ARGENTINIEN Heidnischer Kult
Der Ex-General sprach von »innerer Führung« und vom »Staatsbürger in Uniform«. Er beschrieb die »Streitkräfte im demokratischen Staat« und dozierte am Professorenpult der Universität über »Demokratie, Gesellschaft und Streitkräfte«.
Im Hörsaal aber verstanden viele die Rede Wolf Graf von Baudissins nicht. Eisiges Schweigen empfing denn auch den deutschen Vortragsreisenden Mitte April im Generalstab des argentinischen Heeres in Buenos Aires. »Seine Gegenwart war eine Beleidigung«, schrieb ein entrüsteter Reserveobrist an eine Tageszeitung.
Im Falklandkrieg von England besiegt, geächtet von einer Gesellschaft, die allmählich die Wunden langer Militärdiktatur zu heilen sucht, haben die Offiziere am Rio de la Plata noch immer wenig übrig für moderne Staatskunde a la Baudissin; und die Art, in denen ihnen der eigene Staat - jahrelang im Besitz der Armee - neuerdings näherrückt, paßt ihnen auch nicht.
Denn die Demokratie, von der verkrusteten Offizierskaste gern mit »Chaos« und »Pornographie« gleichgesetzt, hat neun ihrer Waffenbrüder angeklagt. Die Putschisten Videla und Viola, Ex-Luftwaffenchef Lami Dozo und Falkland-Verlierer Galtieri werden verschiedener Verbrechen beschuldigt, darunter des Mordes, der Folter und der Entführung.
Wie vor 18 Monaten vom gewählten Präsidenten Raul Alfonsin bei der Amtsübernahme versprochen, kamen die Führer der Diktatur vor Gericht: Vor zwei Wochen eröffnete die Strafkammer in Buenos Aires den Prozeß gegen die Mitglieder der drei ersten Militärjuntas seit dem Putsch im Jahre 1976.
Generale und Admirale vor Gericht - nur in Nürnberg nach 1945 und in Athen nach dem Sturz der Obristen im Jahre 1974 gab es ähnliches zu sehen. Schritt für Schritt werden die so lange als »linke Propaganda« verdrängten Verbrechen ans Licht gebracht.
Tausende Menschen verschwanden in den sieben Jahren der Militärherrschaft meist spurlos in einem Gulag der Vernichtung. Die uniformierten Verteidiger der Nation bereicherten sich an den Gütern der Verschleppten, quälten sie in sadistischer Lust. Ihre Opfer verscharrten sie in namenlosen Massengräbern oder warfen sie aus Flugzeugen in den Rio de la Plata - oft mit abgehackten Händen, um eine Identifizierung durch Fingerabdrücke zu verhindern.
Für die Militärs ist die öffentliche Verhandlung im holzgetäfelten Gerichtssaal mit den bronzenen Jugendstil-Leuchten »ein heidnischer Opferkult, bei dem nach militärischem Blut lechzende Richter die Eingeweide der Angeklagten einer vor Rachsucht erblindeten Meute vorwerfen werden« (so das Wochenmagazin »El Periodista").
Staatsanwalt Julio Strassera sucht indes, einen möglichst sachlichen Verhandlungsablauf zu sichern. Aus den rund 9000 bekannten und gut dokumentierten Fällen von Menschenrechtsverletzungen hat er 711 ausgesucht. »Das argentinische Recht sieht ja keine Kumulierung von Strafen vor«, erklärte Strassera.
Sechzehn dicke Bände zu je 200 Seiten, über 4000 Zusatzakten, knapp 10 000 Anzeigen, die bei verschiedenen Provinzgerichten in den letzten Monaten eingegangen sind, und 34 Ordner, gefüllt mit Dokumenten ausländischer Regierungen, bilden das Beweismaterial. Über 2500 Zeugen sind vorgeladen: Generale und Obristen, amerikanische Anthropologen und Identifizierungsexperten, Gewerkschafter, aus dem Exil zurückgekehrte Guerrilleros und sogar der französische Admiral Antoine Sanguinetti.
Denn nicht nur die Verbrechen sind Gegenstand des Prozesses, auch die »feige Haltung« der Militärs stehe vor Gericht, betonte der Staatsanwalt: General Jorge Videla und die anderen Spitzenmilitärs »übernahmen nie die Verantwortung für das, was geschah«. So weigert sich Videla bis heute, einen Verteidiger zu benennen; daher mußte für ihn ein »Anwalt der Armen und Abwesenden«, wie in Argentinien der Pflichtverteidiger heißt, bestellt werden.
»Die anderen Anwälte werden bald aufgeben«, prophezeite ein Journalist im Gerichtssaal, »denn das Beweismaterial ist überwältigend.« Aber zunächst will die Verteidigung den Prozeß politisieren, die Angeklagten als Verfolgte darstellen, die von ihrem Recht Gebrauch machen, der Verhandlung bis zur Verkündung der Urteile fernzubleiben.
Schon in den ersten Tagen suchten die Verteidiger den Beweis zu erbringen, daß in den Jahren nach dem Putsch in Argentinien »Kriegszustand« herrschte, der das Vorgehen des Regimes gerechtfertigt habe. »Es ist wahr, daß wir all das getan haben, dessen man uns beschuldigt, aber es war notwendig«, erklärte ein General. »In den Streitkräften gibt es keinen wirklichen Willen, sich zu säubern«, klagte Oberst a.D. Horacio Ballester vom »Zentrum demokratischer Militärs«.
Zwar scheint klar, daß am Ende der wahrscheinlich ein halbes Jahr dauernden Verhandlung hohe Haftstrafen verhängt werden. Doch Menschenrechtler beklagen Alfonsins offensichtliches Bestreben, es bei diesem Prozeß bewenden zu lassen. »Wir haben nicht die Kraft für 1000 oder 2000 Prozesse gegen Militärs«, warnte ein Beamter im Verteidigungsministerium. »Wir müssen alle anklagen und bestrafen, die Verbrechen begangen haben«, forderte dagegen Hebe de Bonafini, Vorsitzende der Mütter der Plaza de Mayo, »denn das sind die Putschisten von morgen.«
»Mit dem Gesetz Nr. 23049 zur Reform des Militärgesetzes gab Alfonsin den Streitkräften zunächst mal die Chance zur Selbstreinigung«, meinte der Anwalt Emilio Mignone, dessen Tochter von den Häschern der Diktatur verschleppt wurde und verschwand. Denn damit kamen die Angeklagten zuerst mal vor ein militärisches Gericht.
Doch das Oberste Militärgericht ergriff die Chance zur internen Säuberung nicht. Danach erst trieb der zivile Staatsanwalt die Anklage voran. Gleichzeitig versucht die Regierung die übrigen Militärs mit dem deutlichen Hinweis zu besänftigen, daß es bei dieser einen Verhandlung bleiben werde.
Hartnäckig vermeidet die Regierung, von Amnestie zu reden, obwohl sie die meint. »Das Land kann nicht ewig mit einer offenen Wunde leben«, verkündete Verteidigungsminister Raul Borras, »wir müssen einen Schlußpunkt setzen.« »Schuldiger Gehorsam« heißt die Entschuldigung, mit der Alfonsin die anderen am Verbrechen beteiligten Soldaten vor Strafe bewahren will.
Wer nur getan hat, was ihm befohlen wurde, kommt somit frei. Jene aber, die sich besonderer Grausamkeiten schuldig gemacht haben, können weiter belangt werden. »Damit meint Alfonsin die Folterer«, erklärte Mignone. Doch die Möglichkeiten einer Anklage werden rein theoretisch bleiben, denn, so der Anwalt: »Die Gefangenen hatten immer Kapuzen auf. Und die meisten sind ohnehin nach der Folter umgebracht worden.«
Tatsächlich scheinen sich die Militärs mit der Aburteilung der einstigen Junta-Mitglieder abgefunden zu haben. Doch Strafen gegen mittlere oder untere Chargen, so etwa gegen den Hauptmann Astiz, der an der Entführung und am Verschwinden von zwei französischen Nonnen und eines sechzehnjährigen schwedischen Mädchens beteiligt war, werden sie wohl kaum hinnehmen.
Die Rückberufung untadeliger Offiziere aus dem Ruhestand ist nach Auffassung demokratischer Militärs die einzige Lösung, um das Ansehen der Streitkräfte in der Öffentlichkeit allmählich wiederherzustellen. »1944 warf das Volk Blumen, wenn wir vorbeimarschierten«, erinnerte sich Ex-Oberst Ballester voller Sehnsucht, »das müssen wir wieder erreichen.«