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Minister Heilige Johanna

Unbekümmert sucht die Bonner FDP-Justizministerin ein liberales Profil - auch auf Kosten des Koalitionsfriedens.
aus DER SPIEGEL 35/1993

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger verspätet sich. Der Hamburger FDP-Yuppie Kai Westermann verbreitet die Nachricht unter den knapp 100 Bürgern des Stadtteils Harburg, die im Hotel Lindtner hören möchten, wie die FDP »Kriminalität vermeiden, Freiheit bewahren« will.

Unruhe im Saal.

Jürgen Niebrecht ist eigens gekommen, um der Bundesjustizministerin »mal die Meinung zu sagen": »Die Politiker verarschen uns doch nur.« Wer gegen den großen Lauschangriff sei, so meint er, sei auch für die Mafia: »Liberal sein heißt doch nicht, Kriminelle schützen.«

Detlef Walter will diese Frau mal erleben. Wenn die in Bonn ständig ihren Rücktritt fordern, meint der FDP-Anhänger, muß die doch irgendwie überfordert sein.

Da purzelt sie herein. Kopf rechts, Kopf links, die Haare können dem Schwung kaum folgen. Schon sprudelt die Ministerin los - von den freiheitlichen Grundrechten der Bürger, vom Gewaltmonopol des Staates und vom Kurzschluß der »alten Hasen in Bonn«, daß eine Verschärfung der Gesetze die Kriminalität reduziere.

Sie trägt ihr politisches Credo vor, ganz offen: »Argumente können überzeugend sein, und damit sind sie gut. Oder sie können gut sein, aber nicht überzeugend, dann gibt's eben Kompromisse.«

So verhält sie sich. Erst argumentieren und ausprobieren; wenn's nicht klappt, kann sie immer noch kneifen.

Irgendwo zwischen Papperlapapp und Professionalität, zwischen Politik und Unschuld sucht sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, 42, ministerielles Profil zu verschaffen. Sie wetterte draußen gegen eine Verschärfung des Asylrechts und schwieg drinnen bei den Sitzungen »auffallend« (Hans-Jochen Vogel, Ex-SPD-Justizminister). Zu der Verfassungsklage ihrer Partei gegen den Einsatz deutscher Soldaten bei Awacs-Flügen über Ex-Jugoslawien äußerte sie sich in der Fraktion, nach Meinung mancher Kollegen, wachsweich - und enthielt sich dann der Stimme.

Oft aber zeigt sie Entschlossenheit, liberale Grundwerte zu verteidigen, und verwirrt dabei manche aus den eigenen Reihen. Die »heilige Johanna des Rechts«, spöttelt CDU-Kollege Horst Eylmann, stürme ihren Mannen mit dem Banner der Liberalität voraus.

Sie macht vor der eigenen Partei nicht halt. Weil der Fraktionsvorsitzende Hermann Otto Solms »nur verwalte«, legte sie ein eigenes Strategiepapier zum Wahljahr 1994 vor, zum Ärger der FDP-Oberen.

Inhalt: Mit immer mehr Verwaltung und immer neuen Regeln komme heute keiner mehr weiter. Zukunftsweisend sei »eine neue Chance für Liberalität«. Was sie darunter versteht, ist schlicht: »So wenig Staat wie denkbar, so viel Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger wie möglich.«

Natürlich ist sie gegen das Abhören privater Telefongespräche und tut ihre Meinung unbekümmert kund. Wer für den großen Lauschangriff sei, könnte in logischer Konsequenz auch nichts gegen die Verletzung der Persönlichkeitsrechte durch Folter haben - so legte sie sich mit konservativen Parteifreunden beim FDP-Konvent in Münster an.

Die Linken verärgerte sie mit ihrer kümmerlichen Vorstellung nach der pannenreichen Terroristenverhaftung in Bad Kleinen: Erst wollte sie sich ganz heraushalten, dann versprach sie rückhaltlose Aufklärung. Und dann entließ sie Generalbundesanwalt Alexander von Stahl, um sich selbst aus der Gefahrenzone zu bringen.

Ihre Gegner in der Koalition sahen eine Chance, das »Sicherheitsrisiko Schnarrenberger« - so Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber - loszuwerden: »Die Frau in Ehren, aber bitte nicht in diesem Amt«, so der Münchner. Sie solle Probleme mit angemessenen Gesetzen lösen, nicht aber ihre persönlichen Überzeugungen durchsetzen.

An ihrem Job, an ihrer Macht, sagt die Ministerin, hängt sie nicht. Um so mehr an ihrem Ideal: »Jetzt ist die Zeit, etwas bewegen zu können.«

Die Basis schätzt solche Unabhängigkeit. »Ich liebe sie«, schwärmte beim Landesparteitag in Aschaffenburg ein Parteimitglied. Bundestagskollege Ulrich Irmer schenkte ihr einen Blumenstrauß: »Für die aufrechte Rechtsstaatfrau Blumen in gelb und blau«.

Auch in Hamburg überzeugt sie ihr Publikum. Detlef Walters Kritik wird klein: »Ihre Stimme nervt manchmal.« Jürgen Niebrecht kann jetzt ihre Haltung, den großen Lauschangriff als unliberal abzulehnen, »nachvollziehen«.

Gegen das Reizthema Lauschangriff operiert sie mit Zahlen: Was die Mafia wirklich in Deutschland anrichte, könne niemand verbindlich sagen. Klar sei dagegen, daß die Zahl von Diebstählen im letzten Jahr um elf Prozent gestiegen sei, die von Mord und Totschlag sich aber auf dem Niveau der siebziger Jahre bewege: Besser als Wanzen in den Wohnungen seien also genug Polizisten.

Gegen den Rechtsextremismus, meint sie, helfe nicht die Androhung härterer Haftstrafen. Der Staat müsse junge Straftäter in der »Prägephase« erziehen und nicht hinter Gitter bringen. Allenfalls könnte das Haftrecht zu Lasten jugendlicher Krawalltäter verschärft werden.

Bei solcher Laxheit ist der Konflikt mit dem neuen Innenminister programmiert. Als Christ wisse er, ließ Manfred Kanther auf einer Fachtagung zur Inneren Sicherheit seine liberale Gegenspielerin wissen, daß der Mensch »von seiner Freiheit nicht immer verantwortungsvollen Gebrauch macht«. Deshalb seien radikale Strafverschärfungen sowohl bei der Alltagskriminalität als auch bei der extremistischen Gewalt nötig.

Noch spürt Schnarri den Rückhalt der FDP-Führung. Für den Wahlkampf soll sie als liberales Aushängeschild dienen, obwohl viele Parteifreunde ihr Engagement mißmutig verfolgen.

Sie sei halt eine »extrem unabhängige Frau«, so Parteigeneral Werner Hoyer. Selbst Fraktionschef Solms vergab der Ziehtochter Genschers das vorlaute Auftreten und nahm sie mit einem geharnischten Brief beim Bundeskanzler gegen Vorwürfe der Inkompetenz in Schutz: diese seien »persönlich verletzend und deshalb unanständig«.

Die kühle Juristin zeigt sich jedoch erstmals angeschlagen: »Weh tut das doch; das werde ich einigen nicht vergessen.« Mehr Gefühl läßt sie nicht zu und verströmt schon wieder Optimismus für die liberale Sache. Sie will ein von der Union gefordertes neues Schwangerschaftsgesetz in jedem Fall verhindern. Und um den Zustrom von Ausländern zu regeln, will sie für ein Einwanderungsgesetz kämpfen.

Der Wahlkampfauftakt in Hamburg läßt nur eins befürchten: Sie kommt zu oft zu spät. Y

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