Zur Ausgabe
Artikel 15 / 86

Kirche Halbe Wahrheit

Für die katholische Kirche ist das Leben nicht so unantastbar, wie es die deutschen Bischöfe zur Zeit im Streit um den Paragraphen 218 behaupten.
aus DER SPIEGEL 11/1972

So feierlich und so oft wie kaum eine andere Glaubenswahrheit verkünden Deutschlands katholische Ober-Hirten gegenwärtig, menschliches Leben sei »unantastbar«. Und »alles andere, was da gefaselt worden ist«, schalt Paderborns Lorenz Kardinal Jaeger jüngst deutsche Journalisten, »ist eben rein, aus den Fingern gesogen«.

Die katholische Kirche, von der Spitze bis zu vielen Dorfgeistlichen, führt einen Feldzug gegen die Reform des Abtreibungs-Paragraphen 218, den die Bundesregierung mildern will. Das Zweite Vatikanische Konzil nannte die Abtreibung ein »verabscheuungswürdiges Verbrechen«. Radio Vatikan brandmarkte sie als »Menschenmord«.

Und wenige Tage nachdem das offiziöse Vatikanblatt »L'Osservatore Romano« die Bonner Reform-Pläne mit Hitlers Mord-Taten verglichen hatte (SPIEGEL 9/1972), holte Kölns Kardinal Höffner noch einmal zum kräftigen Nachschlag aus: »Abgeordnete, die nicht bereit sind, die Unantastbarkeit menschlichen Lebens, auch des Ungeborenen Kindes, zu gewährleisten, sind für einen gläubigen katholischen Christen nicht wählbar.«

Aber wenn die Bischöfe auf die absolute »Unantastbarkeit des menschlichen Lebens« pochen, verkünden sie nur die halbe Wahrheit. Denn in anderen Bereichen betrachten sie das Leben im Extremfall sehr wohl als antastbar. Nicht einmal in der Frage der Schwangerschaftsunterbrechung selbst hält die Kirche die »Unantastbarkeit des menschlichen Lebens« konsequent durch. Sie verbietet zwar, das ungeborene Kind »direkt« zu töten, nicht aber, es in bestimmten Fällen »indirekt« zu töten.

Ein Beispiel für diese Doppelmoral, von der Kirche »Handlung mit doppelter Wirkung« genannt: Ist das Leben einer Mutter durch eine Krebsgeschwulst am Gebärmutterhals während einer Schwangerschaft bedroht, so darf das Karzinom operativ entfernt werden. Die damit notwendig verbundene »indirekte Tötung« der Leibesfrucht gilt der Kirche als erlaubt, dem holländischen Moraltheologen Paul Sporken allerdings als »ethische Akrobatik«.

Ist das Leben der Mutter dagegen durch ein schweres chronisches Nierenleiden oder durch Brustkrebs bedroht, so ist die Abtreibung nach kirchlicher Lehre verboten, weil dann das Kind »direkt« getötet werden müßte.

Selbst das katholische »Lexikon für Theologie und Kirche« gibt zu, »daß der Satz von der Unerlaubtheit der Abtreibung auch in dem Fall, wo ihre Unterlassung den Tod der Mutter zur faktischen Folge hat, nicht zu den leicht durchschaubaren sittlichen Maximen für die durchschnittliche Vernunft gehört«.

»Lexikon«-Autor und österreichischer Jesuiten-Chef Johannes Pilz empfiehlt denn auch, falls Abtreibung das einzige Mittel zur Rettung der Mutter ist: »In solchen Fällen wird ein katholischer Arzt eine Mutter, die in dieser Frage bona fide (guten Glaubens) einer nichtkatholischen Auffassung ist, an einen Arzt ihrer Auffassung weisen dürfen.«

Auch der katholische Arzt, der sich im Gestrüpp der kirchlichen Lehren nicht mehr zurechtfindet und das Leben der Mutter und nicht des Kindes rettet, sündigt -- so Jesuit Pilz -- subjektiv nicht unbedingt schwer. Habe er ein gutes Gewissen, dürfe er glauben, »berechtigt, ja verpflichtet zu sein, das Leben der Mutter durch die Tötung des Kindes zu retten«.

Und sogar die Deutsche Bischofskonferenz gesteht zwar nicht dem katholischen Arzt, wohl aber dem Staat zu, im Fall der medizinischen Indikation (Lebensgefahr für die Mutter) »Schwangerschaftsabbruch strafrechtlich nicht zu verfolgen«.

Daß einzelne katholische Theologen noch weit mehr fordern, wollen die Bischöfe nicht wahrhaben. So verlangt der Münsteraner katholische Theologieprofessor Anton Antweiler, 71, von der Kirche sogar die Freigabe der Abtreibung, »wenn zu befürchten oder sogar gewiß ist, daß das kommende Kind ungewollt ist, daß es ungeliebt sein wird, daß es sich selbst zur Last sein wird, daß es andere belasten oder gefährden wird«.

Und gern übergehen die Bischöfe auch katholische Meinungsverschiedenheiten über den Zeitpunkt, wann menschliches Leben beginnt. Letztes Wort der deutschen Bischofskonferenz: »Menschliches Leben beginnt mit der Keimzellenverschmelzung, also im Augenblick der Empfängnis. Von diesem Tag an ist das Leben unantastbar.«

Anders der prominente Bonner Moraltheologe Franz Böckle: »Innerhalb der katholischen Theologie herrscht über den Beginn des spezifisch menschlichen Lebens keine einheitliche Meinung.

Bonns Böckle argumentiert, daß erst mit der Keim-Implantation (am 8. bis 12. Tag nach der Empfängnis) beziehungsweise mit Beginn der Gehirnbildung (um den 15. Tag nach der Empfängnis) individuelles menschliches Leben vorhanden ist. Nach diesem Zeitpunkt erst beginnt für Böckle die Abtreibung, vorher ist es für ihn Hemmung der Nidation (der Einnistung des Eies). Sie hält er im Konfliktfall ("zur Verhütung katastrophalen Elends") für erlaubt, weil es noch nicht um individuelles Leben geht.

Und das »Lexikon für Theologie und Kirche« räumt immerhin ein, daß bei einer Abtreibung vor dem Zeitpunkt der Einnistung kein Mord, jedoch »ein sittlich schwer verbotener Eingriff in die richtige Ordnung« vorliege.

Wie fragwürdig das bischöfliche Argument von der »Unantastbarkeit menschlichen Lebens« ist, erweist vollends die katholische Lehre vom »gerechten Krieg«.

Gewiß, die Kirche ist grundsätzlich gegen den Krieg. Einige ihrer Bischöfe und Theologen sind sogar gegen jeden Krieg. Aber daß die Kirche insgesamt den Krieg nicht überhaupt ächtet, ist ein Faktum.

Professor Johannes Stelzenberger erklärt in seinem zuletzt 1965 erschienenen »Lehrbuch der Moraltheologie": »Krieg als Waffengang mehrerer Staaten ist erlaubt, wenn er 1. von der rechtmäßigen Autorität erklärt, 2. aus gerechtem Grund und 3. in rechter Absicht unternommen wird.« Und die ebenfalls weitverbreitete »Katholische Moraltheologie« von Joseph Mausbach und Gustav Ermecke geht sogar noch weiter: »Die Verwendung von Atombomben ist nicht perse unsittlich.«

Die Katholiken, die den Kriegsdienst verweigern, belehrte Pius XII. im Jahre 1956, »daß ein katholischer Bürger sich nicht auf sein Gewissen berufen kann, um die Leistung der Dienste und die Erfüllung der durch Gesetz festgelegten Pflichten zu verweigern«. Und im Weihnachtsgottesdienst des Jahres 1966 betete New Yorks Kardinal Spellman in Vietnam, »daß wir bald den Sieg erringen werden«.

Dementsprechend Moralist Ermecke: »Die Berufung der absoluten Kriegsdienstverweigerer auf das 5. Gebot (Du sollst nicht töten) ... ist nicht durchschlagend.« Denn: Über dessen Sinn »entscheidet unter Leitung des Heiligen Geistes die Kirche, nicht der einzelne«.

Die Kirche urteilt in Theologie und Praxis über. Krieg anders als über Abtreibung, obwohl aus katholischer Sicht für eine beschränkte Legalisierung der Abtreibung ähnliche Gründe sprechen müßten wie für einen »gerechten Krieg«. Alle von der Kirche geforderten Voraussetzungen sind vorhanden: Der Staat als rechtmäßige Autorität will die Abtreibung regeln und sie nur aus gerechtem Grund und in rechter Absicht vornehmen. Und sie soll, wie das Töten im Krieg, nur als letzter Ausweg aus der Not gewählt werden.

Diese Notlagen allerdings gibt es nicht nur, wie es den Bischofen vorschwebt, bei körperlicher Lebensgefahr für die Mutter (der medizinischen Indikation). sondern genauso bei körperlichgeistigen Schäden des Kindes (eugenische Indikation), bei Vergewaltigung und ausweglosen Lebenssituationen (ethische und soziale Indikation).

Die Bischöfe erkennen jene schwerwiegenden Fälle nicht als Grund für eine Schwangerschaftsunterbrechung an, die nach der Bonner Gesetzesvorlage künftig straffrei bleiben sollen: weder die seelischen Belastungen einer Vergewaltigung, noch den sexuellen Mißbrauch eines widerstandsunfähigen Kindes, noch die künstliche Samenübertragung ohne Einwilligung der Frau, noch den sexuellen Mißbrauch eines Mädchens, noch die Gewißheit der Geburt körperlich oder seelisch verkrüppelter Kinder mit ihren Belastungen für sich und ihre Umwelt.

Mit diesem Rigorismus isolieren sich die katholischen Bischöfe auch von Teilen ihres Kirchenvolks. Wie das Infas-Institut letztes Jahr ermittelte, bejahen 70 Prozent der deutschen Katholiken die Abtreibung bei sozialer. 80 Prozent bei eugenischer und 81 Prozent bei ethischer Indikation.

Aber auch Theologen beginnen, mit ihren Bischöfen zu hadern: Professor Böckle, auf das Pillenverbot Pauls VI. anspielend: »Solange wir für die Familienplanung keine glaubhafte Antwort gefunden haben, ist es schwer, zum Problem der Abtreibung eine überzeugende Regelung vorzulegen.«

Zur Ausgabe
Artikel 15 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren