ARBEITSLOSE Heftige Prügel
Das Acht-Seiten-Papier trägt die harmlose Überschrift »Dienstblatt der Bundesanstalt für Arbeit« und den Vermerk »Nur für den Dienstgebrauch«. Doch als der SPD-Bundestagsabgeordnete und Sozialexperte Egon Lutz die Akte bei einem Routinegespräch mit dem Bundesarbeitsminister zornig aus der Tasche zog, wußte Herbert Ehrenberg von nichts. Lutz: »Der war sichtlich überrascht.«
Dabei war der Inhalt des »Runderlasses 230/78« aufregend genug. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik legte die Nürnberger Arbeitsverwaltung fest, welchen ]ob ein Arbeitsloser annehmen muß, wenn er seine Unterstützung nicht verlieren will -- im Extremfall jeden.
Sollte der Verwaltungsentscheid von den Arbeitsämtern exakt ausgeführt werden, haben die Arbeitsbürokraten eine historische Tat vollbracht: Seit dem 8. August, dem Tag, an dem der interne Runderlaß Rechtskraft erlangte, löst sich ein gesellschaftspolitisches Übel in Wohlgefallen auf. Die Arbeitslosigkeit, schimpfte Egon Lutz, »wird wegadministriert«.
Das Kunststück gelang den Fachleuten unter Präsident Josef Stingl mit einem Vorschriftenkatalog, der im Ansatz zwar richtig ist, in seiner mechanistischen Ausgestaltung aber aus der obrigkeitsstaatlichen Trickkiste zu sein scheint.
Kernsatz: »Im Interesse einer alsbaldigen Beendigung seiner Arbeitslosigkeit schuldet der Leistungsempfänger der Versichertengemeinschaft eine weitgehende Anpassung seiner Vermittlungswünsche und -vorstellungen an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes.« Deshalb dürfe der Arbeitslose »seine Arbeitsbereitschaft nicht auf eine Beschäftigung in seinem erlernten, überwiegend oder zuletzt ausgeübten Beruf beschränken«.
Zur Erfüllung des behördlichen Anspruchs schuf die Bundesanstalt drei berufliche »Qualifikationsstufen (QualSt)« und setzte zugleich fest, daß beispielsweise Akademiker ("QualSt A"), die keinen angemessenen Job finden, in der »nächstunteren« Sozialklasse B (etwa als Facharbeiter) eine Stelle annehmen müssen.
Schlimmer noch: »Kommt bei einem Arbeitslosen der QualSt A aus Eignungsgründen eine Beschäftigung der QualSt B nicht in Betracht, ist die QualSt B zu überspringen.« Im, Klartext: Ein Diplom-Soziologe etwa, der (höchstens) ein Jahr arbeitslos war, kann künftig gezwungen werden, Arbeit als Hilfsarbeiter (Stufe C) anzunehmen. Weigert er sich, verliert er die Unterstützung vom Arbeitsamt.
Da die Möglichkeit der Zurückstufung Stingls Leuten noch nicht ausreichend erschien, klügelten sie weitere Bestimmungen aus, um ihre Kundschaft mobil zu machen. Die Arbeitsämter können, so der auch hier im Grunde vernünftige Vorsatz, einen Ortswechsel anordnen, wenn sich in der Heimatstadt keine Arbeitsmöglichkeit bietet.
Doch die Nürnberger nuancierten das neue Recht so fein, daß in Problemgebieten -- wie Niederbayern oder Ostfriesland -- eine wahre Völkerwanderung einsetzen müßte.« Der Grundsatz, daß Kapital zur Arbeit kommen soll, wird umgekehrt"« kommentierte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB).
In einem ausführlichen Beispielkatalog ist festgeschrieben, wie »das Interesse des Arbeitslosen an seinem Verbleiben an seinem bisherigen Wohnort gegenüber den Interessen der Versichertengemeinschaft an Gewicht verliert«. So muß, widersinnig genug, sogar ein berufstätiger Ehepartner eines Arbeitslosen dann seinen Job aufgeben, wenn der Angetraute an anderem Ort eine neue Stelle findet.
Als letzte Woche Einzelheiten der Weisung aus Nürnberg bekannt wurden, erhob sich denn auch sogleich eine Woge der Empörung. Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) protestierte gegen den »Druck auf Beschäftigungslose«. Der DGB sah das Ende der Rechtsstaatlichkeit aufziehen; die Bundesanstalt habe »den Marsch in die Illegalität« angetreten, klagte der gewerkschaftliche Sozialexperte Norbert Möller-Lücking und tadelte Arbeitsminister Ehrenberg für dessen »unglaubliche Geschicklichkeit«.
Ehrenberg ließ erklären, er könne den Arbeitslosenbeseitigungs-Ukas auch nicht mehr aus der Welt schaffen, weil er der Bundesanstalt keine Weisungen erteilen darf. Er versprach aber, im Bundestag für ein Gesetz zu sorgen, mit dem die »Meinungsverschiedenheiten« beigelegt werden sollen. Dann ging der Arbeitsminister auf Tauchstation -- sobald unangenehme Fragen drohten, ließ er sich nicht sprechen.
Ehrenberg hatte sich noch rechtzeitig von seinen Beamten aufklären lassen, wie der Runderlaß zustande gekommen war. Die Nürnberger Bundesanstalt, ein Paradebeispiel für drittelparitätische Mitbestimmung und Selbstverwaltung, wird gelenkt von drei gleichberechtigten Interessengruppen: den Arbeitgebern, den Arbeitnehmern und der öffentlichen Hand.
Im Rechts- und Verwaltungsausschuß der Anstalt, der im Sommer den Erlaß beriet, hatten die Arbeitgeberverbände zunächst gegen den Entwurf gestimmt: Er ging ihnen nicht weit genug. Der Vorstand verabschiedete den Erlaß dann am 8. August fast einstimmig, bei lediglich einer Enthaltung auf der Bank der Arbeitgeber.
Diesem Vorstand gehört neben Heinz Groteguth, DAG-Vorstandsmitglied, und Edmund Duda, Abteilungsleiter beim DGB-Vorstand, für die öffentliche Verwaltung Manfred Baden an, Abteilungsleiter im Ministerium des Herbert Ehrenberg.
»Da hat sich wohl«, kommentierte cm Sozialexperte der Bonner SPD-Zentrale bissig, »das Instrument der Mitbestimmung verselbständigt.«
Der Arbeitsminister wird in dieser Woche zur Strafe dafür, daß er seinen Abteilungsleiter nicht eng genug beaufsichtigte, heftige Prügel beziehen.
Die Genossen aus der eigenen Fraktion, angeführt von Egon Lutz, wollen ihm im Bundestag klarmachen, daß »Arbeitslose zwar nicht die Hätschelkinder der Nation, aber auch keine Bürger zweiter Klasse sind«.