte wird es als einen Triumph empfinden, wenn er weiterleben darf«, drang jedoch Ankläger John E. Howard auf die Geschworenen ein. »Wenn Ermordung der Lohn für politische Mühe ist, dann werden wir unsere Kandidaten bald nur noch als zweidimensionale Bilder vom Fernsehen oder als Stimmen ohne Körper vom Radio kennen. Milde bei politischen Morden führt früher oder später zum Ende der Demokratie.«

So dachten auch die Geschworenen. Nach elf Stunden und 45 Minuten Beratung, in denen sie viermal untereinander abgestimmt hatten, gaben sie am Mittwoch um 11.35 Uhr Ortszeit ihr einstimmiges Votum bekannt: Tod in der Gaskammer.

Anwalt Cooper, dem noch nie ein Mandant zum Tode verurteilt worden war, weinte bei der Bekanntgabe des Geschworenen-Spruchs; Mörder Sirhan aber, im offenen blauen Hemd und schwarzer Hose, kaute unbeteiligt weiter auf seinem Kaugummi. »Selbst Christus hätte mich nicht retten können«, murmelte er und tröstete seine Verteidiger.

Doch der Spruch der Zwölf bedeutet für den Araber noch lange nicht den Tod.

Schon Richter Herbert V. Walker, der das Urteil am 14. Mai offiziell verkünden will, hat nach kalifornischem Recht die Möglichkeit, den Todesspruch in lebenslanges Zuchthaus umzuwandeln,

Das hat der 69jährige in seiner 16jährigen Karriere als Gerichtspräsident zwar erst in einem von 19 Fällen getan. Doch im Staat der Gewalt ist die Gewalt des Staates in den vergangenen Jahren immer sparsamer eingesetzt worden: 493 Amerikaner sitzen zwar in den Todeszellen amerikanischer Zuchthäuser, doch seit dem 2. Juni 1967 ist kein US-Bürger mehr hingerichtet worden.

Obendrein geht ein Todesurteil nach kalifornischem Recht automatisch an den Obersten Gerichtshof des Bundesstaates -- und sollte auch der dem Spruch der Geschworenen folgen, so wollen Sirhans Anwälte bis zum Obersten Gerichtshof der USA prozessieren. Der Weg durch Amerikas Gerichte könnte für den Kennedy-Mörder Sirhan dann ebensolange dauern wie einst für den angeblichen Trieb-Mörder Caryl Chessman, der in seiner Zelle zwölf Jahre lang -- vergebens -- gegen die Exekution kämpfte.

Chessman rückte dabei zum Bestseller-Autor auf, Sirhan ist schon heute ein Held -- bei den arabischen Guerillas. Die Palästinensische Befreiungsorganisation feiert ihn als Freiheitskämpfer, und die Kairoer Zeitung »Al-Gumhurija« schrieb: »Der wahre Mörder ist der Zionismus, die Mordwaffe wurde von der amerikanischen Gesellschaft für Verbrechen und Gewalt geführt.«

Dieser Gesellschaft drohte Sirhans Vater mit blutiger Rache. In dem von Israel besetzten jordanischen Städtchen Taibeh prophezeite er: »Die Amerikaner werden noch häufiger weinen, einmal, zweimal, dreimal, viermal.«

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