HESSEN Halb verschüttet
Anderthalb Stunden lang ließ sich der Wahlgewinner nicht blicken. »Wo ist der denn«, sorgte sich Hessens früherer FDP-Landesvorsitzender Ekkehard Gries, »der muß jetzt ran und endlich mal was sagen.«
Wolfgang Gerhardt, 39, der neue Parteichef, wartete auf Instruktionen aus Bonn. Erst als ihm sein Bundesvorsitzender Hans-Dietrich Genscher eingetrichtert hatte, wie er sich verhalten sollte, trat er in der Pose des Triumphators vor die Kameras.
Der farblose Freidemokrat, den bis dahin im Lande kaum einer gekannt hatte, spielte seine Rolle als »Genschers Zauberlehrling« (ein Liberaler) dann so vollendet, daß ihn der Meister wiederum beim Auftritt in der Bonner TV-Runde belobigte. Genscher: ein Mann mit »großen Führungsfähigkeiten«.
Die FDP hatte, überraschend für alle, bei den hessischen Landtagswahlen 7,6 Prozent der Stimmen bekommen (1982: 3,1) - und dennoch war sie auf der Strecke geblieben. Die Wende nach Bonner Muster blieb aus.
Der CDU-Mehrheitsbeschaffer hatte den großen Partner (1982: 45,6 Prozent) zu sehr ausgelaugt. Für Walter Wallmann reichte es nur noch zu 39,4 Prozent, dem schlechtesten Unions-Ergebnis seit 17 Jahren. »Der Wallmann hat ein Schneebrett losgetreten«, freute sich SPD-Regierungschef Holger Börner über die fruchtlose Leihstimmen-Aktion, »daraus ist eine Staublawine entstanden, und die hat die halbe CDU verschüttet.«
Was nach Auszählung der Stimmen sichtbar wurde, waren hessische Verhältnisse wie gehabt: Börners SPD, mit 46,2 Prozent erstmals seit 1970 wieder stärkste Partei, regiert weiter, wenn auch ohne ausreichende Mehrheit - mit 51 von 110 Parlamentssitzen. Die Grünen (5,9 Prozent) bleiben weiterhin außen vor. Börner will sie nicht, und sie wollen mit Börner nicht.
Klar ist bis jetzt nur: Börner bleibt laut hessischer Verfassung mit seinem SPD-Kabinett so lange als geschäftsführender Ministerpräsident im Amt, bis sich im Parlament eine Mehrheit für einen neuen Regierungschef findet. Doch die ist nirgendwo zu sehen.
Einig sind sich alle vier Parteien, daß den Bürgern ein erneuter Urnengang nicht zuzumuten ist. So scheint es, daß die hessischen Verhältnisse auf lange Sicht bestehenbleiben. Ein überzeugendes Regierungsmodell fiel keinem ein. Alfred Dregger, CDU-Fraktionschef im Bundestag, verwahrte sich gegen Empfehlungen von Strauß und Geißler, die von einer großen Koalition redeten. Hessens vormaliger CDU-Chef schlug als Notlösung, wenn schon, das ganz große Bündnis vor, mit SPD, CDU und FDP.
Unbeirrt und vom Wahlergebnis noch ermutigt, sieht nur einer auf lange Sicht einen Ausweg aus dem hessischen Dilemma: Der Sozialdemokrat Holger Börner kann es nicht lassen, über die Wiederbelebung einer Partnerschaft nachzudenken, die es seit letztem Jahr in Bonn und auch in Wiesbaden nicht mehr gibt - die Koalition mit den Liberalen.
Als die Hessen-FDP den Genossen im Juni 1982 die Gefolgschaft aufkündigte, hatte Börner darauf beharrt: »Wir müssen erst mal selbst wieder stark genug werden, damit die rüberkommen.«
Das erste Ziel hat er erreicht, nur der Partner hat sich gewandelt. SPD-Bundesratsministerin Vera Rüdiger über die FDP: »Das ist doch nur noch CDU-Verschnitt.«
Einige Stunden lang hatten die Sozialliberalen von einst am Wahlabend zwar geschwelgt, als gelte es, einen gemeinsam errungenen Sieg zu feiern. Kabinettschef Börner und sein früherer FDP-Innenminister Gries lagen sich in den Armen. Doch als der neue FDP-Mann Gerhardt vom Gespräch mit Genscher kam, rückte er die politischen Positionen wieder zurecht. Die Frage nach einer rechnerisch möglichen SPD/FDP-Koalition beantwortete er barsch mit »Nein«, das »würde eine Erschütterung derjenigen bedeuten, die uns gewählt haben«.
Tags darauf, beim FDP-Bundesvorstand in Bonn, erhielt der Landesvorsitzende zunächst ein Lob (Gerhardt: »Alle haben gesagt, mein Auftritt war prima") und dann weitere Instruktionen von Genscher: Auch nur die Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung sei auszuschließen, und das gelte für die gesamte Legislaturperiode von vier Jahren.
Die hessischen Parteigremien stützen den Bonner Kurs. Ekkehard Gries, der fünf Jahre Vorsitzender der Hessen-FDP war, ist im Landesvorstand der einzige Liberale von Rang, der »Schluß« machen will »mit der sturen Genscher-Doktrin«. Die Koalitionsaussage für die CDU dürfe »keine Fessel für die Zukunft sein, wir haben den Auftrag, liberale Politik zu entwickeln«. Dem Gerhardt-Vorgänger geht es vor allem darum, erst mal »einen Pflock in die starke Umarmungspolitik zu schlagen«. An der Basis, glaubt das FDP-Vorstandsmitglied, sei für seine Idee »was da«.
Nicht ohne Hintersinn erinnerte Ministerpräsident Börner letzte Woche an die drei FDP-Staatssekretäre, die er auch nach dem Bruch des Bündnisses in seinem Kabinett behalten hat. Bei dem ausgeprägten Hang der Freidemokraten zu Regierungsposten, so hofft ein SPD-Minister, »sind das für uns drei Geiseln«.
Liberale, die der SPD nach wie vor näher stehen als der CDU, geben einer neuen Umkehr keine Chance. Die ehemalige Landtagsabgeordnete Edith Strumpf aus Frankfurt, die von den FDP-Rechten abgeschoben worden war, befürchtet, »daß die Partei noch so ein Wechselbad nicht verkraftet«. Strumpf: »Die Schmerzgrenze ist erreicht.«