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Henry Kissinger und der Krieg in Kambodscha

aus DER SPIEGEL 44/1979

Es gibt blinde und dunkle Flecken in

dem staunenswerten Buch von Henry Kissinger. Es gibt sein Wissen um die Pläne zur Entführung des Putsch-unwilligen chilenischen Generals Schneider, die mit dessen Tod endete. Es gibt die von ihm gebilligte Überwachung der Telephone seiner eigenen Mitarbeiter ("Ich glaube, wir haben dem FBI die Namen von sieben oder acht Leuten gegeben").

Nur kann niemand annehmen, Chiles sozialistischer Präsident Salvador Allende hätte sich ohne Kissingers Handlungen oder Nichthandlungen behaupten können. Und der Abhörsport hatte Unter Nixon solche Ausmaße, daß Kissinger gewiß beteiligt, aber nicht der Schurke im Stück war.

Anders steht das mit dem Bombardement Kambodschas Anfang 1969 und dem Vorstoß der Amerikaner und Südvietnamesen über die Grenzen Kambodschas April/Mai 1970. Beide Aktionen hat er, obwohl noch nicht fest im Sattel, mit zu verantworten.

Hier stellt sich die Frage, ob Kissinger den Tod und das unsägliche Elend der noch übriggebliebenen Kambodschaner, sei es durch halbherzige Anpassung an die Wünsche Nixons, sei es aus fehlsamer Einschätzung, mitverschuldet hat.

Nicht zufällig verhakte sich Kissingers Fernsehdialog mit dem britischen Hardware-Journalisten David Frost über dessen penetranten Fragen hinsichtlich Kambodschas. Kissinger fand sie impertinent.

Wenn die Dinge schieflaufen, taucht bei Kissinger (zu) bald das Wort »Tragödie« auf: »Ich meine, wir haben eine Tragödie geerbt. Wir versuchten, Amerika ehrenvoll aus dieser Tragödie herauszubekommen, und das haben wir erreicht.« Dagegen Frost: »Sie haben keine Tragödie geerbt, sondern eine unangenehme Situation in Kambodscha. Keine Tragödie.«

Die unangenehme Situation war folgende: Entlang der Grenze zwischen Kambodscha und Vietnam hatten sich die Nordvietnamesen seit vier Jahren auf einem acht Kilometer breiten Streifen eingenistet, um ihren Nachschub zu sichern und um Vorratslager zu unterhalten. Der Streifen lag auf dem Gebiet Kambodschas. Dessen volkstümlicher Diktator Prinz Sihanouk, ein Equilibrist ersten Ranges, konnte oder wollte die Nordvietnamesen von seinem Gebiet nicht vertreiben.

Die moralische Frage stand so: Durfte Nixon, der doch entschlossen war, Vietnam sich selbst zu überlassen, Kambodscha in einen Krieg hineinziehen, der den relativen Frieden der damals noch Sieben-Millionen-Bevölkerung notwendig zerstören mußte?

Die Nordvietnamesen verließen sich nach dem Amtsantritt Richard Nixons nicht auf Nixons Beteuerungen, der ja auch lediglich einen »ehrenhaften Frieden« versprochen hatte. Sie griffen in Südvietnam weiter an. Schließlich hatten sie bis zum Friedensschluß noch vier Jahre Zeit, bis zur Wiederwahl Nixons nämlich im Herbst 1972. Pro Woche fielen, so schreibt Kissinger, 400 US-Soldaten. Was tun?

Das Problem stellte sich in zwei Zügen, die später gekoppelt waren. Frage: Sollten die Bereitstellungsräume auf Sihanouks Gebiet gebombt werden?

Antwort: Ja. Sie wurden mit schwersten Bomben belegt. Die Angriffs-Operationen führten die hübschen Namen »Lunch«, »Breakfast«, »Dinner«, »Snack«, »Dessert«, »Supper«. das Ganze hieß »Menu«. Das Bombardement entsprach der Empfehlung des Oberkommandierenden in Vietnam, General Abrams, und des US-Botschafters in Saigon, Ellsworth Bunker.

Dazu Nixon in seinen Memoiren: »Bill Rogers und Mel Laird widersprachen dieser Empfehlung. Sie fürchteten den Aufruhr im Kongreß und in den Medien, wenn ich den Krieg nach Kambodscha ausweiten würde.« Aber Kissinger habe ihn bestätigt: »Warum sollen wir uns darum scheren, ob uns die »New York Times? einen draufgibt, wenn es uns hilft, den Krieg schneller zu beendigen?«

Kissinger beteuert, in den Zielgebieten hätten keine kambodschanischen Zivilisten gelebt, und er mag das damals auch geglaubt haben. Frost hielt ihm ein Schreiben des Vorsitzenden der »Joint Chiefs of Staff« an den Verteidigungsminister Melvin Laird vor, in dem vorgeschlagen wurde, das Areal 704 solle besser nicht gebombt werden, weil dort zu viele Zivilisten seien. Kissinger: Well, dann haben wir es vermutlich auch nicht gebombt.

Frost: Doch, 704 haben wir gebombt? 6780 Tonnen wurden dort abgeladen.

Dies scheint nicht zu stimmen. Die Basis 704, bis heute ohne Operationsnamen, wurde nicht gebombt. Die Militärs bombten die Basis 740, Angriffsbezeichnung »Supper«.

In diesem Angriffsziel 740 lebten nach Schätzung des Pentagon 1136 Zivilisten, wobei die Genauigkeit dieser Zahl verwundern muß. Es stimmt also nicht, daß keine Zivilisten in diesen gebombten Räumen lebten.

Wohl aber mag stimmen, daß die Verluste unter der Zivilbevölkerung »minimal« gehalten werden sollten. Vermutlich starben aufgrund von »Menu« mehr kambodschanische Zivilisten, als amerikanische Menschenleben durch diese Operation gerettet wurden.

Ein Jahr später, am 30. April 1970, kam Richard Nixon öffentlich auf dieses Bombardement, oder vielmehr in seiner Version auf dieses Nichtbombardement, zu sprechen.

Frost: Sie schreiben in Ihrem Buch: Nixon fügte seiner Invasionsrede vom 30, April einen Satz an, der für sein Hauptanliegen ebenso unerheblich wie im übrigen falsch war. Er sagte, bis dahin seien wir nicht gegen die »Zufluchtstätten« vorgegangen, und vergaß dabei das geheime Bombardement.

Kissinger: Diese Aussage hätte nicht gemacht werden sollen.

Frost: Warum gab er dieses Statement? Kissinger: Weil er zu Übertreibungen neigte.

Frost: Warum haben Sie dasselbe gesagt In Ihrem l-lintergrundgespräch mit der Presse am gleichen Tag?

Kissinger: Weil ich annahm, wir hatten nicht -- für uns war die Bombardierung dieser Gebiete so alltäglich geworden, daß unsere Gedanken nicht darauf konzentriert waren. Doch die Aussage war nicht korrekt.

Aber Nixon neigte gar nicht zu Übertreibungen, jedenfalls nicht in diesem Fall. Er hat in seinen Memoiren eine völlig plausible Erklärung gegeben: »Solange wie wir das Bombardement geheimhielten, wußten wir, daß auch Sihanouk stillhalten würde; würde das Bombardement aber bekannt, müßte er öffentlich protestieren.«

So erfuhren nicht einmal die Vertrauensmänner mi Kongreß, daß der Krieg auf ein anderes Land ausgeweitet worden war. Diese Ausweitung untergrub die Stellung des flamboyanten Staatschefs Norodom Sihanouk, der das Land so gerade eben noch aus dem Krieg heraus- und zusammenhielt.

Sihanouk hat sich verschiedentlich verschieden geäußert. Aber unter dem 28. März 1969 sagte er auf einer eigens zu diesem Zweck einberufenen Pressekonferenz -- sie fehlt in Kissingers Buch -- diese prophetischen Worte:

Sie (die Amerikaner) haben niemals gewagt zu sagen, ich würde solche Bo,bardemente billigen. Aber sie haben gesagt, ich würde dagegen nicht angehen. Nun gut, ich werde dagegen angehen aus dem einfachen Grund, weil diese Bombardements noch keinen einzigen Kommunisten getötet haben. Sie haben nur einfache Bauern getötet, Männer und Frauen. Ich möchte nicht Gefahr laufen aufgrund. ihrer Bombardements, daß der Krieg sich auf Kambodscha ausweitet. Das bedeutet, ich werde unter allen Umständen jedem Bombardement des Territoriums von Kambodscha widerstehen. Die eigentliche Absicht der Amerikaner ist, jeden Tag Tod über die Bevölkerung Kambodschas zu bringen, um diese Bevölkerung glauben zu machen, daß es meinetwegen niemals Frieden mit den Amerikanern geben kann. Ich soll dahin gebracht werden, einem Regime zu weichen, das mehr rechts und. mehr prowestlich und mehr für die USA ist.

Zwei Sachen werden passieren. Zum ersten, die Landbevölkerung wird leiden, und meine Regierung wird nicht imstande sein, so wird es wenigstens aussahen, das Bombardement der Amerikaner zu stoppen. Zweitens wird die Furcht der Kambodschaner, die eigene Häuser haben, verstärkt. Wenn diese beiden Bedingungen zusammenkommen, die Leiden der einfachen Menschen und der Bauern und die Furcht der Reichen, dann wird die Frucht reif von Kambodschas Baum fallen. In dieser Richtung werden sich die Dinge entwickeln, wenn es nach dem Wunsch der Amerikaner geht, denn die Amerikaner wissen sehr genau, daß nichts dergleichen passieren wird, solange ich da bin.

Was auch immer die Absichten einzelner oder vieler oder aller Amerikaner gewesen sein mögen, es kam genau so. Sihanouk wurde am 18. März 1970 während einer Auslandsreise von seinem streng antikommunistischen Ministerpräsidenten Lon Nol abgesetzt. Die halbe Neutralität Kambodschas zerbrach. Die bis dahin bedeutungslosen Khmer Rouge, geschätzt auf zwischen 300 und 4000 Mann etwa, wurden zu einer wichtigen Macht im Land, da Lon Nol sich am Kriege beteiligte.

Nun entschloß sich Nixon zu der wohl umstrittensten und vielleicht folgenschwersten Maßnahme während seiner gesamten Außenpolitik: Er ließ amerikanische Streitkräfte nach Kambodscha einmarschieren. Die Wirkung in der westlichen Welt war ungeheuerlich. Nationalgardisten erschossen vier protestierende Studenten auf dem Campus der Kent State University. Kissinger verteidigt diesen Vorstoß in seinem Buch. Aber da begegnen wir einer Merkwürdigkeit. Es heißt da: In einer 20 Minuten dauernden Sitzung mit Rogers, Laird und Mitchell bestätigte der Präsident seine Entscheidung, den nordvietnamesischen Versammlungsraum im »Angelhaken« von amerikanischen und südvietnamesischen Verbänden angreifen zu lassen.

Dabei ließ er im Protokoll notieren, der Außenminister und der Verteidigungsminister hätten die Verwendung amerikanischer Streitkräfte abgelehnt und Dr. Kissinger sei »abgeneigt« gewesen. (Das traf jetzt nicht mehr zu; ich hatte meine Meinung schon seit mindestens einer Woche geändert. Nixon warf mich, wie ich glaube, aus den verschiedensten und wie immer nicht ganz durchsichtigen Gründen mit den beiden Kabinettsmitgliedern in einen Topf. Sicher wollte er mich großzügig vor den Vorwürfen der Ministerien abschirmen, doch zweifellos wollte er auch selbst den Eindruck des einsamen, gegen die Widerstände seiner Mitarbeiter ringenden Führers erwecken.)

Nixon erklärte, er würde eine Zusammenfassung der Ereignisse diktieren, die ihn zu dieser Entscheidung geführt hätten, und dabei auch die Gegenempfehlungen seiner wichtigsten Ratgeber anführen. Wenn Kissinger nicht »abgeneigt« (englisch: »leaning against") war, warum sagte er das seinem Präsidenten nicht? Vielleicht war er etwas ambivalent damals. Drei Mitarbeiter seines Stabes verließen ihn wegen dieser Entscheidung. Gegenüber Besuchern aus Harvard und von Übersee äußerte er sich sibyllinisch*.

Richard Nixon meint, die Ereignisse von Kent State hätten auch eine schwere Erschütterung von Henry Kissingers Moral mit sich gebracht. Von vielen seiner loyalsten Freunde sei er zum Rücktritt aufgefordert worden:

An einem Tag, als mehrere dieser Briefe ihn erreicht hatten, kam er in mein Office und saß da, unglücklich aus dem Fenster starrend. Schließlich sagte er: »Ich glaube, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen, soweit unsere außenpolitischen Erwägungen im Spiel waren. Aber mit Blick auf das, was passiert ist, fürchte ich, daß ich versäumt habe, Sie gleichermaßen hinsichtlich der innenpolitischen Gefahren zu beraten.«

Ich sagte ihm, daß ich mir der militärischen und politischen Risiken voll bewußt gewesen sei. Ich selbst hätte die Entscheidung getroffen, und ich hätte die Verantwortung dafür voll auf mich genommen. Schließlich sagte ich: »Henry, denken Sie an Lote Weib. Blicken Sie niemals zurück. Verschwenden Sie keine Zeit damit, alte Geschichten aufzuwärmen, an denen wir doch nichts ändern können.«

Heute schreibt Kissinger: »Doch in Wirklichkeit hatte Nixon im Fall Kambodscha recht.« Warum hatte er, laut Kissinger, recht? Weil der Feind ernsthaft behindert, weil Kriegsmaterial vernichtet oder erbeutet wurde. Nixon schreibt, in den 6 Monaten vor dem Einfall hätten die amerikanischen Verluste 93 pro Woche betragen, in den 6 Monaten darauf nur 51.

Der Kriegsschauplatz bildet in Kissingers Version eine Einheit. Wenn Sihanouk die Nordvietnamesen nicht vertreiben konnte oder wollte, und wenn er selbst bereits vertrieben war, warum dann nicht mit Hilfe der Südvietnamesen in ein Land einfallen, in dem die Bürgerkriegs-»Aggressoren« sich ungestört breitmachen durften?

Wir stoßen hier auf zweierlei Begriffe von Moral: War der Krieg in Vietnam moralisch gerechtfertigt, was er nach vieler Leute Meinung nicht, nach Kissingers Meinung aber war, dann konnte man »völkerrechtlich abgesichert« (hier können nur noch »Gänsefüßchen« helfen) in Kambodscha einfallen. Wenn 400 tote Weiße 4000 tote Asiaten wert sind: Warum dann nicht auf dem Potomac an Washingtons Landsitz Mount Vernon mit Richard Nixon und Bebe Rebozo salutieren?

Kambodscha wollte überleben, aber es war auch unter Prinz Sihanouk kein neutrales, es war de facto ein halb kriegführendes Land.

* Jener Journalist, der mir damals erzählte, Kissinger habe im Hinblick auf vietnam von einem »decent interval«, von einer »Schamfrist« gesprochen, will sich heute an diese Aussage partout nicht mehr erinnern.

Von Prinz Sihanouk habe ich vor drei Wochen selbst gehört, daß sein streng antikommunistischer Premier Lon Nol die Nordvietnamesen mit Reis beliefert hat. Lon Nol wurde reich darüber, obwohl ihm das jetzt wenig nützt.

Aber er, Sihanouk, habe den Hafen

Sihanoukville (siehe Karte Seite 225) genutzt, um Kriegsmaterial, »quite a

lot«, an die ungeliebten Besitzer seines Grenzstreifens weiterzuliefern. Das meiste kam von den Chinesen. Er durfte »ein Drittel« für sich abzweigen. Von strenger equilibristischer Neutralität kann also hier die Rede nicht sein.

Ein anderer, nach meiner Überzeugung richtiger Moralbegriff würde besagen, daß die Verhältnismäßigkeit der Mittel im Leben der Völker wie des einzelnen immer gewahrt bleiben muß. Man kann nicht aus Vietnam rausgehen und kann gleichzeitig dem kleinen Kambodscha Hilfe anbieten. Dies aber ist unter Kissinger so geschehen.

Sihanouk fuhr Anfang Januar 1970 nach Frankreich, um abzuspecken und sonstwie zu privatisieren. In seiner Hauptstadt rumorte es, wie er vorausgesehen hatte. Flüchtende Kambodschaner und, teilweise, auch kämpfende Vietnamesen waren auf Grund der amerikanischen Angriffe nach Westen ausgewichen, sie waren in das bevölkerte Land eingedrungen. Dem Prinzen traute man Abhilfe nicht mehr zu. Der Seiltänzer stand ohne Seil und ohne seine Gleichgewichtsstange da.

Der von ihm eingesetzte Premierminister Lon Nol, der Reisverkäufer, bereitete den Coup vor. Mir hat Henry Kissinger in Frankfurt erklärt, noch in Paris Anfang März 1970 hätten die Amerikaner Sihanouk nach Pnom Penh zurückgeflogen, wenn Sihanouk selbst das gewollt hätte. Für Kissinger persönlich mag das gelten, und Nixon hatte wohl gar keine Idee von einem bevorstehenden Umsturz.

Nur, Sihanouk wollte nicht. Er flog am 13. März nach Moskau, wo Staatspräsident Podgorny ihn bei der Ankunft ins Bild setzte über seine heimischen Unruhen und ihm riet, nach

Hause zu fliegen.

Kissinger und Sihanouk stimmen in dieser Darstellung überein. Podgorny riet, und Sihanouk wollte nicht. Es gibt Gerüchte, nicht mehr als das, die besagen, Sihanouk habe seinem Geheimdienstchef Anweisung gegeben, während seiner Abwesenheit Lon Nol und dessen Helfer »zu maniküren«.

Würde das stimmen, so wäre klar, warum Sihanouk nicht nach Pnom Penh flog. Er wird sehr böse, wenn man ihn fragt, warum er am 13. März 1970 nicht nach Hause geflogen sei, um seine Widersacher zu zerquetschen. Am 18. März putschte Lon Nol.

Es scheint, als sei Nixon tatsächlich überrascht gewesen. Aber: »Meine unmittelbare Eingebung war, alles in unseren Kräften stehende zu tun, um Lon Nol zu helfen.« Rogers, Laird und CIA-Chef Helms hätten ihn umgestimmt, Helms mit dem Argument, Lon Nol werde es nicht lange machen (er machte es noch 5 Jahre).

Auch Nixon glaubte nicht an die Überlebensfähigkeit Lon Nols. Aber, in Vorbereitung des amerikanischen Einmarsches nach Kambodscha schrieb er an Kissinger: »Ich glaube nicht, daß Lon Nol überleben wird. Indessen, er hat eine gewisse Chance, und in jedem Fall müssen wir irgend etwas Symbolisches tun, um ihm zu helfen, damit er überlebt.« Man beachte das Wörtchen »symbolisch«.

Nixon witterte die Chance einer zweiten Front, obwohl er den Krieg doch eigentlich beenden wollte, und Kissinger hat mitgemacht. Daß der Kongreß hier zuerst nur zögernd und dann überhaupt nicht mehr mitmachte, hat beide äußerst verwundert. Uns muß verwundern, wie beide noch annehmen konnten, der ständig düpierte Kongreß würde mitmachen.

Moskau hatte soviel Interesse an Sihanouk und dessen Balance-Politik wie Kissinger. Sihanouk hingegen, tatsächlich ein Patriot seines Landes Kambodscha, konnte auf die Karte der Russen und der Nordvietnamesen nicht setzen. Kambodschaner und Vietnamesen sind Feinde von Geburt.

Also flog Sihanouk, statt nach Pnom Penh, nach Peking. Dies war eine realistische Entscheidung. Sihanouk ist kein Husar, er lebt und überlebt gerne.

Daß die Bomberei und der Einfall in Kambodscha seinen Balance-Akt kaputtgemacht hatten, wußte er. Die Feindschaft zwischen Kambodscha und Vietnam kannte er besser als jeder andere. Und somit ist die Darstellung, die er heute gibt, überzeugender als die Henry Kissingers in dessen Buch (mag auch der »balance prince« sonst mit den Fakten sorgloser umgehen als Henry himself).

Was weder Kissinger noch Sihanouk ahnen konnten, waren die Völkermordpraktiken des Regimes Pol Pot ("un homme trés sympathique«, Sihanouk). Pol Pot mit seinen Khmer Rouge war winzig, als die Amerikaner ihren unerklärten Krieg anfingen. Er wurde groß durch diesen Krieg.

Das schrecklichste Regime seit Bestehen geschriebener Geschichte verbindet sich mit dem Namen Pol Pot. Wenn Henry Kissinger heute voller Emphase erklärt, ohne das Eingreifen der Amerikaner wäre Kambodscha schon 1970 kommunistisch geworden, von den Nordvietnamesen besetzt, so ist die Antwort klar: Ohne das achtlose Eingreifen der Amerikaner in Kambodscha wären Kinder, Frauen und Männer Kambodschas teils noch lebendig, teils besser dran.

Hätte man den Deutschen zu Beginn des Dreißigjährigen Kriegs gesagt, es gehe jetzt darum, daß sie entweder auf der Stelle katholisch oder protestantisch oder dreißig Jahre lang von einem Krieg überzogen würden, so wäre die Antwort wohl eindeutig ausgefallen.

Unter Zornestränen sagte Henry Kissinger 1974 in Salzburg: »Ich würde lieber haben, daß, wenn Bilanz gezogen wird, man sich erinnert, daß vielleicht einige Leben gerettet wurden und daß vielleicht einige Mütter sorgenloser leben können, aber das mag die Geschichte entscheiden.« Für die gelben Menschen kann dieser Spruch nicht gelten. ·

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