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CHINA Heißes Blut

Neue Boulevard-Zeitungen liefern Sex und Crime. *
aus DER SPIEGEL 32/1985

Sie schmiegte ihren geschmeidigen Körper gegen seinen Rücken. Yu konnte nicht weiterschreiben, er drehte sich um und drückte sie fest an sich: Sie war nicht länger die zurückhaltende Rotgardistin aus der Radiostation, sondern weich und willig zu tun, was immer er wollte ...«

Die Episode stammt aus der chinesischen Erzählung »Der merkwürdige Traum von Pfirsichblüten«, wobei das botanische Symbol in China schon annonciert, worum es geht: Die blumige Umschreibung steht für die weiblichen Geschlechtsorgane.

Die amouröse Geschichte fällt nicht mehr unter das Verdikt sittenstrenger Kommunisten, sondern steht in einer der neuen »Kleinen Zeitungen« Chinas, die en masse das liefern, was dem sinnenfrohen Volk der Mitte jahrzehntelang von der Partei verweigert wurde: Die Lektüre von Sex und auch von Crime. »Aber noch während die beiden jungen Leute sich selbstvergessen miteinander vergnügten«, geht der Pfirsichblüten-Traum weiter, »stand plötzlich Yang vor ihrem Bett: in der Hand hielt er ein Fleischermesser.«

Gedruckt auf billigem Papier und im handlichen Kleinformat - daher der Name -, überschwemmt die neue Boulevardpresse den chinesischen Markt zwischen der Tropeninsel Hainan im Süden und dem Ussuri im Norden.

Parteikader und Militärs in der ersten Eisenbahnklasse schmökern in den Blättern. Angestellte am Büroschreibtisch wie Arbeiter auf Baustellen greifen in der Mittagspause zu den Sensationen.

»Geisterschatten im Leichenschauhaus«, »Das Verbrechen am Fuße des Berges« oder »Nachts in einem Apartment an der See«, so sind die Geschichten überschrieben, die wegen ihrer pikanten Stellen als »gelbe Romane« gelten - wobei im Chinesischen »gelb« in diesem Zusammenhang »pornographisch« bedeutet, obschon es sich eher um trivialen Kitsch handelt:

»Ihr heißes, junges Blut, lange aufgestaut, begann zu brodeln und zu sieden, es schmolz der Eisberg der moralischen Bedenken. In dem kleinen Pavillon auf dem Sieben-Feen-Berg, am Oberlauf des Pfirsichstromes, wurden die beiden für einige Tage zu Sklaven ihrer fleischlichen Gelüste.«

Die gelbe Presse gedeiht vor allem in Chinas Randprovinzen, wo - fern vom politischen Zentrum - die Kontrolle über Zeitungen und Zeitschriften lascher gehandhabt wird: vor allem in Schansi, in der Hongkong nahen Provinz Kuangtung und dem angrenzenden Kuangsi.

Die prüden Pekinger Beamten aber äußerten sich über die Flut von gelben Schundromanen bestürzt. »Wenn diese ungesunden Zeitungen unkontrolliert verbreitet werden«, warnte Parteichef Hu Yaobang, »dann werden sie die Gedanken der jungen Leute verderben und die Moral der arbeitenden Bevölkerung untergraben.« Für Nichtarbeitende scheint die gelbe Gefahr geringer zu sein.

Die Partei hat besorgte Eltern auf ihrer Seite, die unter dem Kopfkissen ihrer Kinder laszive Schriften fanden.

Lehrer in Schanghai empörten sich darüber, als sie herausgefunden hatten, daß sich Mittelschüler, 14 bis 15 Jahre alt, mit dem Vertrieb von »Kleinen Zeitungen« ihr Taschengeld verdienen.

Schon im April erneuerte die Regierung das seit langem bestehende Verbot der Pornographie, dennoch blüht der Umsatz, laufen die Leser von der Parteipresse zu den laut Regierung »ungesunden« Blättern über: Die drei großen Zeitungen Kantons und die rund 600 anspruchsvollen Magazine der umliegenden Provinz Kuangtung melden sinkende Auflagen.

Bei der Partei-Kampagne gegen »geistige Umwelt-Verschmutzung« ging es vor zwei Jahren gegen die Reformpolitik; der verantwortliche Chefideologe der Partei, Deng Likun, verlor jetzt erst seinen Posten. Im Kampf gegen die Sexblätter aber geht es vornehmlich um Marktanteile: »Während die seriöse Presse mit knappen Papierzuteilungen und steigenden Preisen zu kämpfen hat«,

beklagte sich die »Pekinger Abendzeitung«, »scheint das die Herausgeber der Sensationspresse nicht zu stören.«

Der Handel mit den »Kleinen Zeitungen« ist ein großes Geschäft. »Natürlich sind die Herausgeber vom Profit motiviert«, sagt ein Redakteur, dessen Blatt in Kanton allein eine Auflage von 200000 Exemplaren hat. »Warum sonst würde sich jemand wohl damit abgeben, eine Zeitung zu publizieren?«

Eine Ausgabe vom März mit einem langen Artikel über die Ex-Schauspielerin, frühere Mao-Geliebte und Chef-Rotgardistin Tschiang Tsching (derzeit in Haft) brachte allein in Kanton mit einer Million Exemplaren einen Gewinn von 30000 Jüan, das entspricht dem Monatslohn von 380 Industriearbeitern.

Angesichts solcher Verdienstspannen mischen sich selbst angesehene Verlagshäuser ins Geschäft mit den Kleinzeitungen, unter unverfänglichen Titeln wie »Vergangenheit und Gegenwart«, »Geschichten aus dem Rechtssystem«, »Yuhaier Zeitung für Kunst und Kultur« oder ganz romantisch »Weidenkätzchen«. Sogar Fachzeitschriften wie »Demokratie und Rechtssystem« oder das Polit-Magazin »Ausblick« bringen Ehetragödien und Mördergeschichten als Leseanreiz.

Der Schauplatz der Handlung befindet sich am besten im kapitalistischen Ausland oder in der vorsozialistischen Vergangenheit. »Die Geschichte vom Mord in der Hexengrotte Nr. 76« schildert detailliert Folter und Brutalitäten - in Schanghai unter japanischer Besetzung. Die Erinnerungen einer Prostituierten ("Taiwanesische Schwester") spielten auf der Inselrepublik des politischen Gegners. »Der Traum vom Ausland« erzählt die enttäuschenden Erlebnisse einer Chinesin, die ihrem Liebhaber nach Hongkong folgt.

Doch auch die Kulturrevolution, heute nur »Das Jahrzehnt des Chaos« genannt, kann den Hintergrund für anschauliche Schilderungen von Erpressung, Vergewaltigung und Mord abgeben.

Die »Kleinen Zeitungen«, die von fliegenden Händlern an der Straßenecke angeboten werden, kosten mit zehn bis zwölf Fen (rund 15 Pfennig) etwa soviel wie ein Exemplar des Parteiblatts »Volkszeitung« oder ein Busfahrschein, aber für die nach Format und Seitenzahl den Mini-Blättern entsprechende »Pekinger Abendzeitung« braucht der Leser nur drei Fen zu zahlen.

Den Mehrwert beim gelben Schund teilen sich staatliche Verleger, kollektive Grossisten und private Einzelhändler. Seit das Postministerium Ende April beschloß, Pornographie nicht mehr für den Postversand zuzulassen, bestellen die Großabnehmer direkt ab Druckerei: »Unsere Zeitung heißt jene Buchläden aller Gegenden willkommen, die mehr als 3000 Exemplare vertreiben können«, teilt die Zeitung »Vergangenheit und Gegenwart« aus der Südprovinz Kuangsi ihren Lesern mit.

»Bei mehr als 100000 Exemplaren werden besonders günstige Konditionen gewährt und der Exklusivvertrieb für eine Provinz garantiert.« Für ganz Eilige steht die Kontonummer der Volksbank-Niederlassung gleich dabei.

Die städtischen Kulturämter, so berichtete ein Straßenverkäufer, kümmern sich nicht um den Inhalt, sondern nur um die drei Jüan (3,60 Mark) Standgebühren. »Sie sehen nur zu, daß sie die Verwaltungsgelder pünktlich kassieren, und das wär's dann.«

Die Polizei paßt besser auf. In Peking wurden jüngst 700000 Exemplare von 76 Zeitungen eingezogen, auf dem Pekinger Bahnhof 400000 beschlagnahmt. In Szetschuans Provinzhauptstadt Tschengtu wurden 20000 Exemplare sichergestellt, in Schanghai 40 Tonnen dieser Zeitungen konfisziert.

Denn die Kriminalen haben die trivialen Blätter als Schuldige an der Zunahme der Verbrechen ermittelt: Die sensationellen Geschichten in den Boulevardzeitungen hätten junge Menschen verleitet, Mädchen zu vergewaltigen und totzuschlagen.

In Schengjang geriet laut Lokalpresse der Bürger Liu Baoying durch pornographische Texte derart in Rage, daß er gleich mehreren Frauen Gewalt antat. Er wurde zum Tode verurteilt.

Vor der Exekution nannte er den Grund, der andernorts die Strafe gemildert hätte: »Diese pornographischen Zeitungen haben mich auf den Hinrichtungsplatz gebracht.«

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