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ERZIEHUNG Handfester Krimi

Eine ungewöhnliche Kunstunterrichts-Stunde alarmierte in Hessen die Polizei. *
aus DER SPIEGEL 47/1985

Für den Gießener Goldschmiedemeister Werner Eckardt, 55, war sein Juwelierladen in der Walltorstraße ein unsicheres Geschäft geworden. Mehrere Einbrüche hatten ihn, nervlich wie finanziell, derart strapaziert, daß er entmutigt aufgab.

Doch mitten im Räumungsverkauf, am Freitagmorgen vorletzter Woche, passierte es wieder: Der Juwelier sah bewaffnete Gestalten auf seinen Laden zukommen. Einige drohten ihm, beobachtete Meister Eckardt, und einer zog sogar seine Pistole. Der Goldschmied stürzte zum Telephon und rief die Polizei: »Vor meinem Geschäft steht eine Horde von bewaffneten Jugendlichen, die werden mich gleich überfallen.« Die Beamten in der Zentrale, nach einem Bankraub in der Frühe in erhöhter Alarmbereitschaft, schickten drei Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn zum Tatort.

Dort trafen die Uniformierten eine Tätergruppe an, die in kein polizeiliches Raster paßte. »Is gar nichts, ätsch«, höhnten die Jugendlichen, legten ihre Munitionsgurte ab, die sie kreuzweise über die Brust gebunden hatten. Ohne Widerstand übergaben sie ihre Waffen - eine Schreckschußpistole und leere Patronenhülsen.

Die aufgegriffenen Jungen und Mädchen hatten von vornherein keinen Überfall geplant, sie wollten den Juwelier auch nicht durch Räuber-und-Gendarm-Spiel erschrecken. Was in Gießen

ablief, war praxisnaher Schulunterricht, wie er selbst durch die weitgehenden hessischen Rahmenrichtlinien nicht gedeckt ist.

Das Spektakel hatte eine 27jährige Referendarin der Gießener Ricarda-Huch-Schule inszeniert, die Kunstunterricht »lebendiger gestalten« wollte.

In einem Kurs der Jahrgangsstufe 11 unter dem Arbeitstitel »Kunst/Visuelle Kommunikation« begeisterte die angehende Lehrerin die 16- und 17jährigen durch moderne Stilmittel: Collagen, Photographie und - fast wie im Kino - ein Drehbuch für ein Action-Stück.

Das Thema hatte einen sozialkritischen Hintergrund: Es sollten, so lautete die Aufgabenstellung der Referendarin, »Vorurteile gegen Randgruppen« dargestellt und damit auch abgebaut werden. Nach Außenseitern wie Motorradfahrern und Fußballfans war zum Schluß ein Punker die Hauptfigur, der fälschlicherweise verdächtigt wird, eine Rentnerin beraubt zu haben.

Die »christlichen Motive«, um die es der Referendarin angeblich ging, fanden Ausdruck in einem handfesten Krimi. Szene eins: In einer Bank hebt eine Rentnerin Geld ab, dabei wird sie von einem Mann beobachtet.

Als in der Filiale der Dresdner Bank, gegenüber vom Juweliergeschäft, eine Schülerin sich das Kopftuch umbindet, ein Schüler sie auffällig unauffällig beobachtet und ein Dritter auch noch auf den Auslöser seiner Kamera drückt, schaltet ein Angestellter erschrocken die Videokamera ein. Filialleiter Manfred Kratz, der auch nicht wußte, was da ablief: »Manchmal kommen Jugendliche rein und pöbeln, aber das war keine banale Sache mehr.«

Szene zwei der Photoserie: Der Täter folgt der Rentnerin bis zum dunklen Hauseingang, zieht seine Pistole und nimmt ihr unerkannt das Geld ab. Punker, die sich in der Nähe wild gebärden, werden verdächtigt. Juwelier Eckardt, neben dessen Laden der zweite Akt dann abläuft, fühlt sich bedroht und alarmiert die Polizei.

Gegen die Referendarin ("Ich war wohl etwas blauäugig") hat die Schulbehörde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der Pädagogin wird vorgeworfen, sie habe die Außenaufnahmen bei der Schulleitung nicht angemeldet, die Bankfiliale und den Juwelier nicht eingeweiht und, statt vor Ort Regie zu führen, mit einigen Schülern in einer Kneipe gesessen. Direktor Klaus-Jürgen Bernard: »Geradezu dilettantisch und geradezu gefährlich.«

Gegen Exkursionen etwa »in den Botanischen Garten, wo einer mal in einen Kaktus fallen kann«, hat der Schulleiter nichts einzuwenden. Aber eine Kunststunde mit simulierten Raubüberfällen geht ihm zu weit. »Was«, fragt Direktor Bernard, »hätte nicht alles passieren können, wenn der Juwelier eine Pistole in der Schublade gehabt hätte?«

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