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DDR / KERNENERGIE Halt zu unsicher

Mit Macht treibt Ost-Berlin den Ausbau der Kernenergie voran -- einstweilen noch unter Mißachtung der im Westen üblichen Sicherheitsstandards.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Helga Stötzer, DDR-Journalistin, verbreitete schlechte Nachrichten. Das Kernkraftwerk Rheinsberg, meldete die Reporterin der Frauenzeitschrift Für Dich«, habe den Stechlinsee aus dem biologischen Gleichgewicht gebracht.

Denn: »Immerhin entnimmt es ihm täglich 480 000 Kubikmeter Kühlwasser, das in gleicher Menge, nämlich eine Million Badewannen voll, um zehn Grad erwärmt zurückströmt.«

Der freimütige Illustrierten-Bericht steht im auffallenden Kontrast zu den öffentlichen Bekundungen der DDR-Oberen, wonach die ostdeutschen Nuklear-Antagen, allesamt sowjetischer Bauart, der Umwelt keinerlei Schäden zufügten. Was aber wohl auch künftig nicht in DDR-Blättern zu lesen sein wird, ist weitaus beunruhigender.

Eine Havarie der roten Meiler ·,Bruno Leuschner« bei Lubmin (880 Megawatt) und Rheinsberg (80 Megawatt) könnte, so fürchten westliche Wissenschaftler, katastrophale Folgen haben. Grund: Die Ost-Reaktoren sind sicherheitstechnisch derart mangelhaft ausgerüstet, daß sie beispielsweise in der Bundesrepublik gar nicht erst zum Bau zugelassen würden.

Nach einer Analyse der östlichen Fachpresse resümierte der Energie-Experte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Jochen Bethkenhagen: »Beim gegenwärtigen Stand der Technik können Unfälle größeren Ausmaßes nicht ausgeschlossen werden -- so gering ihre Wahrscheinlichkeit auch sein mag.«

So verzichten Sowjet-Union und DDR

* auf eine mit Stahl verstärkte Sicherheits-Druckhülle (containment), die nach einer Havarie den Austritt radioaktiver Gase, Nebel und Stäube in die Atmosphäre verhindert und den Reaktor vor abstürzenden Flugzeugen oder Beschuß schützt, ebenso wie

* auf eine ausreichende Notkühlung, die bei Störfällen den Reaktorkern vor dem Schmelzen zu bewahren hätte.

Schon 1973, als das Kernkraftwerk »Bruno Leuschner« errichtet wurde, hatten nordische Diplomaten in Ost-Berlin gegen das Fehlen dieser Sicherungen protestiert -- aus Furcht davor, nach einem Unfall könnten Teile Skandinaviens radioaktiv verseucht werden.

Die Demarche blieb freilich ohne Erfolg. Die Kernanlage, so die ausweichende Antwort aus Ost-Berlin, sichere die »volle Einhaltung der von der Internationalen Atomenergieagentur und anderen internationalen Gremien empfohlenen und in der DDR gesetzlich verankerten Strahlenschutzgrenzwerte«.

Finnland, wie die DDR Importeur von sowjetischen Kernkraftwerken. zog inzwischen Konsequenzen. Es ergänzte den Druckwasserreaktor Loviisa-1 um nahezu alle sicherheitstechnisch relevanten Bauteile von der druckfesten Hülle bis zum Notkülsystem. »Das Ganze«, so ein finnischer Diplomat in Bonn zum SPIEGEL, »war uns halt zu unsicher.«

DDR-Wissenschaftler ficht das nicht an. Sie halten die im Westen verbreitete Sicherheitsdoktrin, wonach auch der »Größte anzunehmende Unfall« beherrschbar sein muß, für übertrieben. Sollten Schäden überhaupt auftreten, würden sie, so versichern die Ost-Spezialisten, vom Bedienungspersonal schon rechtzeitig erkannt und behoben.

Der wahre Grund aber, warum die DDR-Energieplaner bislang auf aufwendige Sicherungen verzichteten, ist so einfach wie einleuchtend: Der westliche Drang, Reaktoren mit immer mehr Stahl und Beton einzuhüllen, um Katastrophen zu verhüten, ist ihnen schlichtweg zu teuer. Klaus Fuchs, einst Atomspion der Sowjets und jetzt Mitglied der DDR-Akademie der Wissenschaften: ein »ökonomisch nicht vertretbares Konzept«.

Die finanziellen Dimensionen waren 1974 offenbar geworden, als die westdeutsche Kraftwerk Union mit den Sowjets über den Bau zweier Kernkraftwerke bei Kaliningrad verhandelte. Ein Vergleich ergab: Nach russischen Sicherheitsrichtlinien hätte die Anlage ein rundes Drittel weniger gekostet.

Ob Ost-Berlin auch künftig auf Kosten der Sicherheit wird sparen können, erscheint allerdings ungewiß. Wenn erst, wie die SED plant, Atommeiler als Fernwärmequellen an der Peripherie von Ballungszentren und als Wärmelieferanten in der Großindustrie genutzt werden, halten selbst DDR-Spezialisten zusätzliche Vorkehrungen für erforderlich.

Dann nämlich müßten, offenbarte jüngst Ernst Adam, Reaktor-Sicherheitsexperte von der TU Dresden, die Kenntnisse »über eine Vielzahl von Unfallabläufen« und die Wirksamkeit von Notkühleinrichtungen noch »beachtlich bereichert werden«.

Adam und seine Forscher müssen sich sputen mit ihren Tests. Denn die DDR treibt den Ausbau der Atomwirtschaft energisch voran. Das dritte Kraftwerk nach Rheinsberg und Lubmin wird derzeit bei Stendal errichtet, weitere sind geplant. Allein bis 1980 sollen zehn Prozent des gesamten Stroms der DDR von Reaktoren erzeugt werden -- doppelt soviel wie Ende 1977.

Die Hektik der Funktionäre ist verständlich. Noch immer herrscht, besonders in den Spitzenzeiten der Wintermonate, Strommangel. Die DDR-Bürger bekommen das zu spüren, wenn zum Beispiel die Straßenbeleuchtungen abgeschaltet werden.

Zudem verschlechtert sich die Heizqualität des Hauptenergieträgers Ostdeutschlands, der Braunkohle, von Jahr zu Jahr. Und in absehbarer Zeit werden deren Vorkommen auch abgeräumt sein.

Drastische Sparmaßnahmen sollen nun dazu beitragen, die Durststrecke bis zum Atomstaat zu überbrücken. Die SED-Regenten beschlossen,

* den Preis für Industriestrom zu erhöhen,

* die Betriebe zu zwingen, über ihren Verbrauch Rechenschaft abzulegen, und

* die Ortsverwaltungen zu strenger Obacht anzuhalten, daß die vorgeschriebene Raumtemperatur in Wohnungen, Büros und Werkhallen nicht überschritten wird.

Energiewissenschaftler Hans Pundt von der TU Dresden hat noch einen weiteren Verschwender ausgemacht. In der Stromindustrie, so forderte er, müßten wieder zwei Prinzipien herrschen: »Sauberkeit und Disziplin«.

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