Geiselnahme Han en Knarr
Moritz Gobbert, 20, schritt im Gasthaus »Bernkasteler Hof« zur Theke, zeigte der Wirtin einen Gastrommelrevolver und fragte nach Gastwirt Peter Könen: »Eich schieß' de Pit kaputt ... guck hei, eich han en Knarr.« Wirtin Konen griff zum Telephon: »Ich hol' die Polizei.« Gobbert: »Mach dat ruhig.«
Als wenig später Martinshörner schrillten, stürmte Gobbert durch Thyrsus- und Ambrosiusstraße zur nahen Theodor-Heuss-Schule und dort direkt in die Klasse 7 b im zweiten Stock: »Es is ernst ...«
Der Revolvermann nahm die Lehrerin Marianne Steinbach, 42« in seine Gewalt; die 35 Kinder ließ er heraus. Erst als sich Gobberts herbeigerufene Mutter ins Klassenzimmer schob und die draußen wartende Polizei bei den Verhandlungen unterstützte, gab der 20jährige -- nach 20 Minuten -- auf.
Es war die zweite Geiselnahme in einer Woche in Trier: ein -- so der Frankfurter Kriminologe Professor Friedrich Geerds -- »Anschlußverbrechen einer bereits kriminogenen Persönlichkeit« nach der spektakulären Erpresser-Aktion in einem Trierer Waffengeschäft (SPIEGEL 50/1972).
Nachahmungstaten, ob Bombendrohung oder Freitod mit E 605. sind nicht ungewöhnlich. Und den zweiten Trierer Geisel-Fall stufte die Kripo als »harmlos« ein -- weitaus unkomplizierter als die Aktion vier Tage zuvor, die Kriminalexperten und Polizeitaktiker noch immer beschäftigt. Denn ob künftig Geiselnahme und Geiselbefreiung, Einsatz der Polizei und Festnahme der Täter noch so vonstatten gehen können wie letzthin an der Porta Nigra, steht dahin.
Anders als in München, Prinzregentenstraße, wo Bankräuber und Geisel erschossen wurden, anders als im saarländischen Baltersweiler, wo ein Polizist den Geiselnehmer Vicenik niederschoß, verlief die Trierer Befreiungsaktion nahezu unblutig. Der Mainzer Innenminister Heinz Schwarz hatte den Erpressern Harald Ehrig und Alphonse Follscheid nach fast 24stündiger Verhandlung ein Fluchtauto (TR-LC 13) gewährt und per Ehrenwort freien Abzug mit einem Fluchtvorsprung von einer Stunde versprochen. Bereitwillig ließen sie deshalb ihre Geisel. den Reporter Horst Reber, noch am Tatort frei.
Um 15.33 Uhr starteten die beiden Erpresser. Noch ehe, von da an gerechnet, die Stundenfrist verstrichen war, waren sie gefaßt: Follscheid um 16.25 Uhr, Ehrig um 16.29 Uhr. »Die Abreden«, meint Kriminologe Geerds, »müssen auch außerhalb der Legalität fair eingehalten werden, aber die Polizei muß halt immer noch einen Happ schlauer sein.«
Schlau hatte Innenminister Schwarz im Grenzraum zu Luxemburg Bundesgrenzschutz (BGS) ausziehen lassen ("Vom BGS war in meinem Ehrenwort nicht die Rede"); Trupps des Landesfahndungskommandos hatten sich in neutralen Wagen an den Ausfallstraßen der Stadt postiert; im Fond des Fluchtautos war ein Sender verborgen, der Peilfahrzeugen Positionsmeldungen gab.
Zudem begann »die Stunde der Nicht-Verfolgung« (Schwarz) für manche der Verfolger schon vor dem Start des Täter-Wagens um 15.33 Uhr -- für den Kriminalrat Egon Weber vom Landesfahndungskommando zum Beispiel schon gegen 15 Uhr, als der Nicht-Verfolgungs-Befehl per Fernschreiber an alle Polizeidienststellen des Landes ging. Für Weber hatte mithin »die Uhr schon seit drei Uhr getickt, denn ich mußte mir für mein Eingreifen vor halb fünf eine Hilfskonstruktion geben«. Triers Kripo-Chef Arnold Adams beorderte seine Fahndungswagen aus dem Süden der Stadt hoch nach Norden, als die Fahrtrichtung von »TR-LC 13« zu erkennen war. Adams augenzwinkernd hinterher: »Eine Verfolgung expressis verbis hat zunächst nicht stattgefunden, aber wir haben Positionen neu besetzt.«
Darüber, ob derlei Taktik (Weber: »Bluff ist immer dabei") auf lange Sicht angebracht ist, gehen die Experten-Meinungen freilich auseinander. Für Horst Herold. den Präsidenten des Bundeskriminalamts' würde »das Raubrittertum neu akzeptiert und institutionalisiert, wenn Begriffe wie »freies Geleit' oder »Ehrenwort' im Umgang mit Geiselnehmern einen ethischen Inhalt bekämen und die Qualität von moralischen Normen erhielten«.
»Die Polizei ist keine Kinderbewahranstalt«, findet auch Professor Geerds. Er würde »zusehen, daß ein Vermittler« wie der Trierer Medizinaldirektor Günther Hoffmann -- »einigermaßen fair operiert, was selbstverständlich nicht ausschließt, daß die Polizei einen solchen Vermittler leimen kann«. Denn: »Juristisch gesehen sind Vereinbarungen mit Geiselnehmern null und nichtig«. Geerds rät, »nach Lage des Einzelfalls zu taktieren« und zur Vorsicht: »Man darf nicht so dumm sein und denen gleich einen nicht geforderten Panzerwagen geben wie in Köln.«
Geerds-Kollege Armand Mergen (Mainz) vergleicht Absprachen zwischen Geiselnehmern und Polizei mit einem Schach-Spiel. »wo man die Regeln beachten muß, Zug um Zug: wenn ein Partner falschspielt, spielt auch der andere falsch«. Mergen warnt: »Wenn ich die an der Nase rumführe« dann verhandeln die bald gar nicht mehr.«
In der Tat dürften sich die Risiken bei Geiselnahmen noch vergrößern, wenn Minister wie Polizei den Tätern in jedem Falle und von vornherein unglaubwürdig erscheinen: Der Spielraum für Kompromisse wäre durch Mißtrauen geschmälert; clevere Geiselnehmer könnten ihr Risiko auf Kosten der Geisel zu verringern suchen.
Schon die Albrecht-Entführer schrieben 1971 voller Argwohn an Bischof Hengsbach, ihren Vermittler, zu dem Angebot »freien Geleits": »Die Polizei hat eine solche Zusage noch nie eingehalten. Es ist nur ein beliebter Fangtrick.«
Der rheinland-pfälzische Innenminister ahnt schon, daß Tricks à la Trier nicht den Erfolg garantieren. Schwarz: »Diese Methode ist jetzt wahrscheinlich vertan, man muß sich was Neues einfallen lassen.«