CHINA / ROTE GARDE Halt bei Grün
Durch Chinas Millionenstädte raste der rote Mob. Studenten, Oberschüler, Kinder stürmten zu Hunderten durch enge Laden-Gassen und über breite Boulevards, plünderten Geschäfte, stürzten Statuen, prügelten Passanten.
Rote Armbinden wiesen sie als Mitglieder der »Roten Garde« aus, der kaum drei Wochen alten Jugendorganisation des chinesischen Parteiapparats. Der Straßenterror war eine neue Phase der »Großen proletarischen Kulturrevolution«.
In ihrem Kampf gegen »Feudalismus, Kapitalismus und Revisionismus« schwangen die »roten Horden« (Radio Prag) Knüppel und Fäuste, brüllten den Namen des Parteichefs Mao Tse-tung und machten Jagd auf alles, was nicht revolutionärer Herkunft war:
Parfüm und Pomade, Spieluhren und Goldfischgläser, Särge und Sonnenbrillen wurden als westlich dekadente Produkte aus den Geschäften entfernt, Taxis stillgelegt.
Die roten Rocker forderten, die Schließung des Zoos ("Dort fressen schädliche Tiere Fleisch, das dem arbeitsamen Volk als Nahrung dienen könnte"), rissen hübschen China-Girls hochhackige Pumps von den Füßen, schnitten Damen die hautengen Hosen ab und verpaßten ihnen die blauen Overalls der Volkskommunen.
Selbst rote Verkehrsampeln konnten den Zug der jungen Jakobiner nicht aufhalten. Es gehe nicht an, so postulierten sie, daß Rot »Halt« gebiete. »Deshalb befehlen wir: Ab nun wird der Verkehr durch grünes Licht angehalten.«
Die gelbe Knüppelgarde bezog ihre Anweisungen von den linksradikalen Parteisekretären der KP, die Anfang August auf 'der ersten ZK-Tagung seit vier Jahren im parteiinternen Machtkampf von den Gemäßigteren überrundet worden waren (SPIEGEL 36/1966).
Die Antwort der extremen Linken war die Rote Garde. Als der greise Mao am 18. August seinen Kronprinzen Lin Piao vorstellte, standen die Rotgardisten bereits zu Zehntausenden unter den Zuschauern. Ein kleines Mädchen hüpfte auf die Rednertribüne und zeichnete Mao und Lin Piao durch rote Armbinden als Ehrengardisten aus.
Doch schon nach wenigen Tagen mußten die Ehrengardisten zur Kenntnis nehmen, daß die Ziele der radikalen Kulturrevolutionäre nicht die ihren waren. Die Linken wollten vielmehr eine Atmosphäre der Furcht schaffen, um so unter dem weiten Deckmantel
der Kulturrevolution doch noch ihr Programm forcieren zu können:
- Völlige Ausschaltung der vorwiegend aus Intellektuellen bestehenden Rechten,
- Beseitigung aller Ansätze einer
innenpolitischen Mäßigung,
- Verhinderung jeden Kontakts mit
dem Westen und
- endgültiger Bruch mit Moskau.
Das ZK hingegen hatte mit seiner Resolution vom 8. August die erste Etappe der Kulturrevolution - die Säuberung innerhalb der Partei - in geordnete Bahnen gewiesen.
Die 97 ZK-Mitglieder erkannten zwar: »Da der Widerstand recht stark ist, wird es ... auch Umkehrungen und sogar wiederholte Kehrtwendungen geben. Das ... hilft zu verstehen, daß der Weg der Revolution in einem Zickzack-Kurs verläuft.« Aber die gelben Genossen beschlossen dann auch:
- Die Rechten sind nur »eine kleine Handvoll«; sie sollen eine Chance erhalten, ihre Fehler wiedergutzumachen und »ein neues Leben anzufangen«.
Das ZK verkündete aber außerdem Grundsätze, die von regierenden Kommunisten noch nie zu hören waren: »Es ist unzulässig, eine Minderheit, die anderer Ansicht ist, mit Gewalt zum Nachgeben zu zwingen. Die Minderheit sollte geschützt werden, denn manchmal liegt bei ihr die Wahrheit.«
Und: »Wenn es eine Debatte gibt, sollte sie durch Argumente und nicht durch Zwang und Gewalt geführt werden.«
Die linksradikalen Säuberungs -Fanatiker jedoch verzichteten nicht auf Gewalt, obwohl das ZK deutlich gewarnt hatte: »Es ist nicht erlaubt, unter irgendwelchen Vorwänden die Massen oder die Studenten aufzuhetzen, gegeneinander zu kämpfen.«
Singend zogen dennoch aufgehetzte Rotgardisten vor die Sowjet-Botschaft, benannten die Straße um in »Straße des Kampfes gegen den Revisionismus« und blockierten dann, die Ausfahrten des Diplomaten-Gebäudes. Die DDR-Militärattaches Kautzsch und Müller wurden aus dem Auto gezerrt und verprügelt; Sowjet-Bürger wurden gezwungen, vor Mao- und Stalin-Porträts zu salutieren.
Moskau und Pankow protestierten energisch, und nachdem der Mob eine Woche lang gewütet hatte, griff Chinas Führung ein: Die große proletarische Kulturrevolution, so betonte das ZK -Organ »Jen Min Ich Pao« sei weiterhin das gemeinsame Ziel. Aber: »Gebraucht keine Gewalt, beschreitet friedlichere Wege!«
Das Staatsblatt: »Entlarvt und kritisiert die Dämonen und Ungeheuer - und bringt sie mit friedlichen Mitteln zu Fall. Dies ist der einzige Weg.«
Einen Tag nach dieser publizistischen Ermahnung und Vergatterung auf die Resolution vom 8. August pfiff das ZK selbst die Rote Garde zurück: Am vergangenen Montag beschloß die KP-Zentrale, den Rotgardisten »eine verantwortliche Führung« zu geben und »neue Arbeitsmethoden« anzuwenden.
Die Folge: Als marodierende Marschierer in Kanton die Fernsehstation angreifen wollten, wurden sie von bewaffneten Sicherheitstruppen zurückgeschlagen. In den Städten Tsinghai und Tschinan wurden Arbeiter-Hundertschaften gegen die roten Teenager aufgeboten, bei Zusammenstößen verlor das Jungvolk mindestens zwei Tote; Hunderte von Menschen wurden verletzt.
Und als am Montagnachmittag 200 000 Rotgardisten zu einer Drei-Tage-Kundgebung vor die Sowjet-Botschaft zogen, schützten einhundert Soldaten in doppelter Postenkette das Gebäude. Die Zahl der Demonstranten schwoll auf eine halbe Million an - aber die Rednertribüne war so aufgestellt, daß die Demonstranten der Residenz den Rükken kehren mußten.
Am Mittwoch forderten die Partei -Obersten Lin Piao und Tschou En-lai einen »Weg der Vernunft« statt der Gewalt der Straße. Ein der Roten Garde vorgesetztes Kontrollkomitee rügte die Mißachtung des ZK-Befehls.
Randalierer gab es nicht mehr, die Sowjets wurden nur noch akustisch belästigt - mit Gongs und Zimbeln.
Rotgardisten in Peking: Prügel für Genossen