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NS-VERBRECHEN / EUTHANASIE Handvoll Asche

aus DER SPIEGEL 8/1964

Genau 30 Minuten nach 7 Uhr schabte

ihm der Rasier-Kalfaktor die Stoppeln vom gelbbraunen Gesicht.

Der Häftling war ruhig. Punkt 9 Uhr gab ihm der Anstaltssanitäter Merdes die verordneten Beruhigungstabletten - aufgelöst, wie vorgeschrieben. Der Gefangene machte konventionelle Bemerkungen, bat um ein Bad und um eine Unterredung beim Direktor.

Zehn Minuten später, um 9.10 Uhr, fand ihn der aufsichthabende Hauptwachtmeister Diebel an der Heizung hängend, den Unterkörper flach auf dem Zellenboden, stranguliert. Gegen Mittag wurden die Wiederbelebungsversuche eingestellt.

Professor Dr. Werner Heyde, beschuldigt, als Chef der NS-Euthanasie über 100 000 Menschen - »heimtückisch und mit Überlegung« - getötet zu haben, hatte selbst den Tod gewählt. Das war am vorigen Donnerstag im Zuchthaus Butzbach bei Frankfurt am Main.

Im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Limburg, wo am Dienstag dieser Woche der größte Euthanasie-Prozeß der Historie beginnen sollte und der keine acht Kilometer von jener Irrenanstalt Hadamar entfernt ist, in der die Sterbehelfer einst ihre Öfen beschickten, fehlt nun auf der Anklagebank der Mann, der während der entscheidenden Zeit Leiter der »Gnaden«-Aktion und von Anfang an ihr wissenschaftlicher Exponent war.

Es fehlen aber auch die Chargen. Einen Tag vor dem Abgang Heydes war der zweite Angeklagte, Friedrich Tillmann, ehedem Büroleiter der Euthanasie-Zentrale, in Köln aus dem Fenster eines Bürohauses gefallen. Die Jacke des Toten stellte die Kriminalpolizei acht Stockwerke höher auf einer Herrentoilette sicher.

Sieben Monate zuvor, am 26. Juli 1963, hatte sich der dritte Angeklagte, Dr. Gerhard Bohne, vor Heyde kurzfristig Leiter der Euthanasie-Aktion, zur plötzlichen Emigration nach Südamerika entschlossen.

Wenn der Euthanasie-Prozeß in dieser Woche beginnt, so muß er sich auf eine Randfigur beschränken. Der ehemalige Oberregierungsrat Hans Hefelmann aus München bearbeitete in der sogenannten Kanzlei des Führers an Adolf Hitler gerichtete Gesuche auf Gnadentod. Er hätte zwar ständigen dienstlichen Kontakt mit Heydes Vertilgungsapparat, er hat ihn aber weder aufgebaut noch gar selbst unmittelbar bedient.

Hessens Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im ersten Schock nach der Meldung aus Butzbach über Heydes Selbstmord: »Es besteht der Verdacht einer stillschweigenden Übereinkunft der Beteiligten, diesen Prozeß nicht stattfinden zu lassen.«

Dieser Prozeß war nach dem Willen des hessischen Generalstaatsanwalts, der einst Häftling eines KZ in Süddeutschland war, als die größte öffentliche Abrechnung bundesdeutscher Justiz mit dem NS-Regime angelegt. Zusammen mit dem ebenfalls von Bauer vorbereiteten Auschwitz-Prozeß sollte der Euthanasie-Prozeß als deutsches Gegenstück zu den alliierten Kriegsverbrecher-Tribunalen von Nürnberg und dem israelischen Eichmann-Verfahren in die Geschichte eingehen.

Sieben Monate waren für die Verhandlung vorgesehen; 84 000 Seiten Gerichtsprotokolle, NS-Akten und Zeugenaussagen zusammengestellt. Umsonst.

Professor Dr. Werner Heyde war seit Monaten entschlossen, die ihm von der Strafverfolgungsbehörde zugedachte Rolle nicht zu übernehmen. Daß Heyde bereit war zu fliehen, leugnete sein Anwalt Rudolf Schindler gegenüber Vertrauten nicht. Mehrfach beteuerte er, daß Heyde an die Flucht in den Tod dachte.

Generalstaatsanwalt Bauer fürchtete Ähnliches. Fast krampfhaft war er seit Bohnes Flucht bemüht gewesen sich den Hauptangeklagten zu erhalten.

Vergangenen Herbst wurde Heyde aus dem Untersuchungsgefängnis Limburg plötzlich nach Butzbach verlegt. Die Sicherungen wurden verschärft. Begründung: Heyde habe fliehen wollen.

In den letzten Wochen ließ Generalstaatsanwalt Bauer den Euthanasie -Professor besonders beobachten, um Selbstmord auszuschließen. Heyde erhielt Tabletten nur noch in Pulverform, nachdem er in Limburg die ihm zugeteilten Tabletten gehortet hatte; er mußte sein Eßbesteck nach jedem Gebrauch abgeben.

Der Professor aber erstach sich weder, noch vergiftete er sich mit ärarischen Tabletten. Butzbachs Anstaltsleiter Johanns: »Den Gürtel mußten wir ihm lassen, da er keine Hosenträger trug.«

Weil Heyde starb, wird wahrscheinlich niemals vor einem deutschen Tribunal historisch gültig bewiesen werden,

- daß Hitlers Gnadentod-Aktion krimineller Massenmord war, der nichts mit dem zu schaffen hat, was Mediziner, Philosophen und Theologen aller Zeiten und aller Nationen unter »Euthanasie« verstanden haben und, zum Teil, noch heute praktiziert wissen wollen.

Euthanasie ist kein Begriff aus dem Unmenschlichkeitsvokabular des Dritten Reiches. Das griechische Wort bedeutet ursprünglich: leichter, schöner Tod. Die Hellenen meinten damit die Kunst, in Ruhe und Würde zu sterben. Spätere Zeiten verstanden aber dann darunter auch die Hilfe zu einem solchen leichten Tod.

Die Samariter-Aufgabe fiel in erster Linie den Ärzten zu. Sie verabreichen schmerzlindernde und betäubende Mittel selbst auf die Gefahr hin, damit auch das Leben vorzeitig zu beenden. Solche unmittelbare Todes-Erleichterung wird von der Rechtsordnung stillschweigend toleriert, von den Kirchen jedenfalls nicht beanstandet.

Freilich, eine genaue Beschreibung der hauchdünnen Grenze, bei der die gerade noch erlaubte »Hilfe beim Sterben« aufhört und die - strafrechtlich relevante - »Hilfe zum Sterben«, die Tötung, beginnt, fehlt seit jeher. Gemeinhin gilt, daß strafbar sei, die natürliche Todesursache durch eine andere, künstliche, zu ersetzen.

Es war und ist den Ärzten mithin verboten, lang dauernde schmerzhafte Endzustände, bei Krebs beispielsweise, durch überdosierte Spritzen abzukürzen: Im Zweifelsfall sollte die Lebenserhaltung stets vor der Schmerzlinderung rangieren. Das gleiche gilt bis heute für die »Tötung aus Mitleid«, die etwa ein Soldat an seinem Kameraden, ein Mann an seiner schwer leidenden Frau begeht.

Und es gilt sogar dann, wenn der Verwundete oder die Kranke nach Erlösung schreit. Die sogenannte Tötung auf Verlangen ist lediglich mit geringerer Strafe bedroht, keineswegs aber straflos**.

Gegen diese Regelungen wurde, in aller Stille, immer und überall verstoßen. Ärzte und Laien wandten sich - gerade auch deshalb - gegen das Prinzip der Lebenserhaltung unter allen Umständen. Der Grundsatz sei unmenschlich, unlogisch (da Selbstmord ja straflos sei), er verstoße gegen die Souveränität des Individuums. Sie fanden Unterstützung in der Literatur und in der öffentlichen Meinung. Ausländische Schwurgerichte ließen mehrfach Fälle von Human-Euthanasie straflos.

In Deutschland plädierte noch vor dem Ersten Weltkrieg der Oberlandesgerichtsrat von Wilutzky für rechtliche Anerkennung der Menschlichkeit gegenüber den Gequälten. Unter der später zum Slogan gewordenen Überschrift: »Dem Hunde einen Gnadenstoß, dem Menschen keinen« schrieb er: »Aber das eine weiß ich genau, daß es eine fürchterliche Grausamkeit ist, die nutzlosen Todesqualen eines Menschen geflissentlich zu verlängern.«

Indes, obschon die Befürworter einer erweiterten - streng umschriebenen

Human-Euthanasie gerade unter der Intelligenz im ersten Drittel des Jahrhunderts überwogen, vermochte sich der Gesetzgeber zu keinerlei Zugeständnis durchzuringen. In vorderster Linie der Euthanasie-Gegner standen die Theologen.

Sie verwiesen entweder einfach auf das Fünfte Gebot und die, Heiligkeit des Lebens. Oder sie sprachen - komplizierter - von der Segenswirkung des Leidens und von der Läuterung durch den Schmerz.

Säkular wurde angeführt, es sei nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen, daß ein nach menschlichem Wissen dem Tode Verfallener durch ein neues Medikament oder eine neue Therapie doch noch gerettet werden könne. Im übrigen würde jede, auch die genau definierte Freigabe der Euthanasie ständig zum Mißbrauch herausfordern.

Dieser letzte Gesichtspunkt war der triftigste, wie sich unter nationalsozialistischer Herrschaft dann erweisen sollte. Dennoch: Die sogenannte Euthanasie-Aktion Hitlers zwischen 1939 und 1941 hat im Grunde mit dem, was ernsthaft als Euthanasie diskutiert wurde,

lediglich die Bezeichnung gemeinsam. Die klassischen Begründungen für eine Erweiterung der Euthanasie, Begriffe wie Humanität oder gar Mitleid, waren Adolf Hitler fremd.

Schon in »Mein Kampf« hatte er doziert: »Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität zerbrechen wird, um an seine Stelle die Humanität der Natur treten zu lassen, die die Schwäche vernichtet, um der Stärke den Platz zu schenken.«

Daran hielt er fest. Die Rolle der vernichtenden Natur gedachte er selbst zu übernehmen. Ab 1933 bereitete die nationalsozialistische Propaganda die Nation darauf vor, daß die Gesellschaft nicht länger »Hüterin des Minderwertigen, Kranken, Verkrüppelten, Verbrecherischen und Verfaulten« (NS-Partei-Ideologe Rosenberg) spielen werde.

In den Schulbüchern fanden sich plötzlich Rechenaufgaben wie diese: »Der Bau einer Irrenanstalt erforderte 6 Millionen Reichsmark. Wie viele Siedlungshäuser zu je 15 000 Reichsmark hätte man dafür bauen können?« Oder: »Ein Geisteskranker kostet täglich 4,-RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM. In wie vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4,- RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2, RM auf den Kopf der Familie? Stelle diese Zahlen bildlich dar.«

Den so brutal angekündigten Kampf gegen die »Minderwertigen« nahm die Reichsführung alsbald Schritt für Schritt auf:

- Das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« vom 14. Juli 1933 hielt sich gerade noch im Rahmen dessen, was deutsche Eugeniker, Biologen und Ärzte schon früher gefordert hatten; es brachte die Zwangssterilisierung für vererblich Schwerkranke.

- Das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« und das zwei Jahre später erlassene »Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes« boten bereits die Grundlage zur Vernichtung einer Menschengruppe; die Juden hörten auf, als Rechtspersonen zu existieren.

Mit dem Töten selbst fing das Regime drei Jahre später an, 1938. Die Eltern eines geistig schwer gestörten, in der Leipziger Universitäts-Kinderklinik liegenden Krüppels hatten den Führer um den Gnadentod für ihr Kind gebeten. Hitler setzte seinen Leibarzt, Professor Brandt, nach Leipzig in Marsch. Klinikchef Professor Catel und Brandt hielten ein Konsilium. Ergebnis: Das Kind wurde eingeschläfert.

Um analoge Fälle einheitlich zu regeln, wurde über Runderlaß des Innenministers der »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb - und anlagebedingten schweren Leiden« gegründet, der in Berlin - »Postfach 101« - eine zentrale Meldestelle installierte. Sämtliche Kliniken, Krankenhäuser und Hebammen - wurden verpflichtet, Neugeborene und Kleinstkinder mit Mißbildungen und geistigen Unterentwicklungen zu melden.

Der »Reichsausschuß« war in Wirklichkeit ein Gutachter-Gremium, dem die Professoren Catel, Leipzig, und Heinze, Brandenburg-Görden, sowie der Kinderarzt Dr. Wentzler angehörten. Für die Kinder, die nach Auffassung der Gutachter von ihrem Zustande erlöst werden sollten, wurde eine »Gnadentod -Ermächtigung« ausgestellt, die in speziell eingerichteten Fachabteilungen verschiedener Anstalten vollstreckt werden konnte.

Soweit bis heute nachgewiesen, hielt sich dieser »Reichsausschuß«, der bis 1945 amtierte, an die ursprünglich gesetzten Grenzen: Getötet wurden nur idiotische oder sonst schwer mißgebildete Kinder. Ihre Zahl läßt sich nicht exakt feststellen. Sie war aber verschwindend gering gegenüber den Tötungsziffern der uferlosen Aktion, die Hitler im Herbst 1939 auslöste.

Am Anfang stand ein formloses Schreiben, dem der Reichsminister Lammers später vor den Nürnberger Richtern den Gesetzes-Charakter absprach, an dessen Rechtsgültigkeit aber zu Hitlers Lebzeiten weder ein Minister noch ein deutscher Jurist laut zweifelte:

Reichsleiter Bouhler und Dr med. Brandt

sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Arzte so zu erweitern, daß noch menschlichen Ermessen unheilbaren Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewahrt werden kann gez. Adolf Hitler

Das Dokument wurde im Oktober unterschrieben - und rückdatiert auf den 1. September, den Kriegsbeginn.

Bouhler, Chef der »Kanzlei des Führers« (KdF), und Brandt, der als Jungarzt mit seiner Braut dem Führer vorgestellt wurde und ihn seither ständig begleitete, hatten die Vorbereitungen schon vorher eingeleitet.

Obschon Hitlers »Ermächtigung« sich auf »unheilbar Kranke« schlechthin bezog, sollte mit den Geisteskranken begonnen werden, die in Anstalten und deshalb leichter und mit weniger Aufsehen zu erfassen waren.

Die Aktion lief so reibungslos an wie die Mobilmachung der deutschen Wehrmacht. Es folgten nacheinander:

- die Gründung der »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«, deren ausgewählte Ärzte später über Leben und Tod entscheiden sollten;

- ein Runderlaß des Reichsinnenministeriums an die Heil- und Pflegeanstalten, in dem den Ärzten die Ausfüllung von Meldebogen zur Auflage gemacht wurde - »im Hinblick auf die Notwendigkeit planwirtschaftlicher Erfassung«;

- die Gründung einer »Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege«, die

das Tötungsprogramm zu finanzieren hatte;

- die Eintragung einer »Gemeinnützigen Krankentransport-Gesellschaft GmbH« ("Gekrat") ins Berliner Handelsregister; die Gekrat sollte mit eigenen Omnibus-Staffeln die Kranken zu den Tötungsorten karren. Die kunstvolle organisatorische Aufspaltung diente nach Absicht Bouhlers und seines Stellvertreters Viktor Brack dazu, das kommende Monstre-Unternehmen zu tarnen. Jeder Zusammenhang mit den offiziellen Institutionen des Staates und der Partei sollte vermieden werden.

Natürlich wurden alle Angehörigen der Organisation sofort nach ihrer Abkommandierung auf Stillschweigen vergattert. Die Zentrale richtete sich in einer kleinen Berliner Villa ein, Tiergartenstraße 4. Ihre Anschrift benützten die Eingeweihten als Kennziffer der gesamten Aktion: »T 4«.

Als zweckmäßigstes Tötungsmittel hatten Reichsleiter Bouhler, sein Oberdienstleiter Brack und der Reichsgesundheitsführer Dr. Conti Kohlenoxydgas (CO) erprobt. Der Versuch fand, noch 1939, im Zuchthaus Brandenburg an der Havel statt: In genau 22 Sekunden löschte ein Chemiker vom Reichskriminalpolizeiamt, der Dr. August Becker, vor den Augen der Prominenz vier Anstaltspatienten aus.

Diese vier Toten von Brandenburg waren der Vortrupp einer unendlich langen Kolonne, die nun, ab Februar 1940, in die Vergasungsanstalten einzog: in das württembergische Schlößchen Grafeneck zuerst, dann auch nach Schloß Hartheim bei Linz, nach Brandenburg, in das anhaltische Bernburg, auf die Burg Sonnenstein in Pirna und in das hessische Hadamar.

Die Anstalten sandten pflichtgemäß ihre Fragebogen-Bündel an die Berliner Adresse. Es mußte nahezu jeder Insasse aufgeführt werden, der »nicht oder nur mit mechanischen Arbeiten (Zupfen u. ä.) zu beschäftigen« war: Schizophrene, Epileptiker, Paralytiker, Wasserköpfe, Schwachsinnige aller Art, sogar »Senilkranke« schlechthin. Dazu noch alle, die sich »seit mindestens fünf Jahren dauernd in Anstalten« befanden oder »als kriminelle Geisteskranke verwahrt« waren. Schließlich alle Anstaltsinsassen, die »nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht deutschen oder artverwandten Blutes sind«.

Knappste Abliefertermine machten den überlasteten Anstaltsärzten eine auch nur einigermaßen korrekte ärztliche Diagnose unmöglich. Sie war - in den Augen der Berliner »T 4«-Chefs auch nicht notwendig. Die Todesgutachter nahmen sich ohnehin nicht die Zeit, die Diagnosen zu lesen. Ein einziger von ihnen, der bayrische Obermedizinalrat Dr. Pfannmüller, begutachtete beispielsweise zwischen 14. November und 1. Dezember 1940 nicht weniger als 2190 Fragebogen, zwischen 20. und 22. November 258, zwischen 28. und 30. November 300: die Nummern 139 001 bis 139 300.

Jeden Fragebogen bekamen drei Ärzte in die Hand. Sie machten in das dafür vorgesehene schwarzumrandete Rechteck entweder ein rotes »+«, das

bedeutete den Tod, oder einen blauen

»-», der dem Kranken das Leben

schenkte. Eine Begründung ersparte man sich. Neben die Runen der postalisch bemühten Untergutachter setzten die Berliner Obergutachter ihr endgültiges » +« oder »-».

Sekretärinnen stellten anhand der Fragebögen die Transportlisten zusammen. Die »Gekrat«-Omnibusse holten die Kranken zur »Verlegung« ab.

In den Tötungsanstalten wurden die Transporte im allgemeinen sofort »behandelt": Vergasung im »Desinfektionsraum«, je nach Einrichtung drei oder sechs Leichen pro Ofen, eine Handvoll Asche in die Urnen, ein Brief mit fingierter Todesursache an die Angehörigen.

Jede Tötungsanstalt hatte ihr eigenes Standesamt, das die Todesbriefe verschickte: »Auf Anweisung der Ortspolizeibehörde mußte aus seuchenpolizeilichen Erwägungen heraus der Verstorbene sofort eingeäschert werden.«

Als man in Berlin beobachtete, daß die Anstaltsleiter anfingen, die Arbeitsfähigkeit ihrer Patienten auf den Fragebögen immer höher zu bewerten, gingen eigene Kommissionen - »T 4« -Jargon: die »Fliegenden« - auf die Reise. Diese Kommissionen hielten alle Quoten und Termine ein.

In der nordbayrischen Anstalt Neuendettelsau beispielsweise erledigten ein Dr. Steinmeyer und Kollegen binnen weniger Tage die Fragebögen für 1800 Menschen. Steinmeyers Crew untersuchte nicht einen einzigen, der Pfleglinge, die meisten wurden nicht einmal angesehen.

Arbeiteten so die Ärzte, so stumpften die SS-Leute der Transportstaffeln bald nicht weniger ab. Sie füllten zügig ihre Omnibusse. Ließ sich ein vorgesehener Patient nicht gleich finden, so griffen sich pflichtbewußte Transportführer mitunter auf dem Anstaltsgelände kurzerhand einen anderen Pflegling.

Pannen blieben nicht aus. Als Todesursache wurde Blinddarm genannt, obschon der Verstorbene seit Jahren keinen Blinddarm mehr hatte. Eine andere Familie erhielt die Nachricht, daß ihr Angehöriger an seinem Rückenmarksleiden verschieden sei. Der Tote war acht Tage vorher besucht worden und noch vollkommen gesund gewesen. Bei den Staatsanwaltschaften häuften sich die Anzeigen.

Bischof Clemens August von Galen ließ es nicht bei einer ausführlich begründeten Strafanzeige gegen die »T 4«-Verantwortlichen bewenden. Er gab ihren Text am 3. August 1941 von der Kanzel seiner Münsteraner Sankt-Lamberti-Kirche bekannt: »Deutsche Männer und Frauen! ... Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.«

Allein, Mord war eben nicht mehr Mord - auch nicht für die deutschen Staatsanwälte von 1941. Daß die Justiz die braune Binde fest vor den Augen behielt, dafür hatte der als Justizminister amtierende Staatssekretär Dr. Franz Schlegelberger gesorgt, heute Pensionär in Flensburg. Für den 23. April 1941 bestellte er die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte nach Berlin. Schlegelberger belehrte die angetretenen Spitzenjuristen, wie sich Rechtsdiener der »Euthanasie«-Aktion gegenüber zu verhalten hätten: passiv.

Die Generalstaatsanwälte wurden angewiesen, »sämtliche Eingaben und Strafanzeigen, die sich mit der Aktion befaßten, unbearbeitet dem Reichsjustizminister vorzulegen«.

Großdeutschlands Juristen gehorchten, genau wie die in die Aktion eingeschalteten Ärzte. Aber Bischöfe, konfessionell gebundene Anstaltsleiter und sogar NS-Funktionäre beschwerten sich erfolgreich in Berlin.

Aus allen ihren Briefen ging hervor, daß die Mordwelle, deren Ende niemand absah, eine latente Panik ausgelöst hatte. Aus Stuttgart schrieb die Frauenschaftsführerin Else von Löwis unter dem 25. November 1940: Wohin wird dieser Weg uns führen, und wo wird die Grenze gezogen? ... Jetzt klammern die Menschen sich noch an die Hoffnung, daß der Führer um diese Dinge nichts weiß.«

In Deutschland kursierte das Gerücht, nach den Irrenanstalten würden die Altersheime ausgeräumt. Es wurde nach Berlin berichtet, die Soldaten an der Front befürchteten, bei Kopfverletzungen ebenfalls den Marsch in die Gaskammer antreten zu müssen. Adolf Hitler begann sich um die Durchhaltemoral der Deutschen zu sorgen. Im August 1941 ließ er die Euthanasie -Aktion abbrechen.

Die Mord-Maschinerie wurde freilich damit noch nicht brachgelegt. Unter der Kennziffer »14 f 13« befreiten Heydes Ärzte nach wie vor die Konzentrationslager von »unnützen Essern«. Sie »desinfizierten«, wie sie es nannten, noch monatelang Einzelgruppen von Zigeunern, Juden und Polen.

Die Haltung, mit der die »T 4«-Mediziner diese letzte Aufgabe bewältigten, wird aus Karten und Briefen deutlich, die ein Dr. Friedrich Mennecke regelmäßig an seine Frau schrieb:

- Aus Fürstenberg etwa (KZ Ravensbrück), nachdem er zur Zentrale nach Berlin kommandiert gewesen war: »Heyde sprach sich sehr zufriedenstellend und anerkennend über meine Mitwirkung aus. Im Januar werden wir beide (Du und ich) im Männer -KZ Gr.-Rosen bei Jauer in Schlesien arbeiten. Dort sollen tausend Häftlinge in Frage kommen.«

- Aus München, von wo aus er Dachau

durchkämmte: »Es sind nur 2000 Mann, die sehr bald fertig sein werden, da sie am laufenden Band nur angesehen werden.«

- Aus Weimar (KZ Buchenwald):

»7.40 Uhr. Auf geht's zu neuem fröhlichen Jagen! ... 19.03 Uhr: Wieder ist ein Tag zu Ende und ich kann wieder berichten.«

- Aus Fürstenberg: »11.40 Uhr... Heissali! Fertig mit allen Fragebögen.«

Im Zentrum dieser Tötungs-Apparatur, der wenigstens 100 000 Menschen - allein 80 000 aus den Anstalten - zum Opfer fielen, fungierte ein deutscher Ordinarius, der Chef einer Universitätsklinik: Der Psychiater Heyde nahm nicht nur an den Vorbesprechungen teil und half den Fragebogen ausarbeiten. Er wirkte selbst als Obergutachter und wies die neu verpflichteten jungen Ärzte in ihre Aufgabe ein.

Ab Sommer 1940 war er »Der Leiter« der »Aktion T 4«. Er besuchte Irrenanstalten und inspizierte Tötungshäuser. Selbst in den Konzentrationslagern, wo die »T 4«-Totmacher die Häftlinge in Reihe defilieren ließen, soll er laut Zeugenaussagen aufgetaucht sein.

Er verrichtete seine Arbeit akkurat, wirkungsvoll und offenbar bis zu seiner Ablösung als »T 4«-Leiter Ende 1941 voll Überzeugung.

Tatsächlich entsprach - wenigstens in ihren Ansätzen - die Aktion gewissen Gedankengängen, die seinerzeit durch die medizinischen und juristischen Fakultäten der deutschen Hochschulen geisterten.

Neben dem National-Darwinismus, der Hitler und Rosenberg inspiriert hatte, neben dem ans Groteske grenzenden Rassenwahn, neben den faden Aufgüssen von Nietzsches Verachtung für das Schwache war nämlich auch die alte Auseinandersetzung um die Euthanasie gerade in den zwanziger Jahren wieder laut aufgelebt. Den Anfang markierte die 1920 erschienene Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - Ihr Maß und ihre Form«.

In dem sofort heftig diskutierten kleinen Buch traten zwei unbestreitbar integre, hochrenommierte Wissenschaftler, der Leipziger Jurist Karl Binding und der Freiburger Psychiater Alfred Hoche, für eine Lockerung des Tötungsverbots ein. Binding und Hoche setzten nicht nur die neuen, von nun an gebräuchlichen Begriffe - »lebensunwertes Leben« etwa -, sie beeinflußten das Denken einer ganzen Generation.

Für beide war es selbstverständlich, daß die Freigabe zur Tötung nur im Rahmen eines streng justizförmigen

Verfahrens erfolgen könnte. Ferner gingen sie davon aus, daß der Lebenswille des Betroffenen, »auch des kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen« (Binding), respektiert werden müsse.

Immerhin, zwei Ausnahmen wurden zur Debatte gestellt:

- Wenn der Todkranke oder tödlich

Verletzte nicht imstande sei, seinen Willen auszudrücken, dann dürfe in gewissen Fällen sein Wunsch nach Erlösung unterstellt werden, zum Beispiel bei einem schwerstverstümmelten Ohnmächtigen, dem man das Erwachen- zur qualvollen Agonie ersparen sollte, und

- bei Geisteskranken, die unter der

tierischen Stufe stehen, bei denen es mithin »weder den Willen zu leben noch zu sterben« (Binding) geben könne.

Binding starb 1920, noch vor der Veröffentlichung seiner Schrift. Sie erhielt so das Gewicht eines Vermächtnisses. Geheimrat Hoche, einer der wenigen deutschen Professoren, die aus Protest 1933 freiwillig ihren Lehrstuhl räumten, ergänzte Bindings Forderungen.

Insbesondere steckte der Nervenarzt den Kreis der Irren, denen die Euthanasie gewährt werden sollte, ebenso präzis wie eng ab. Äußerlich müsse der »Fremdkörpercharakter der geistig Toten im Gefüge der menschlichen Gesellschaft« ohne weiteres erkennbar sein. Innerlich sei entscheidend, daß die Art der Hirnbeschaffenheit keine klaren Vorstellungen, Gefühle oder Willensregungen zulassen dürfe.

Professor Hoche war damit nicht weit von der Meinung des Dr. Martinus Luther entfernt, der sich schon Anno 1541 dafür ausgesprochen hatte, einen 12jährigen Idioten in der Mulde zu ersäufen. Begründung (in den Tischreden): »Daß ers gänzlich dafür hielte, daß solche Wechselkinder nur - ein Stück Fleisch, eine massa carnis sein, da keine Seele innen ist, denn solches könne der Teufel wohl machen.«

Hoche stand offenbar auch im Einklang mit jenem Teil der Bevölkerung, der unmittelbar mit Vollidioten in Berührung gekommen war. 1920 verschickte Obermedizinalrat Ewald Meltzer, Direktor der sächsischen Landespflegeanstalt Großhennersdorf, 200 Fragebögen an Eltern idiotischer Kinder. Die erste Frage lautete:. »Würden Sie auf jeden Fall in eine schmerzlose Abkürzung des Lebens Ihres Kindes einwilligen, nachdem durch Sachverständige festgestellt ist, daß es unheilbar blöd ist?«

Von 200 Fragebögen kamen 162 zurück, 119 waren mit »Ja«, 43 mit »Nein« beantwortet. Von den 43 Neinsagern wären noch einmal 24, allerdings unter gewissen Einschränkungen, mit der Tötung einverstanden gewesen. Meltzer, der die Umfrage veranstaltet hatte, um Hoche zu widerlegen, resignierte: »Das hatte ich nicht erwartet. Das Umgekehrte wäre mir wahrscheinlicher gewesen.«

Aus seiner kategorischen Definition des geistigen Todes heraus kam der Logiker Hoche freilich zu einem Schluß, der - scheinbar - mit dem humanen Ausgangspunkt der Euthanasie in schroffstem Gegensatze stand. Den geistig Toten gegenüber sei, so erklärte er streng, kein Mitleid geltend zu machen. Mitleid sei hier nur »der unausrottbare Denkfehler«, eigenes Fühlen zu projizieren: »Wo kein Leiden ist, ist auch kein mit Leiden.«

Nachdem er dergestalt selbst auf das humanitäre Argument verzichtet hatte, führte Hoche eine Reihe ökonomischer, sozialer und sogar nationaler Gründe für die Beseitigung der »Ballastexistenzen« an. Damit hatte eine Autorität die gedankliche Brücke von der Human -Euthanasie zu den National-Darwinisten geschlagen. Auf Hoche geht die seither schier unentwirrbare Vermengung der Argumente zurück:

- auch die Vertreter einer begrenzten, gesetzlich definierten Freigabe der Tötung auf Verlangen führten plötzlich die Pflegekosten ins Feld;

- umgekehrt bedienten sich die NS -Propagandisten ganz unverfroren der humanitären Gründe, die in ihrem Munde wie Hohn klangen.

Die Folgen konnte der Nazigegner Hoche freilich nicht ahnen. Mindestens drei der später wegen Euthanasieverbrechens verurteilten Ärzte hatten seine Vorlesungen in Freiburg besucht. Auch der 1902 in Forst /Lausitz geborene Fabrikantensohn Heyde.

Werner Heyde, Teilnehmer am Kapp -Putsch, begann seine Laufbahn als akademischer Lehrer in Würzburg. Ihm gelang, was sonst selten ist: Er avancierte an derselben Fakultät vom Stationsarzt bis zum Ordinarius und Klinikchef.

Sein letzter Aufstieg fiel freilich mit speziellen Verdiensten um das Reich zusammen. Im April 1939 war er gerade außerplanmäßiger Professor geworden. Im Sommer ließ ihn Bouhlers Stellvertreter Brack nach Berlin in die Kanzlei des Führers kommen. Und am 28. Dezember desselben Jahres noch wurde Heyde Ordentlicher Professor und erhielt den Würzburger Lehrstuhl für Psychiatrie. 1941 wurde Heyde SS-Sturmbannführer, 1943 Obersturmbannführer und 1945 noch SS-Standartenführer.

Dabei war der wache Nachwuchs -Psychiater erst 1933 der NSDAP beigetreten - aber schon 1935 wirkte er als Amtsleiter des »Rassenpolitischen Amtes Würzburg«. 1936 wurde er SS -Arzt, und noch im selben Jahr bewährte er sich »bei der Durchführung erbbiologischer Untersuchungen in den Konzentrationslagern« und der »Erstattung von Gutachten für die Geheime Staatspolizei« (Aus seinem selbstverfaßten Lebenslauf).

Der Träger des »Totenkopfringes«, der mit seinem Hirnverletzten-Lazarett aus Würzburg nach Dänemark evakuiert war, wurde dort nach Kriegsende anderthalb Jahre interniert und später aufgrund eines Haftbefehls des Landgerichts Frankfurt in Haft genommen.

Am 25. Juli 1947 sprang er in Würzburg von einem amerikanischen Lkw. Er hatte im Nürnberger Ärzte-Prozeß ausgesagt und sollte zurück in das Frankfurter Untersuchungsgefängnis Hammelsgasse. Der SS-Führer blieb seither verschwunden. Die erste Karriere des Psychiaters Heyde war zu Ende.

Seinen zweiten Aufstieg begann er als Dr. Fritz Sawade. Auch diese Karriere sollte, wenn auch in ganz anderem Sinne, für die zeitgeschichtlichen Strömungen in Deutschland symptomatisch werden.

War Heyde im Dritten Reich als progressiver junger Wissenschaftler hochgekommen, so profitierte Sawade zuerst aus der Kameraderie der Ehemaligen, sodann aus dem Solidaritätsgefühl von Ärzten und Juristen, die sich unausgesprochen einig schienen, daß mit der Aufrechnung der Vergangenheit endlich Schluß zu machen sei.

Nur etwa drei Jahre arbeitete Heyde auf dem Lande. Er besorgte sich auf dem Schwarzen Markt einen Entlassungsschein, später dann Kennkarte und Paß. 1950 wurde er Sportarzt an der Landessportschule Flensburg-Mürwik. Dann lernte Heyde, nunmehr Sawade, den Direktor des Oberversicherungsamtes Schleswig, den späteren Präsidenten des Landessozialgerichts kennen und schätzen: Dr. Ernst-Siegfried Buresch.

In den folgenden Jahren durfte er Fachvorträge halten und war im übrigen Schleswig-Holsteins meistgefragter Gutachter: beim Oberversicherungsamt, bei dem Landesentschädigungsamt in Kiel, bei der Flensburger Staatsanwaltschaft, bei Gerichten, Versorgungsämtern und Berufsgenossenschaften. Insgesamt erstattete er an die 7000 schriftliche Gutachten. Er brachte es zu Auto und Haus.

Später stellte der Parlamentarische Untersuchungsausschuß fest, daß wenigstens folgende Personen von der Identität des Gutachters Sawade mit Hitlers Obergutachter Heyde gewußt hatten: Dr. Buresch, Professor Creutzfeldt, Medizinaldirektor Delfs, Professor Doerr Sozialgerichtsdirektor Gerstenhauer, Professor Glatzel, Professor Hallermann, Dr. Knolle, Regierungsrat Lauersen, Senatspräsident Meisterernst, Senatspräsident Michaelis, Obermedizinalrat Ostertun, Professor Reinwein, Obermedizinalrat Rischer, Landgerichtsrat Schlüter, Bundesrichter Sonnenberg, Frau Dr. Spallek, Sozialgerichtsrätin Frau Stumpf.

Heyde stand mit Personalbeschreibung und Bild in Fahndungsbuch und Bundeskriminalblatt: »Wegen Mordes gesucht ...« Zu seiner Festnahme führten jedoch weder kriminalpolizeiliche Tüchtigkeit noch der direkte Hinweis eines der Eingeweihten. Sawades Karriere endete aufgrund von Professoren-Querelen.

1954 fühlte sich der Professor Creutzfeldt verletzt, weil der Flensburger Dr. Sawade gewagt hatte, einem von ihm Creutzfeldt, erstatteten Gutachten scharf zu widersprechen. Der Professor schrieb an den Präsidenten des Sozialgerichts Schleswig: »In der dem Gutachten Bossen beigefügten Anlage habe ich einen kurzen Bericht über die Person des unter dem Namen Sawade als Gutachter... tätigen Dr. Heyde niedergelegt.«

Und: »Ich sehe mich zu diesem Bericht genötigt, weil der Genannte gegen die Gutachten, die von mir und meinen Ärzten erstattet waren, in einer Form aufgetreten ist, wie sie mir in meiner 40jährigen Gutachter-Tätigkeit in Breslau, Berlin, Kiel nicht begegnet war.«

Diesen Angriff konnte Buresch gerade noch abfangen. Er schickte Creutzfeldts Auslassung an den Absender zurück, da er als Präsident eines Gerichts, »das besonders eng mit dem Ärztestand verbunden« sei, es nicht als seine Aufgabe ansehen könne, »einen für das Ansehen des Ärztestandes ... möglicherweise recht folgenschweren Schritt zu tun«.

Was Creutzfeldt mißlungen war, gelang, fünf Jahre später, dem Kieler Internisten Reinwein, der mit der Landesregierung in Fehde lag. Nach Reinweins Meinung unternahm die Regierung nicht genug, um die Professoren-Wohnung gegen nächtliche Lärmbelästigungen abzusichern. Der Ministerpräsident schickte den Ministerialdirektor a. D. Delbrück, um die Sache ins reine zu bringen. Und der Professor schimpfte über dies und das - auch über den falschen Gutachter Sawade.

Delbrück anschließend zu dem Chef der Gesundheitsabteilung im Innenministerium, Ministerialrat Dr. Heigl: »Reinwein hat wieder etwas Neues. Jetzt behauptet er, in Flensburg sitze ein Mann, der mache Gutachten für das Landessozialgericht und führe einen falschen Namen.«

Heigl erkundigte sich und ließ über den Amtsarzt in Flensburg Sawades Approbation anfordern. Das war am 4. November 1959.

Sawade fuhr sofort nach Würzburg. Er beriet sich dort mit Kollegen, wie man auf Professor Reinwein einwirken könne, die Äußerungen zurückzunehmen.

Inzwischen aber hatte - am 5. November 1959, »kurz nach Dienstbeginn« der Regierungsoberinspektor Koch beim Durchblättern eines Buches den Namen Heyde erspäht: in »Medizin ohne Menschlichkeit - Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses« von dem Heidelberger Professor Alexander Mitscherlich. Er unterrichtete »unter Vorlage dieser Broschüre gegen 9.00 Uhr« den Dr. Heigl. Die bundesweite Fahndung lief an.

Sawade las davon - und gab das Rennen auf: Heyde stellte sich der Staatsanwaltschaft in Frankfurt, die nun - zwölf Jahre nach der Ausstellung - den alten Haftbefehl zum zweitenmal

an ihm vollstreckte.

Häufig konferierte der Gefangene mit seinen beiden Frankfurter Anwälten Schindler und Schmidt-Leichner, schrieb seiner - in einem mit unrechtmäßig bezogener Witwenrente bezahlten Haus - am Starnberger See lebenden Frau kurze und seinen beiden Söhnen lange Briefe. Den Staatsanwälten des Dr. Fritz Bauer hingegen machte er schon seit 1960 keine Angaben mehr: Ihr Chef sei nicht objektiv.

Seit Oktober vergangenen Jahres hatte er die Frankfurter Strafverfolger zudem im Verdacht, an einer kolportagehaften Story über einen angeblichen Fluchtplan des Professors nicht unschuldig zu sein, die in der Illustrierten »Revue« erschien. Deren Überschrift: »Nachschlüssel sollten die Tore des Gefängnisses in Limburg öffnen. Alles war vorbereitet, aber

- Heyde kam nicht durch.«

Heyde, der sich zumindest für subjektiv unschuldig hielt, sieben Tage vor seinem Tod zum SPIEGEL: »Ich halte es für einen großen Verstoß wider jede Menschlichkeit, einem Mann in meinem Alter und bei meinem Gesundheitszustand nach mehr als vierjähriger Untersuchungshaft einen Schau -Prozeß von mehrmonatiger Dauer zuzumuten.« Tatsächlich war der 61jährige Zigarettenliebhaber schwer herzkrank und litt unter vegetativen Anfällen.

Hessens Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer hatte den Heyde-Prozeß so sorgsam wie keinen anderen je zuvor vorbereitet. Bauer: »Immer wenn ich an meinem alten KZ vorbeifahre, halte ich, steige aus und tanke Erinnerungen.«

Er versprach sich von ihm nach eigenem Bekenntnis in erster Linie nationalpädagogische Effekte: auf das Volk, dem das Leben wieder heilig werden soll, auf die Ärzte, die sich niemals mehr als Werkzeuge hergeben dürfen, und nicht zuletzt auf seine Kollegen, auf Richter und Staatsanwälte, die mindestens ab 1941 nahezu ohne Ausnahme von der als Euthanasie kaschierten Mordwelle wußten, sie widerspruchslos hinnahmen oder sogar unterstützten, indem sie Strafanzeigen unterdrückten.

Bauer: »Das Ausmaß jener Feigheit kann man sich ja heute kaum noch vorstellen.«

Der Gefangene aber mißachtete den Traum des Generalstaatsanwalts von der Erziehung des Menschengeschlechts durch Prozesse. Er hängte sich auf.

** Paragraph 216 Strafgesetzbuch (StGB): (1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Gefängnis nicht unter drei Jahren zu erkennen. (2) Sind mildernde Umstände vorhanden, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter sechs Monaten. (3) Der Versuch ist strafbar.

Irrenanstalt Hadamar: Tod für 100 000...

Hitlers Euthanasie-Vollmacht

... durch sechs Zeilen ...

Grabplatte in Hadamar

... unter falschem Datum

Abtransport des Toten Heyde*

»Vorsätzlich und mit Überlegung«

Heyde-Ankläger Bauer

Die Aufklärung des Massenmords ...

Angeklagter Heyde

durch Selbstmord verhindert

Euthanasie-Beauftragter Bouhler

Ein stärkeres Geschlecht ..

... wird die Schwächeren verjagen": Ärzte-Prozeß in Nürnberg (1947)*

Euthanasie-Befürworter Luther

»Da keine Seele innen ist«

Jurist Binding

Mit Theorien über den Gnadentod ...

Psychiater Hoche

... eine Generation beeinflußt

Sawade-Haus in Flensburg: Als Mörder gesucht ...

Gutachter Sawade, Telephonbuch-Spalte

... im Dienst der Justiz

Stuttgarter Zeitung

»Mein Name ist Dr. Sawade«

* Im Hintergrund: Zuchthaus Butzbach bei Frankfurt/Main.

* Erste Reihe, links außen: Hitler-Leibarzt Professor Karl Brandt; zweite Reihe, dritter von links: »Gnadentod«-Dienstleiter Viktor Brack.

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