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NS-VERBRECHEN Heiliger Ernst

Zum erstenmal seit dem Nürnberger Militärtribunal steht ein Arzt wegen verbrecherischer Humanversuche in der NS-Zeit vor Gericht. Die Anklage: elffacher Mord durch Eiterinjektionen an KZ-Häftlingen.
aus DER SPIEGEL 43/1975

Betagte und betuchte Herren vom

feudalen Korps »Bavaria« sammelten für einen unverhofft in Not geratenen Bundesbruder. Sie stellten einen sechsstelligen Betrag als Kaution bereit, damit ihrem alten Kameraden eine peinliche Untersuchungshaft erspart bliebe. Von dessen Unschuld überzeugt, priesen sie bei der Staatsanwaltschaft seine »hohe ethische Einstellung« und seinen »tadellosen Charakter« -- so »Bavaria«-Bruder Heinz Wolf, Mitglied der Gesamtleitung des Stahlkonzerns Klöckner & Co. in Duisburg.

Repräsentanten des öffentlichen Lebens und der Industrie im Ruhrgebiet bescheinigten dem Bedrängten »Lauterkeit des Charakters« und eine »integre, nie im geringsten angezweifelte Persönlichkeit«, wie Curt Edeling, Vorstandsvorsitzender der Essener Th. Goldschmidt AG. Der Rechtsanwalt Ernst Schmid, Aufsichtsratsvize der Ruhr-Stickstoff AG in Bochum und Präsident des Rotary Clubs Essen-Mitte, schrieb namens »aller Mitglieder unseres Clubs« über den »Arzt, Rotarier und Freund": »Ich glaube, daß er zu Handhingen, wie sie ihm ... vorgeworfen werden -- auch unter Druck gesetzt -, niemals fähig war.«

Als oh nicht sein kann, was nicht sein darf. Undenkbar schien den prominenten Petenten, daß einer der Ihren, Dr. Heinrich Emil Schütz, 69, Facharzt für innere Krankheiten und Inhaber einer prosperierenden Praxis im vornehmen Stadtteil Essen-Bredeney, verantwortlich sein soll für elffachen Mord, begangen im Jahre 1942 an Häftlingen des Konzentrationslagers Dachau bei München.

Aber unter dieser Beschuldigung steht der Doktor, einst Korps-Student in München, nun doch vor dem Münchner Schwurgericht -- nach jahrelangen Ermittlungen und trotz der Entlastungsmanöver, die für die Münchner Staatsanwaltschaft eher »auf eine weit über die Nazizeit hinausreichende Gesinnungsgemeinschaft« hindeuten.

Seit dem Nürnberger Militärtribunal ist Schütz der erste Arzt, der sich vor einem ordentlichen Gericht wegen voraussehbar tödlicher medizinischer Menschenversuche (so der Anklagetenor) verantworten muß. Der Angeklagte soll »aus gefühlloser, unbarmherziger und vom Rassenwahn getragener Gesinnung« gehandelt haben. Dutzende von Zeugen aus Polen, der Tschechoslowakei und Österreich, den USA und Australien sollen in dem bis zum Jahresende dauernden Prozeß den Sachverhalt erhärten, der, so ein Staatsanwalt, »alle Merkmale unmenschlicher Grausamkeit« aufweist.

Schütz, »jahrzehntelang frisch und fröhlich unentdeckt geblieben« (so ein Staatsanwalt), leitete 1942/43 als damals 36jähriger SS-Sturmbannführer in geheimem Auftrag des Reichsführers-SS, Heinrich Himmler, Experimente an mindestens 40 Dachau-Häftlingen, vorwiegend polnischen Geistlichen aus dem sogenannten Pfarrer-Block. Und die Menschenversuche dienten einzig und allein einem Nachweis, der für Experten längst als erbracht galt -- daß die Behandlung schwerer septischer Erkrankungen mit den damals sogenannten »biochemischen« Präparaten -- Volksmittel aus der Zeit der Bader und Eisenbarts -- statt mit den bereits bewährten Medikamenten moderner Pharmaindustrie aussichtslos sei.

Die Schütz-Patienten seien, so bezeugte der ehemalige Dachau-Pfleger Heinrich Wilhelm Stöhr, ursprünglich »vollkommen gesunde und kräftige Menschen« gewesen, obschon auch in Dachau die Phlegmone als typische Lagerkrankheit grassierte -- eine eitrige Gewebsentzündung als Folge von Hungerödemen oder Wassersucht. Jedoch habe Schütz persönlich, wie Zeugen »absolut glaubhaft« (so die Anklage) bekundeten, 40 phlegmonefreie Häftlinge selektiert. Und Schütz persönlich habe vielen von ihnen ein bis drei Kubikzentimeter Phlegmone-Eiter meist in den Oberschenkel gespritzt und die Vergifteten in zwei Versuchsreihen geteilt: Je 20 Mann seien einer »biochemischen« Therapie (etwa mit Natrium muriaticum oder Magnesium phosphoricum) beziehungsweise der modernen Behandlung mit Sulfonamiden unterzogen worden.

»Die Sepsisfälle«, so hieß das damals in der Sprache des »Reichsarztes-SS« Dr. Ernst Grawitz, der über das Phlegmone-Programm seinem Chef Himmler berichtete, »wurden größtenteils künstlich gesetzt« (auch in anderen Konzentrationslagern) -- und »kamen größtenteils ad exitum«. Nachweislich starben auch mindestens elf der Dachauer Schütz-Patienten.

Die es überlebten, weil ihnen mitleidige Pfleger unter Lebensgefahr heimlich auch Sulfonamide gaben, schilderten Fieberwahn und »fürchterliche Schmerzen«. »Die Beine schwollen, vereiterten und faulten«, berichtete der Zeuge Isydor Szyma aus Krakau, »ich konnte es vor Schmerzen nicht aushalten, ich schrie und heulte wie ein Tier.«

SS-Arzt Schütz, der im Lager stets die SS-Kluft und nicht den weißen Arztkittel trug, diktierte die Krankengeschichten (von denen eine als Dokument im Prozeß vorliegt) und ließ die eitrigen Abszesse photographieren. Er dosierte, gaben Zeugen zu Protokoll, die Medikamente, die nicht heilen sollten, aber »barbarische Qualen« verursachten und mitunter alle fünf Minuten, auch nachts, eingenommen werden mußten -- offenbar ganz im Sinne von Heinrich Himmler, der für die Eiter-Experimente »Zivilcourage« befahl und den »heiligen Ernst, etwas erforschen zu wollen«.

Erforscht werden sollte in Wirklichkeit gar nichts. Vermutlich wollte der SS-Chef, der im allgemeinen eine schlechte Meinung von den Medizinern hatte ("Die Ärzte sind Bürokraten, daß es einen Hund jammern kann"), lediglich Behauptungen entkräften, daß der im Mai 1942 nach einem Bombenanschlag in Prag an Blutvergiftung gestorbene Reichssicherheits-Chef Reinhard Heydrich hätte gerettet werden können, wäre er mit biochemischen Präparaten behandelt worden.

Himmler-Briefe beseitigten jedenfalls bei der Münchner Staatsanwaltschaft »allerletzte Zweifel daran, daß das ausschließliche Ziel der Versuche« in der »Abqualifizierung einer bereits als wirkungslos angesehenen Medizin« bestand. Das Ableben der Testpersonen sei mithin als »notwendige Folge der Versuchsreihe« betrachtet worden.

Schütz, der nach dem Krieg als »Mitläufer« entnazifiziert wurde und sich 1947 in Essen niederließ, weiß heute aus seiner Dachauer Zeit nur noch, daß er offiziell Leiter einer sogenannten Kreislaufprüfstelle war -- sonst läßt er sich zur Sache nicht ein. Zu seiner Entlastung bot er nur einen Packen vergilbter Papiere an: Persilscheine, teils von Leuten, die ihn erst nach 1945 kennengelernt hatten, »keinesfalls geeignet« für die Staatsanwaltschaft.

Einer der von Schütz benannten Zeugen, Alfred Langbein, sagte bei seiner Vernehmung, die angeblich von ihm stammende eidesstattliche Erklärung vom 1. April 1947 könne er gar nicht abgefaßt haben. Vermutlich sei sie ihm damals während seines Aufenthaltes im US-Hospital zu Garmisch-Partenkirchen »zur Unterschrift untergeschoben« worden.

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