Zur Ausgabe
Artikel 1 / 75

Herbert Wehner 70: Ein nicht-einfaches Leben

Neben Konrad Adenauer hat Herbert Wehner die Politik der Bundesrepublik am nachhaltigsten beeinflußt, der am 11. Juli 70 Jahre alt wird. Fast zwanzig Jahre lang war er Kommunist, über zehn Jahre kämpfte er gegen Adenauer; die nächsten zehn Jahre verwandte er darauf, sich und die SPD mit den beiden Adenauer-Parteien zu versöhnen und einen SPD-Kanzler an die Macht zu bringen: Garant des Staates, den er nicht gewollt.
aus DER SPIEGEL 28/1976

Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, und mehr als das. Aber der Mohr will nicht gehn. Herbert Wehner, demnächst 70, wuchtigster SPD-Führer seit August Bebel, bereitet seine Wiederwahl in das Amt des Fraktionsvorsitzenden jenes Bundestages vor, dem er seit nun 27 Jahren angehört.

Der Mann, der keinen politischen Freund hat, der niemandem traut und auf den doch alle bauen, entzieht sich der ihm von der Fraktion zugedachten Jubelfeier durch Flucht in sein Ferienhaus auf der schwedischen Insel Öland; unflätiger Schimpfer in einem Parlament, in dem kein anderer so reiche parlamentarische Erfahrung und einen so altbackenen Respekt vor dem Parlamentarismus hat; rücksichtsloser Einpeitscher des von ihm allein als richtig zu Erkennenden; Doppelzüngler, Einzüngler, Zungenbrecher, Schachtelsätze-Herausstoßer; und vielleicht der Mann, der zuwege gebracht hat, daß Adenauers Bundesrepublik einen Regierungswechsel erlebte und dadurch zur Demokratie geworden ist.

Die meisten seiner Fraktionskollegen, die sich von ihm nicht eben als »mündige Bürger« behandelt fühlen, sähen ihn nach der Bundestagswahl lieber auf einem Ehrenposten. Hat nicht Wehner selbst vor akkurat zehn Jahren geknurrt. »Mitunter denke ich, Feierabend«?

Nur, der Karren ist noch immer so gelaufen, wie der »alte Fuhrmann« (Wehner über Wehner) gewollt hat. Und also gilt, sollte die SPD in die Regierung zurückkehren, immer noch die Drohung wie die Verheißung des Vorsitzenden, er werde den Karren so lange ziehen, »wie der Karren es will«.

Neue Gesichter scheinen derzeit gefragt, egal ob sich hinter der glatten Stirn etwas abspielt. Von den alten Gesichtern aber ist keines, sogar das des Franz Josef Strauß, einer Bürger-Mehrheit so suspekt wie das kantig-zerkerbte dieses menschlichsten und unmenschlichsten aller Bonner Politiker.

Die Gesamtwählerschaft wie auch die potentiellen Wechselwähler haben für ihn noch weniger Sympathie übrig als für Strauß: laut Demoskop Kaltefleiter bucht Kanzler Schmidt von zehn möglichen Punkten beide Male 6,6; Strauß 3,9 bei der Gesamtwählerschaft, 3,7 bei den Wechslern; Wehner 2,9 insgesamt und 2,7 bei den von ihm so genannten Pendlern. Frauen finden ihn unsympathischer als Männer.

Strauß, bei der Wähler-Mehrheit auch nicht gerade mit einer Kreditkarte ausgestattet, über das Schlußlicht: »Den müssens ja im Wahlkampf verstecken!« Funk und Fernsehen, nach Proporz zugeteilt, sperrt ihm die Parteizentrale.

Bei den Bundestagsabgeordneten, die unter seiner Fuchtel stöhnen, ist keine Umfrage nötig. Nahezu alle geben zu, daß Wehner, was Instinkt und Trieb zur Machterhaltung angeht, von niemandem übertroffen wird, sogar von Kanzler Schmidt nicht. Sonst aber sind die Klagen vielfältig.

Keine Motivation für die jüngeren Abgeordneten, keine Nachwuchspflege, die überläßt er einem eingefahrenen Klub auf Gegenseitigkeit, die Fraktion managt sich selbst. Die »Freunde sauberer Verhältnisse« etwa, die Kanalarbeiter unter ihrem Werkmeister Egon Franke ("Canale grande"), werden schon dafür sorgen, daß man nach der gehörigen Sitzzeit auch Gelegenheit zum Auftritt erhält.

Keine Integration der auseinanderstrebenden Gruppen, außer wenn es zur Abstimmung geht. Dann, und erst dann, werden alle am Portepee gefaßt nach dem guten Adenauer-Motto »Die Lage war noch nie so ernst«. Wehner hat das abgewandelt in: »Wir stehen im Wahlkampf. Wenn ihr euch hier selbstverstümmeln wollt, dann viel Glück!« Schroffheit anstelle von Überzeugung, sehr im Gegensatz zum vorigen Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt.

Kontaktarmut des Vorsitzenden, der keine Leute zu sich lädt und keine zusammenbringt. Nahezu kriminelle Behandlung der Fraktion in den tödlich quälenden Fraktionssitzungen, wo keine erkennbare Führung stattfindet.

Die Fraktion selbst stellt sich in Debatten oft hilflos und müde dar. Wehner ist an guten Tagen immer noch einmalig, immer noch gut für einen vehementen, polterigen oder amüsanten Auftritt. Nur, auch er kann nicht mehr gewährleisten, daß er nur gute Tage hat. An der verantwortlich erarbeiteten Stellungnahme der Fraktionsspitze, an der überzeugenden Stimme des Vorsitzenden der immer noch stärksten Bundestagsfraktion fehlt es oft, statt dessen, Eruption und Sarkasmus.

Wehner führt die 241 Mitglieder starke Fraktion nicht per Inspiration und Organisation, sondern mit dem Hintern, indem er allen Plenardebatten buchstäblich bis zum letzten Hauch von Roß und Mann beisitzt.

Seine spektakulärste Niederlage erlitt er, als er die Fraktion mit der Bestallung des verdienten Fraktionsgenossen Werner Buchstaller zum Wehrbeauftragten überrumpeln wollte, damit aber scheiterte. Die dagegen waren. hatten sich ihrem Fraktionsvorsitzenden meist nicht einmal anvertraut. Dazu Helmut Schmidt: »Erler wäre in einem solchen Fall zurückgetreten, Ollenhauer hätte die Vertrauensfrage gestellt« -- beide ehemalige Fraktionsvorsitzende. Dazu Wehner: »Zeichen für den Zerfall der Fraktion.«

Wehner macht alles selbst. Anstelle eines persönlichen Referenten. eines Fahrers und eines Leibwächters, den er sich verbeten hat, beschäftigt er nur seine Stieftochter Greta. Sie schiebt seinen Terminkalender rigoros hin und her und sorgt dafür, daß er rechtzeitig seine Apfelscheiben ißt und seine Tabletten nimmt. Ab und an sucht sie ihn zu besänftigen, indem sie etwa sagt: »Väterchen Frost, sei doch nicht so grimmig.« Dazu Wehner im Gespräch mit dem Fernsehjournalisten Reinhard Appel*: »Grimmigkeit ist sicherlich eine Ausdrucksform, die dem einen gefällt. während sie den anderen stört.«

Wehner beantwortet jeden Brief, wenn er denn überhaupt antwortet, persönlich. Oft notiert er die Antwort mit grünem Kugelschreiber säuberlich lesbar an den Rand des Briefes. An ihn gerichtete Bittbriefe beantwortet er stets selbst. Antworten an Kanzler, Bundespräsident oder wichtige Freunde, wie etwa den Erfinder der Montan-Union, Jean Monnet, ließ er sich früher vom Fraktionsgeschäftsführer Nr. 1, dem inzwischen verabschiedeten Karl Wienand, entwerfen.

Wehner ist oft vorgeworfen worden, er habe Wienand zu lange und wider besseres Wissen gehalten. In Wahrheit litt auch Wehner darunter, daß er sich Wienand zu sehr anvertraut hatte. Auch Wehner brauchte ja gelegentlich einen »Beichtvater«. Solche Verbindlichkeiten sucht er aber möglichst abzuschütteln. Seit Wienand sein Mandat niedergelegt hat, ist die Welt wieder in Ordnung. Wehner besucht Wienand fast jeden Monat. In ihm, dem vom Schicksal Gebeutelten, sieht er einen

* Reinhard Appel: »Gefragt: Herbert Wehner«. Bonn 1969.

Mann, dessen schwerer Lebensweg dem seinen verwandt ist.

Die Atlantik-Charta Henry Kissingers vom April 1973, undurchdacht wie sie war, stampfte Wehner vom schwedischen Urlaub aus in den Boden ("Skizze eines Monstrums"). Kanzler Brandt konnte trotzdem sagen: »Da Herbert Wehner durch zwei Personen spricht, einmal selbst, sodann mit Hilfe seines Bauchredners Karl Wienand, begrüßt die Bundesregierung die positive Stellungnahme des Fraktionsvorsitzenden.« Wienand hatte sich aus eigenem, nämlich diplomatisch, geäußert; nur er, dessen Geschäftssinn Wehner suspekt gewesen sein muß, durfte sich das leisten.

Die Fraktion trauert dem Gestrauchelten heute noch hinterher. MdB Norbert Gansel: »Die Ansprüche an das Fraktionsmanagement sinken leider immer mehr.«

Warum Wehner so lange an Wienand festhielt, kann nur geargwöhnt oder gemutmaßt werden. Daß er ihm hinterher half, den Sturz zu überwinden, ist aber in jedem Fall typisch Wehner.

Er legt sich enorm ins Zeug, wenn jemand, der ihn politisch nicht stören kann, in Not ist und der Hilfe bedarf. Es gibt keinen beständigeren Krankenhaus-Besucher und keinen ergreifenderen Grabredner als ihn. Er befolgt die. alte Bibel da buchstäblich.

Von dieser goldechten humanitären Ader abgesehen, haben seine Fraktionskollegen wenig Kommunion mit ihm zu erwarten.

Als Friedhelm Farthmann, 44, sich 1975 von seinem Fraktionschef verabschiedete, um als Arbeitsminister nach Düsseldorf zu gehen, saß der Onkel im Plenum und gab vor, einem Hinterbänkler aufmerksam zuhören zu müssen. Farthmann wartete eine Weile und begnügte sich dann mit der üblichen Floskel: »Ich wünsche dir alles Gute.« »Mir kann niemand mehr etwas Gutes wünschen«, bellte Wehner zurück.

Daß er einem Staatssekretär der eigenen Partei und Regierung, dem heutigen Finanzminister Apel, seinem möglichen Nachfolger, vom Rednerpult aus zurief, er solle getrost seinen hübschen Mund schürzen, ist noch in Erinnerung; Wehner entschuldigte sich schriftlich. Junge Abgeordnete haben da weniger Chancen.

Wehners Trickkiste, Leute zu entmutigen, ist schier unerschöpflich. Er starrt geradeaus in seinen Garten, er redet so leise, daß der Besucher ihn nicht verstehen kann, er schreibt und sieht nicht auf. Gelingt es dem Delinquenten dann nicht, ihn zu einer Entladung zu provozieren, ist er geliefert.

MdB Manfred Coppik aus Offenbach, 1972 in den Bundestag gelangt, damals 39 Jahre alt, nahm die hektographierte Aufforderung seines Fraktionschefs ernst, man möge sich vertrauensvoll an ihn wenden. Gut beratene Neulinge übersahen diese Offerte, Coppik nicht.

Er betrat Wehners Zimmer. Der alte Mann blickte gar nicht auf, sondern schrieb unter unverständlichem Gemurmel vor sich hin. Coppik nach einer Weile unsicher: »Genosse Wehner, deine Zeit ist sicher beschränkt ...« Wehner fuhr auf: »Genosse Coppik, wir sind hier nicht bei Hofe, auch wenn manche das behaupten.« Pause, Vorsich-hin-Schreiben, Wehner weiter: »Ich habe schon viele beobachtet, bei den meisten nimmt das ein langsames und quälendes Ende ...«, Pause, Vorsich-hin-Schreiben, »aber bei dir wird es ein kurzes und schreckliches sein.« Fraktionsneuling Coppik schlich sich aus dem Zimmer.

Was hatte Coppik verbrochen? In der Fraktionssitzung hatte er angekündigt, bei der Lesung des Wehretats 1972 werde er nicht zustimmen, weil sein Bezirksparteitag Hessen-Süd das so beschlossen habe. Daß er vom ganzen Volk gewählt worden war, wußte Coppik damals noch nicht, und auch nicht, daß man Wehner nur widersprechen darf, wenn man was hinter sich hat.

»Zu Hofe« zu gehen oder »mit Sternen zu verkehren«, ist ein Wehner-Vorwurf, den man am häufigsten hört, wenn es sich um den Stern Willy Brandt handelt. Wehners Bereitschaft zu Ausbrüchen ist unberechenbar, macht aber trotzdem einen kalkulierten Eindruck. Grenzen kennt er und erkennt sie an.

Dennoch, demokratische Willensbildung und mündiges Bürgertum oder, auf die Fraktion übertragen, Frische und Initiative in der Fraktion werden so nicht eben gefördert. Wehners kruder Führungsstil wurde anerkannt, solange es weniger um den Stil als um die Führung ging, als Wehner Willy Brandts »Waffenmeister« und Hagen zugleich war, zwischen 1969 und 1972.

Daß heute andere Qualitäten gefragt sind, ahnt man in der Partei, will es aber nicht artikulieren. 1973, eine Woche nachdem der Fraktionsvorsitzende seinen Kanzler in Moskau vor Journalisten gezielt madig gemacht hatte, hätte Brandt ihn unter Einsatz seiner Autorität aus dem Fraktionsvorsitz kippen können. Heute kann nur eine verlorene Bundestagswahl Wehner den Boden unterm Stuhl wegziehen.

Keiner hat ein so enges und menschliches Verhältnis zu den kleinen Funktionären der Partei, zu eben jenen Leuten also, denen es auch MdB Coppik recht machen wollte. Keiner der führenden Leute, nicht Brandt und nicht Schmidt, kann sich mit ähnlicher Glaubwürdigkeit den Anschein geben, als habe er noch unmittelbaren Kontakt zu den Arbeitern; nur Wehner kann noch für einen Arbeiterfunktionär der alten Sorte durchgehen. Er, und kein anderer, verkörpert die Linie der Partei von August Bebel bis Kurt Schumacher.

Keiner wird von den Vertrauensleuten in den Betriebsgruppen so anerkannt. Je weniger Macht solch ein Funktionär hat, desto lieber gibt ihm Wehner das Gefühl, vor der »Mutter Oberin« zu sitzen, von der man Zuspruch erhält. So erklärt es sich, daß der beim Wählervolk unbeliebte Onkel Herbert bei der Aufstellung der Hamburger Landesliste zur Bundestagswahl mehr Delegierten-Stimmen erhielt als sogar der als Nummer 1 plazierte Bundeskanzler.

Ganz anders außerhalb der Partei Als »Bürgerschreck« gilt Wehner nicht so sehr, weil er der Bundesrepublik den Kommunismus auf den Hals holen könnte. Dies Gift hat seine Wirkung getan und ist verbraucht. Vielmehr, seinem Schimpfen und Pöbeln, seinen gestanzt schlechten Manieren hält keine politische Notwendigkeit mehr die Waage. Immer noch und immer mehr ist er die große Figur der SPD, aber seinen Beschwörungsformeln fehlt der Zauber. Herbert Wehner gilt als Wählerschreck.

Es ist nicht nur der »böse Onkel am Fernsehschirm, vor dem die Kinder sich fürchten«, und längst nicht mehr der frühere Kommunist, an dem die Wähler Anstoß nehmen. Vielmehr überträgt sich die Ahnung, daß diesem, gelegentlich immer noch sprühenden Kraftwerk die Batterien ausgehen.

Er, der die SPD gezwungen hat, ihre politische Aussage ausschließlich nach der Wähler-Mehrheit auszurichten, sieht sich einem Wähler-Trend konfrontiert, der alles Mögliche, nur keinen Zuwachs und keine absolute Mehrheit für die SPD verheißt. Im Gegenteil, die Mehrheit könnte kippen.

Die Argumentation hat sich verkehrt. Es war ja nicht der Franz Josef Strauß, der die FDP als Hilfspartei, Ausweichpartei, alte Pendler-Partei, Block-Partei zuerst stigmatisiert hat, sondern eben der Onkel Herbert in seinen stärksten Jahren. Wie ehemals die CDU/CSU, macht die SPD sich bereit, die Bundesregierung auch bei knappster Mehrheit bilden zu wollen.

Als die CDU das 1966 nach den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen zusammen mit der FDP unternahm, kommentierte Wehner: »Wissen Sie, das ist ganz einfach die Gewöhnung an eine Erbhof-Politik.« Die CDU könne sich offensichtlich nur schwer darauf einstellen, daß zur Demokratie auch ein Wechsel der Regierung gehöre. Sie müsse umlernen. Gegen die stärkste Kraft im Lande könne man mit Erfolg nicht regieren.

Umlernen muß heute die SPD. Wehners Heilsformel von dem permanenten Fortschritt, der SPD an die Fersen geheftet, von der immer mündigeren Mündigkeit, in die sich immer breitere Schichten der Arbeitnehmer an der Urne nur einzuschreiben hätten, entbehrt heute der Magie.

Nicht aufgegangen ist die Rechnung, die SPD könne eine Partei wie jede andere werden und dennoch den Fortschritt in Erbpacht nehmen. Sie ist jetzt, und das hat ihr fortschrittsgläubiger Mentor sicher nicht gewollt, eine Partei wie jede andere, in Richtungskämpfen und Klein-Korruption verbraucht. Schiede Strauß aus dem Bonner Geschäft, sie hätte noch nicht einmal eine Chance.

Große Männer haben ihr Recht auf Bitterkeit, auf Ausgestoßensein, auf Verkanntwerden, auf Heimatlosigkeit. Wehner hat uns seinen Weg durch alle Feuer dieser Erde mit so leidenschaftlichem Masochismus beschrieben -- Leiden als Zwang, als Wille und als Fähigkeit zugleich --, daß man versucht sein könnte, die Stationen dieses exemplarischen und randvollen, dieses an Entbehrungen und Machtgenuß überreichen Lebens mit dem Verkleinerungsglas zu betrachten. Nichts wäre schäbiger.

Beispielhaft, exemplarisch ist Wehner ja nicht deshalb, weil wir übrigen ihm nachfolgen könnten oder sollten. Vielmehr, in ihm verkörpert sich ein Stück Geschichte, das dem ganzen Volk auf den Leib gebrannt worden ist: der Werdegang des überzeugten, fast bis zu seinem 40. Lebensjahr überzeugten, Anhängers der Erziehungsdiktatur von links bis hin zu jenem Herbert Wehner, der keine Überzeugung mehr gelten ließ, wenn sie sich eignete, Wählerstimmen zu kosten; der Weg von dem jungen Kommunisten im Sächsischen Landtag bis hin zum nahezu konspirativen Verbündeten des CSU-Barons Karl Theodor von und zu Guttenberg, den er in seinem Hang zu Namens-Wortspielen oft »Kuttenzwerg« nannte.

Der Weg jenes vom Kommunismus Abgefallenen -- in den Tod kann Wehner das Wort »Renegat« nicht leiden -- hin zu jenem Wehner, der in Moskau, Warschau und Prag, ja sogar beim früheren Jugend-Genossen Honecker als wichtiger Partner wiederentdeckt und anerkannt, dessen Abfall nachträglich gerechtfertigt, der vom Stigma des gefallenen Engels erlöst worden ist: vielleicht der anrührendste Aspekt und der für Deutschland ertragreichste Strang dieses drastischen Lebens.

Daß Kommunismus keine bloße Laune der Natur war, auch in Deutschland nicht: Wehners Lebensweg zeigt es. Das »Proletariat«, ausgeschlossen von den Lebensverhältnissen der zwei Drittel besseren Leute, Wehner hat es kennengelernt, nicht die heute gewandelte Gesellschaft der Facharbeiter und Angestellten, wo die Hälfte der CSU-Wähler in Bayern »Arbeiter« sind.

Er selbst, so besinnt er sich im schwedischen Gefängnis-Winter 1942 auf 1943, hat schon in seinen Kinder-Jahren wegen des Krieges Lohnarbeit leisten müssen und als Junggenosse gesungen:

Wir haben selbst erfahren

der Arbeit Frongewalt

in düstren Kinderjahren

und wurden früh schon alt.

Sie hat an unserm Fuß geklirrt,

die Kette, die nur schwerer wird.

Wir sind die junge Garde

des Proletariats.

42 Arbeiter blieben in der Nachbarstadt Freiberg auf dem Pflaster, als die Reichswehr des SPD-Reichspräsidenten Ebert 1923 in Sachsen einrückte. Dennoch, einen überzeugenden Rechenschaftsbericht, warum er Kommunist geworden, bis zum Ende seines vierten Lebensjahrzehnts geblieben und dann nicht mehr geblieben ist, haben wir von diesem rede- und schreibwütigen Menschen bis heute nicht, werden ihn vielleicht auch nie haben.

Sein Vater, »ein großer Künstler seines Berufs« (Wehner), war Schuhmacher und Sozialdemokrat. Er konnte infolge der Arbeitslosigkeit in seinem Beruf nicht mehr arbeiten, wie auch der »ebenso begabte Bruder« (Wehner).

Ein Arbeiter, wie Wehner sich gelegentlich deklariert, war er wohl nur während des letzten Kriegsjahres in Schweden nach seiner Entlassung aus der Haft, als er ein Jahr in der Viskose-Herstellung tätig war. Kaufmännischer Angestellter war er bis zu seinem 21. Lebensjahr. 1925 wurde er politischer Journalist, 1927 Mitglied der KPD, 1930 Abgeordneter und stellvertretender Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Sächsischen Landtag (Mitglied der SPD von 1923 bis 1927, wie er in Sängers »Handbuch des Deutschen Bundestages 1949-1953« melden ließ, war er nicht).

Im Dresdener Landtag ist er schon die gefürchtetste Figur am Rednerpult, die Ordnungsrufe wie ein Winkelried auf sich ziehend; schon jener Ordnungsruf-Provokateur, von dem der Bundestagspräsident von Hassel vor dem Hohen Haus sagen wird, dem Abgeordneten Wehner einen Ordnungsruf zu erteilen sei sinnlos; schon jener Mann mit dem »Schießschartenmund« (Hermann Schreiber), der eine Rüge aus dem Mund des SPD-Vizepräsidenten Schmitt-Vockenhausen (für den Zwischenruf »Lümmel") mit der Ungezogenheit quittiert: »Schönen

Dank, Herr Präsident, daß Sie erwacht sind!«

Es gibt da eine Rede des 24jährigen, die nicht durch Originalität der Gedanken, wohl aber durch Kraft und Leidenschaft besticht. Der Redner, der da den kapitalistischen Ausbeutern und sozialdemokratischen Bütteln die Todfeindschaft ansagt, macht allerdings nicht den Eindruck, als sei er Kommunist geworden, »um im Sinne der Bergpredigt die gesellschaftlichen Verhältnisse des menschlichen Zusammenlebens ändern zu helfen«, wie er sein damaliges Engagement heute gewertet wissen will.

Nicht die Bergpredigt, sondern das kommunistische Manifest prägt die frühen Reden dieses damaligen Atheisten, der heute in der Fraktion keinen Ausfall gegen die Kirchen mehr duldet. Daß man als Kommunist helfen könne, das menschliche Zusammenleben grundlegend zu bessern, diese frühere Überzeugung erklärt er heute pauschal zu einem »Irrtum«, wie er denn auch Maos China nicht auf der Palette hat.

Wie haben wir uns den jungen Herbert Wehner vorzustellen, da doch Günter Gaus den 62jährigen folgendermaßen beschreibt:

Er ist unverbindlich bis zur Schroffheit. Viele fühlen sich in seiner Nähe unbehaglich. Auch Parteifreunde erschrecken vor den Ausbrüchen seiner Wut, vor dem Gebrüll, zu dem er sich selbst im kleinen Kreis steigern kann, bis er mit sichtbarer Mühe sich wieder zur mürrischen Wortkargheit bändigt. Er höhnt gern. Die Bitterkeit des Hahns gelingt ihm besser als die Boshaftigkeit des Spotts. Er scheut sich nicht, zu verletzen. Gallebitter, grob, maßlos, aufbrausend -- das sind die Vokabeln, die einem zuerst einfallen, wenn man an seinen politischen Umgangston denkt. Er hat nichts Spielerisches an sich, nichts Leichtes, sobald er politisch agiert und reagiert.

Solches steht in der quasi-offiziösen Einleitung zu Wehners ausgewählten Reden und Schriften. Es gibt über Wehner keine Biographie, die diesen Namen verdient. Viele Daten schwimmen. Er hat die Realschule abgeschlossen und, so sagt er, »mancherlei Sport sehr aktiv betrieben«, die Fußballer-Köpf-Stirn -- er spielte noch während des ersten Bundestags als »rechter Verteidiger« -- ist noch heute unverkennbar; mit seiner ersten Frau Lotte überquert er 1933 illegal auf Skiern die Grenze zur Tschechoslowakei; Französisch in der Schule gelernt und gut gesprochen, später kam Englisch, Russisch, Holländisch, Schwedisch dazu. Dennoch, kein Köpfchen, ein Kopf.

Er hatte, laut eigenem Zeugnis, »viele Instrumente zu spielen gelernt und auch gespielt: am liebsten Klavier, auch Streich- und Blasinstrumente« (in Moskau spielt er noch Gitarre, heute Mundharmonika). Er kannte den Regisseur Erwin Piscator und den Schauspieler Heinrich George, beide den Kommunisten nahestehend.

Er verkehrte und trank mit dem Maler Otto Dix und dem Polit-Zeichner John Heartfield. Einige Zeit wohnte er bei dem 1934 im KZ Oranienburg ermordeten Anarchisten Erich Mühsam*; den Räte-Republikaner Gustav Landauer, der 1919 in München von Reichswehrsoldaten totgetrampelt wurde, nennt er sein Vorbild. Der ungarische Dramatiker Julius Hay hat ihn als einen »jungen Arbeiter« in Erinnerung, »einen schlaksigen Burschen mit weichen blonden Haaren«.

»Die Intellektuellen waren zu mir freundlich«, sagt Wehner in nahezu Brechtschem Tonfall. Die Brechtsche »doktrinäre Art« hat ihm nicht behagt.

* Der Abschied von den Mühsams scheint nicht friedlich verlaufen zu sein. Wehner hütete bei Mühsams ein. Hund und Katze waren aber bei der Rückkehr der Frau Mühsam verschwunden. Ebenso etliche hundert Mark vom Konto der anarchistischen Zeitschrift »Fanal«. Wehner damals: Ich habe das Erscheinen eines konterrevolutionären Blattes behindert.«

Aber ein Intellektueller, er selbst? »Ich selber war keiner, das kann ich nicht leugnen.« Zeitlebens hat er sich seine Verachtung für jene bewahrt, »die die Politik beschreiben«, obwohl er als Beruf gern »Redakteur« angibt.

Dies »portrait of the artist as a young man« hat wenig Ähnlichkeit mit dem Jubilar von heute. Gleichbleibend und unverändert stark über die Jahre dürfte Wehners Anziehungskraft auf Gesprächspartner geblieben sein, deren Neigung auch, sogar seine schlimmsten Unarten nicht wichtig zu nehmen.

Auch seine Tätigkeit für die Kommunistische Partei, für die Zukurzgekommenen notabene, hat er nie zulänglich beschrieben und oft vernebelt. Fast sucht er es so darzustellen, als sei er 1933 nur aus kameradschaftlicher Solidarität bei der Fahne geblieben, schon 1933 nicht mehr überzeugt. Meist sucht er seine Rolle zu verkleinern. Seine Taten und Schriften zeigen es anders.

Mit dem KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann habe er »mehrere Arbeitsbegegnungen« gehabt; in Wahrheit war er vor Thälmanns Verhaftung am 3. März 1933 länger als ein Jahr Technischer Sekretär des Thälmannschen Politbüros in Berlin. Thälmann, so Wehner, setzte ihn durch und deckte ihn ab.

Mit Dimitroff, dem Helden des Reichstagsbrandstifter-Prozesses und Generalsekretär der Kommunistischen Internationale (Komintern), habe er in Moskau nicht »zusammengearbeitet«, dies Wort wäre »zu anmaßend«; in Wahrheit war er dessen Zuarbeiter, Schützling und Günstling.

Dimitroff und Pieck, der ranghöchste deutsche Kommunist, erster Staatspräsident der DDR, haben ihn in Moskau gegen die üblichen Denunziationen geschützt und gehalten, haben ihm, in Wehners Worten, »das Leben gerettet«.

1935 wurde der 29jährige in Moskau, auf der zwecks Irreführung der Gestapo so genannten Brüsseler Konferenz deutscher KP-Funktionäre, als einer von neunen ins Politbüro gewählt, mit Pieck und Ulbricht.

Und Ulbricht, der dreizehn Jahre ältere? »Zu seiner Charakterisierung gehört, daß er ein menschenverachtender und auf eine erschreckende Weise arbeitsbesoffener Mensch ist« (Wehner 1969 zu Reinhard Appel). Während seiner Moskauer Zeit nannte er Ulbricht gegenüber Julius Hay einen »großen Taktiker« und »glänzenden Praktiker« (die »Erinnerungen« von Julius Hay hat Wehner 1971 im SPIEGEL rezensiert).

Mit Ulbricht, den er in Moskau »Wulbricht« nannte, will Wehner viel Krach und Meinungsverschiedenheiten gehabt haben. Wie er denn überhaupt den Eindruck zu erwecken liebt, er sei immer nur strafweise befördert worden. Es scheint aber nicht so, als sei es Ulbricht gelungen, dem Ansehen seines Rivalen Wehner in den Augen Dimitroffs, Piecks und der sowjetischen Oberen Abbruch zu tun. Wäre Wehner sonst 1941 von Dimitroff und Pieck ausersehen worden, die gesamte illegale Arbeit in Hitlers Reich neu aufzubauen?

1935 auf der »Brüsseler Konferenz« war beschlossen worden, die Exilleitung der KPD wieder nach Paris zu legen. Wehner traf im November 1935 in Amsterdam ein, hielt sich im Frühjahr 1936 sechs Wochen lang im Ruhrgebiet auf und wurde im April 1936 nach Paris zurückbeordert, wo er über hundert Emigranten für den spanischen Bürgerkrieg anwirbt.

Zudem arbeitet er für das »Komitee zur Schaffung der Deutschen Volksfront«; Mitglieder unter anderen Heinrich Mann, Ernst Toller, Ludwig Marcuse, die SPD-Führer Rudolf Breitscheid und Albert Grzesinski. Der »Aufruf für Frieden, Freiheit und Brot« wurde namens der Sozialistischen Arbeiter-Partei (SAP) auch von einem gewissen Willy Brandt unterschrieben (Wehner: »Ich habe ihn am Horizont gesehen"); die wichtigsten kommunistischen Unterzeichner waren Pieck, Florin, Ulbricht, Dahlem und Funk, in dieser Reihenfolge. Kurt Funk ist damals schon Wehners Deckname.

Nimmt man die Fronten des Zweiten Weltkriegs vorweg, so läßt sich Wehners Volksfront-Arbeit als antifaschistische Tätigkeit sinnvoll verstehen. Zu Beginn des Jahres 1937 traf er wieder in der Sowjet-Union ein, nach einer Abwesenheit nicht von einigen Monaten, wie sein künftiger Biograph Günter Gaus schreibt, sondern von über einem Jahr.

Es bedürfte nicht der 216 Schreibmaschinenblatt »Notizen«, die Wehner 1946, angeblich für Kurt Schumacher, niedergelegt hat, um den Eindruck zu gewinnen, daß Wehner der wichtigste kommunistische Untergrundkämpfer auf deutschem Boden gewesen sei. In dem Ausbürgerungsantrag gegen Wehner vom 21. April 1938 wird die Gestapo folgendermaßen zitiert:

Wehner tauchte überall auf, wo neue Anweisungen in Organisationsfragen ergehen mußten. Er verstand, sich selbst so gut zu tarnen, daß es seinen Mitarbeitern nicht möglich war, über seinen eigentlichen Aufenthaltsort Angaben zu machen. Wehner besorgte sich seine illegalen Büros und Quartiere selbst, um sich dadurch von seinen Mitarbeitern vollständig abzukapseln.

Er selbst sagte zu Gaus: »Ich habe doch einige Jahre die gesamte illegale Arbeit in ganz Deutschland als der Techniker in Händen gehabt.«

Nach Thälmanns Verhaftung war Wehner als der »Technische Sekretär« des Politbüros in der Schlüsselfunktion, einerseits; andererseits aber nicht so bekannt wie die Mitglieder des Politbüros, die denn auch entweder geschnappt wurden oder bald ins Ausland gingen. Walter Ulbricht, Reichstagsabgeordneter und Mitglied des Politbüros, machte nach Thälmanns Verhaftung laut Wehner den Eindruck »außerordentlicher Frische«. Er suchte, »die Fäden in seiner Hand zu zentralisieren«. Im Oktober 1933 verließ er das Dritte Reich auf Nimmerwiedersehen.

Wehner blieb und behielt als einziger den Gesamtüberblick, so daß die abgefangenen Kuriere auch unter der Folter das illegale Organisationsnetz nicht vollständig preisgeben konnten.

Wehner weiß viel Abträgliches über Ulbricht zu berichten, aber ein gewisser Rivalitätsrespekt schimmert doch durch ("Seine Kritik wirkt wie eine Säge"). Tatsächlich haben ja beide Männer nach 1945 ihre grundverschiedenen Rollen exzellent gespielt, Wehner als der »bessere Ulbricht«, Ulbricht als der »bessere Wehner«. Während beider kommunistischer Tätigkeit waren sie schwerlich die geschworenen Feinde, als die sie sich post festum darstellten.

Unzweifelhaft ist Herbert Wehner neben Tito der noch aktive Spitzenpolitiker mit der intimsten Kenntnis der stalinistischen Szenerie in Mittel- und Osteuropa. Pieck und Ulbricht wurden nach dem Hitler-Krieg die Spitzenleute der DDR, Dimitroff Chef in Bulgarien, Togliatti, dem Wehner in Moskau als Referent zugearbeitet hatte, Chef der Kommunistischen Partei Italiens (Ernst Fischer: »Ercoli-Togliatti schätzte ihn sehr").

Erich Honecker, der 1935 in einem Nazi-Zuchthaus verschwand, damals 23 Jahre alt, wird in den »Notizen« nicht erwähnt. Dazu Wehner heute: »Hätten die Nazis um die Wichtigkeit Honeckers gewußt, hätten sie ihn wohl einen Kopf kürzer gemacht.« Wehner jedenfalls wußte.

Wehner kennt und erwähnt die Komintern-Größen Otto Kuusinen (Finnland) und Dmitrij Manuilski (Ukraine), für die beide er gearbeitet hat. Er nimmt 1938 teil an einer Sitzung mit Klement Gottwald, dem späteren Spitzenmann der CSSR. Er kennt und kritisiert den Österreicher Ernst Fischer.

Mit Nikolai Schwernik, dem späteren nominellen Oberhaupt der Sowjet-Union, verhandelt er 1936 in Paris. Boris Ponomarjow, heute Kandidat des russischen Politbüros, Sekretär des Zentralkomitees und, als Nachfolger Kuusinens, Vorsitzender der Außenpolitischen Kommission des Nationalitäten-Rates des Obersten Sowjet, heute auch zuständig für die kommunistischen Parteien Süd- und Westeuropas, wird von Wehner 1946 in den »Notizen« derart beschrieben:

Ponomarjow, der schon einige Zeit früher als politischer Gehilfe Dimitroffs begonnen hatte ... zeichnete sich persönlich durch große Zurückhaltung, ausgeprägte Bescheidenheit im Auftreten und die Fähigkeit, seinem Gegenüber zuhören zu können, aus; er gehörte zu einem speziellen Typ junger russischer Funktionäre, der durch die Schule der persönlichen Umgebung Stalins gegangen war und die Kunst der Anpassung an die überragende Persönlichkeit (von der in aller Arbeiten in der Hauptsache geschwärmt und gepredigt wurde) bis zur Vollkommenheit erworben hatte.

Am 2. Oktober 1973 standen, unter Berufung auf Tass, folgende sieben Zeilen in der »Prawda":

Am 1. Oktober empfing der Vorsitzende der Kommission für Auswärtige Angelegenheiten des Nationalitätenrates des Obersten Sowjet der UdSSR B. N. Ponomarjow den Vorsitzenden der Fraktion der SPD im Bundestag H. Wehner im Kreml.

Wehner kannte und erwähnt Alexander Abusch, den bis 1971 für Kultur und Erziehung zuständigen stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR; kannte Albert Norden, der mit Abusch und Wehner im Saargebiet tätig war; kennt und kritisiert Anton Ackermann, der später in der DDR lange Jahre kaltgestellt wurde, weil er einen »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« aufweisen wollte; kennt und kritisiert seinen (und Ulbrichts) Widersacher Franz Dahlem, der bis 1953 im Politbüro der SED saß.

Kennt und erwähnt Gerhart Eisler ("Ulbrichts neue Entdeckung") wie auch Paul Merker, mit dem er im Politbüro saß, wie auch Hermann Matern. Er kennt den deutschen Altkommunisten Max Reimann von beider Arbeit im Saargebiet. Er schickte Fred Oelßner, später Mitglied des Politbüros der SED, 1933 ins Ausland und maßregelte 1936 den Jugendverbands-Funktionär Paul Verner, heute Mitglied des Politbüros der SED.

Hätten die Nationalsozialisten den revolutionären Soldaten Wehner geschnappt, er wäre mit aller Sicherheit hingerichtet worden. 1935, im Frühjahr, wurde er zur Tagung des VII. Weltkongresses der Internationalen nach Moskau beordert. Zur Enttäuschung auch Herbert Wehners wurde nicht Walter Ulbricht, sondern der konturlose Wilhelm Florin neben Wilhelm Pieck in das Sekretariat des Exekutivkomitees der Komintern delegiert.

Es folgt ein ominöses Kapitel in Wehners Leben. In Gegenwart von Pieck, Florin und Ulbricht wird Wehner, so sein Bericht, mitgeteilt, er müsse eine Untersuchung über sich ergehen lassen. Pieck habe durchgesetzt, daß er trotzdem gleichzeitig Referent für deutsche Fragen in Palmiro Togliattis Komintern-Sekretariat werde, und weiter, daß Pieck, an der Untersuchung Anteil nehmen solle, da Wehner Mitglied des deutschen Zentralkomitees sei.

Wehner: »Nur selten fragten er (Togliatti, den er noch 1946 mit dessen Decknamen »Ercoli« nennt) oder Dimitroff um Auskunft über politische oder wirtschaftliche Zusammenhänge.« Und weiter: »Meine sogenannte Referententätigkeit beschränkte sich allmählich darauf, mich selbst zu informieren.«

Am 2. Mai 1937 trifft Wehners erste Frau Lotte aus Paris in Moskau ein. Die nach Paris zurückgekehrten KP-Leute Ulbricht und Nuding, so glaubt Wehner nun, suchten »dort noch nach Brennmaterial zu meinem Scheiterhaufen« -- Nuding war Mitglied der Kontrollkommission der KPD.

Die »Untersuchung« bleibt in Wehners Schilderung einigermaßen mysteriös. Aber Grund zu äußerster Beunruhigung bestand wohl durchweg. Stalin ließ säubern, seine Ratschlüsse waren unerforschlich. Togliattis engster Gehilfe Smoljanski erschien eines Tages nicht zum Dienst, er war abgeholt worden. Wenige Tage vorher hatte Wehner ihn noch im Vorzimmer stehen sehen.

Wehner, wie andere Betroffene auch, vermochte kein System in den sich überstürzenden und sich überschneidenden Terror-Maßnahmen zu erblicken. Immerhin läßt sich sagen, daß die Gruppe Pieck/Ulbricht, zu der man auch Wehner rechnen muß, ungeschoren davonkam, wohingegen ihre Gegner der Reihe nach verschwanden: Heinz Neumann, Remmele, Schulte, Schubert, allesamt früher Mitglieder des deutschen Politbüros; Hirsch, Kippenberger, Flieg, Birkenhauer, samt und sonders Leute, die auch Wehner rücksichtslos bekämpft hatte. »Ob diese Verhaftungen«, schreibt Wehner über die Fälle Flieg und Birkenhauer, »irgend etwas mit meiner Verteidigung gegen die zu meiner Vernichtung konstruierten Anklagen zu tun gehabt haben, wage ich nicht zu entscheiden.«

Wehner hat gegenüber Reinhard Appel betont, er habe während seiner Zeit in Moskau »manchen auf den Arm genommen« und sei auch »manchmal selbst auf den Arm genommen worden«, seine Erinnerungen seien nicht nur düster und beschwerend. Aber er setzt hinzu, die Erinnerungen seien heute vielleicht verklärt dadurch, »daß ich sie überstanden habe«.

Wehner konnte nicht sicher sein, daß er überstehen würde, niemand konnte es, nicht Pieck, nicht einmal Dimitroff. Die »Untersuchung« gegen Wehner fand im Juli 1938 ihr vorläufiges Ende. Während der Untersuchung war er in seiner Tätigkeit für verschiedene Institute wie »Lenin-Schule«, Rundfunk, »Die Kommunistische Internationale« keinerlei Einschränkungen unterworfen.

Im August oder September 1938, so erinnert er sich, habe ihm Dimitroff mitgeteilt, die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen seien grundlos gewesen. Daß er auch Wilhelm Pieck »wohl mein Leben« verdanke, steht noch nicht in den »Notizen« von 1946.

Um was für Anschuldigungen hat es sich gehandelt? Wehner mußte 42 Fragen schriftlich beantworten, einige der Antworten wurden mündlich mit ihm durchgenommen. Hauptsächlich ging

* Oben: stehend Kuusinen, Gottwaid, Pieck, Manuilski; sitzend Dimitroff, Togliatti, Florin, Wan Min: unten: im Saalbau Friedrichshain.

** Noch 1973 fürchtete er und äußerte die Befürchtung, er werde aus Moskau nicht zurückkommen. Daß »die da obe«, nämlich der biedere Ollenbauer, ihn absichtlich per Bahn durch die DDR geschickt hätten, damit er dort hoppgenommen werde, schien ihm 1960 durchaus plausibel.

es um die Ritual-Frage, wie es zur Verhaftung Ernst Thälmanns hatte kommen können -- ein beliebter Schlagstock unter deutschen Kommunisten damals. Thälmann war reichlich leichtsinnig in die Falle gegangen. So hatte Wehner selbst 1933 Thälmanns Mitarbeiter Kattner verdächtigt und die Wohnung des nach Moskau entsandten Politbüro-Mitglieds Hermann Remmele eigenmächtig durchsuchen lassen.

Wehner bekam damals einen handgeschriebenen Brief Heinz Neumanns, des Rivalen von Ernst Thälmann, in die Hände, in dem Neumann seine Genugtuung über das Verschwinden Thälmanns ausgedrückt und Remmele aufgefordert habe, jetzt Karl Liebknechts Rolle zu übernehmen. »Mich hat der Brief damals tief empört«, schreibt Wehner in seinen »Notizen«. Neumann und Remmele, die mit Thälmann eine Art Triumvirat errichtet hatten, nennt er moralisch verkommene, hemmungslose Karrieristen.

Wehners Einschätzung des Apparats, dem er zu dienen hatte, muß, nach seinen »Notizen« zu urteilen, schon 1933 katastrophal gewesen sein. Es gibt wohl keinen von Thälmanns engeren Mitarbeitern, den Wehner nicht der Zusammenarbeit mit der Gestapo verdächtigt; sein Mißtrauen wurde zum Wahn**. Daß Wehner auch in Moskau mit Anschuldigungen gegen Genossen aufwartete, kann ihm nicht vorgeworfen werden. Das System, in das er gespannt war, ließ ihm keine andere Wahl. Immerhin, 1939 wurde er als Mitglied des Zentralkomitees wiedergewählt. 1940 war

er noch oder wieder in der Lage, »Ulbricht zur Rede zu stellen«. Er kam nie in Haft, wurde aber, glaubt man seinen Angaben, dreimal in der Lubjanka, offensichtlich als Zeuge, verhört.

Die Vernehmungsbeamten behandelten ihn als Mitglied des deutschen Zentralkomitees höflich, ja liebenswürdig, wenn auch, wie Wehner schreibt, mit »vieldeutigem Lächeln«.

Hier wäre anzumerken, daß auch Ulbricht, wie Wehner berichtet, 1938 in ein Verfahren verwickelt wurde. Auch Ulbricht mußte, wie Wehner, eine »Untersuchung« über sich ergehen lassen. Sicher war eben niemand. Ulbricht und Wehner sprachen 1940 über die Schicksale etlicher deutscher Staatsangehöriger, die nach Nazi-Deutschland zurückgetrieben werden sollten, weil Hitler und Stalin miteinander paktiert hatten. Ulbricht intervenierte auf Wehners Aufforderung, und umgekehrt. beide ohne sonderlichen Erfolg.

Nach Ausbruch des Krieges stellte Dimitroff in Auseinandersetzungen mit Pieck und dem deutschen Zentralkomitee test, daß es eine zusammenhängende KPD nicht mehr gebe. In Deutschland selbst müßten wieder Zentren gebildet werden. Wehner fragte Dimitroff, warum die Komintern-Führung nicht schon früher zugelassen habe, »daß Genossen, die in der illegalen Arbeit erfahren seien, im Lande arbeiten durften«.

Ulbricht erklärte gegenüber dem deutschen Zentralkomitee, er habe gelegentlich der gegenüber Wehner geführten Untersuchung falsch gehandelt. Wehner wurde sozusagen beauftragt, Dimitroff zu fragen, warum die Komintern keine verjüngte Parteileitung zugelassen habe und warum sie sich gegenüber Wehner und anderen jüngeren Genossen von Mißtrauen habe leiten lassen. Dimitroff, laut Wehner, habe nach langem Schweigen die diplomatische Antwort gegeben:

Das Vertrauen der Komintern-Führung äußert sich in ihren Beschlüssen. Wir haben Vertrauen zu Pieck, wir haben Vertrauen zu Florin; wir haben (nach einigem Zögern) Vertrauen zu Ulbricht.

Die Bildung eines organisatorischen Zentrums zur Wiederaufnahme der deutschen Parteiarbeit blieb aber auf der Tagesordnung. Ende Januar 1941 wurde Wehner nach Stockholm auf die Reise geschickt, um das Wirken von Karl Mewis zu untersuchen, der für Kontakte in und nach Deutschland zuständig war. Mewis wurde 1963 Botschafter der DDR in Warschau.

Wehner sollte, dies hatte Dimitroff ihm mit auf den Weg gegeben, die Untersuchung »unfamiliär« führen. Ulbricht war mit einem Antrag. Mewis ohne Untersuchung abzuschalten, nicht durchgedrungen. Überdies sollte Wehner die Bildung eines neuen Partei-Zentrums in Berlin betreiben. Leitungen. die sieh als »Kommunistische Partei« bezeichneten, durfte er bilden, nur kein Zentralkomitee, natürlich nicht. Über Wehners Rechte war in »mühseligen Verhandlungen gefeilscht worden« (Wehner).

Diese Mission gibt Rätsel auf. Ersichtlich wurde sie einem noch immer überzeugten Kommunisten zuteil. Wehner, in Stockholm angekommen. konnte »Pieck und Ulbricht« zunächst nur mitteilen, daß viele schwere Fehler begangen worden seien; »welchen Umfang« die persönliche Schuld des Karl Mewis habe, könne er erst später berichten (er konnte nicht, Hitler fiel in Rußland ein).

Es lohnt nicht, die wechselseitigen Beschuldigungen von Wehner und Mewis gegeneinander aufzurechnen. Wahrscheinlich hat Wehner mehr recht als Mewis.

Auffällig bleibt, daß Wehner am 18. Februar 1942 in der Wohnung der Genossin Frieda Wagner verhaftet wurde. Frau Wagner war die Ehefrau des Genossen Josef Wagner. Ihn hatte Wehner ausersehen, in Hamburg, wo er später wie Wehner Redakteur am »Hamburger Echo« wurde, einen Stützpunkt zu bilden.

Wagner reiste, kam zurück und wurde von der schwedischen Polizei eingesperrt. Er galt zudem als britischer Agent, ob unberechtigt oder nicht.

In die Wohnung dieses einschlägig Verdächtigen hätte ein im illegalen Kampf Erfahrener, und dafür hielt Herbert Wehner sich wohl zu Recht, sich also keinesfalls begeben dürfen.

Wehner war nicht der einzige, den die schwedische Polizei festnahm. Aber im Gegensatz zu den anderen Genossen sagte er vor dem Staatsanwalt aus und schrieb oder diktierte lange Einlassungen. Dazu heißt es in den »Notizen":

Meine Hauptsorge war, der Polizei keinerlei Anhaltspunkte über in Deutschland arbeitende und mit der Arbeit in Deutschland in Verbindung stehende Genossen zu geben, ferner alle Andeutungen, die auf organisatorische Beziehungen in Deutschland hinweisen könnten, abzubiegen. Dies ist mir gelungen.

Ob ihm dies wirklich gelungen ist, kann wohl kaum noch festgestellt werden.

Wehners Feinde bestreiten es. Unbestreitbar ist ein von Wehner zu illegaler Arbeit nach Deutschland beorderter Genosse namens Jakob Welter von den Nazis gefaßt und zu Tode gebracht worden. Erfunden und gänzlich unbeweisbar ist, daß die deutsche Polizei von der schwedischen auf Grund der Wehnerschen Aussagen einen Hinweis bekommen habe.

Überhaupt kann man sich das Wehnersche Vorhaben, in Deutschland von Stockholm aus eine illegale Partei neu zu gründen, gar nicht aussichtslos genug vorstellen. Ehe Wehner selbst sich über Holland nach Westdeutschland einschleusen konnte, wurde er verhaftet.

Dies war am 18. Februar 1942. Am 6. Juni 1942 wird Wehner in Moskau aus der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgeschlossen. In Baschkiriens Hauptstadt Ufa erfahren Ernst Fischer und seine Lebensgefährtin Ruth von Mayenburg, Kurt Funk sei in Schweden »umgefallen« und aus der Partei ausgeschlossen worden.

Schwer denkbar ist, daß Wehner als Mitglied des Zentralkomitees in Moskau nicht für den Ausschluß eines Mitglieds gestimmt hätte, gegen das so massive Verdachtsmomente vorlagen. Die KPD hat sich von ihm getrennt, nicht er hat sich von der KPD getrennt, daran ist nicht zu rütteln. Wohl möglich, ja höchst wahrscheinlich, daß er sich später vom Kommunismus getrennt hätte. Nur, später ist später.

Er hatte sich unter Umständen verhaften lassen, die er jedem anderen, dem Genossen Mewis etwa, als grobes Verschulden angekreidet hätte, und er hatte umfänglich ausgesagt. Alle übrigen meist infamen Insinuationen seiner Gegner können dabei als unerheblich beiseite geschoben werden. Dazu Wehner wörtlich: »Fehler unterlaufen auch offensichtlich Menschen, die unter härtesten Bedingungen solche vermieden haben (oder hätten). Dafür haben sie dann (habe ich dann) die Folgen zu tragen.«

Hatte er in der Haft Angst, den Nazis ausgeliefert zu werden? Das scheint so. Es gibt da ein Dokument in den schwedischen Polizeiakten, in dem es heißt:

Schließlich führte Wehner an, sein Auftreten während der polizeilichen Ermittlung sei weitgehend dadurch bestimmt gewesen, daß er keine Ausweispapiere besessen habe. Als während der Verhöre von seiten der Polizei sowohl angenommen wurde, daß er Verbindung mit Wollweber und mit einer hier im Land wegen Spionage verurteilten Person namens Liebersohn gehabt habe, als auch, daß er Gestapo-Agent sei, habe er sich veranlaßt gesehen, so ausführliche Angaben über sich zu machen, wie er es getan hat, um nicht das Risiko einzugehen, nach Deutschland verschickt zu werden, wo er sicherlich »einen Kopf kürzer« gemacht würde,

Protokoll vom 22. April 1942 in Stockholm, bezeugt von E. Lindgren und I. Starkenberg.

Einen Stein, und erst recht den ersten Stein, mag werfen, wer ähnliches durchgemacht hat. Die schwedischen Gerichte verurteilten Wehner erst zu einem Jahr Gefängnis und dann, ohne volle Anerkennung der bereits erlittenen Haft, zu einem Jahr Zuchthaus.

Da er im Auftrag der Komintern gehandelt hatte und da Schweden am Kampf gegen Hitler nicht beteiligt war, zum Teil weniger als nicht beteiligt, mag das Urteil de jure in Ordnung sein. Moralisch besagt es weniger als nichts. Auch Roosevelt und Churchill hatten wählen müssen zwischen Hitler und Stalin.

Was Wehner gequält haben muß, war gewiß nicht die schwedische Verurteilung. Als er sagte, ihm sei die Haut vom lebendigen Leibe gezogen, er sei geschunden worden, meinte er wohl gar nicht, daß er sich auf deutschem und russischem Boden ständig in Lebensgefahr wußte. Vielmehr, er hat sich selbst die Haut abgezogen, in Schweden.

Daß er seiner eigenen kommunistischen Moral untreu geworden war, ohne doch den Bruch mit dem Kommunismus vollzogen zu haben, muß ihn in eine entsetzliche Krise gestürzt haben. Von einer Krise spricht und schreibt er selbst.

Zwei Jahre und fünf Monate verbrachte er in den Strafanstalten Falun, Vänersborg und Langholmen und im geschlossenen Lager Smedsbo. Aber er brach nicht mit der Partei. Noch zu Beginn des Jahres 1943 wünschte er dem deutschen Volk, daß es sich wieder wert mache, »Bruder von anderen Völkern und in erster Reihe von den Völkern der Sowjet-Union genannt zu werden«. Da war kein wohlfeiles »ich wählte die Freiheit«. Dieser Mann ist ein Charakter. Er hat, wie er selbst sagt, den Mund zugekniffen.

Seine Feinde behaupten, er habe nach Kriegsende Fühler in Richtung Ost-Berlin ausgestreckt. Dies wäre nicht schandbar, aber es muß nicht stimmen. Wahr ist, daß die Stationen seiner Sinneswandlungen bis heute im dunkeln geblieben sind.

Günter Gaus schreibt in der Einleitung zu Wehners »Ausgewählten Reden und Schriften«, Wehner habe, vom ersten Aufenthalt in Moskau an gerechnet, fast ein Jahrzehnt gebraucht, seinen Schlußstrich zu ziehen.

Der erste Aufenthalt, das war 1935, der VII. Kongreß der Komintern vom 25. Juli bis 20. August: »Wir ließen uns gern erwärmen und mitreißen«, erinnert sich Wehner. »Waren wir denn nicht dabei, einen neuen geschichtlichen Abschnitt einzuleiten?« Maxim Gorki begrüßen zu dürfen, Lenins Gefährtin Krupskaja in der Kongreßhalle zu sehen: Sogar in der halb selbstkritischen Rückschau wird deutlich, daß Wehner sich erhoben fühlte.

Er, Delegierter mit beratender Stimme, sprach frei und ohne Manuskript, als einer der wenigen, wenn nicht als einziger. Den ständig anwesenden Sekretär Molotows, des Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare, verwunderte das so, daß er sich nach dem Namen dieses deutschen Delegierten erkundigte. Nein, kleine Brötchen hat dieser deutsche Parteimann wohl selbst in Moskau nicht gebacken.

Sommer 1944 kam Wehner frei. 1946 gelangte er irgendwie in die Heimatstadt seiner zweiten Frau Lotte, nach Hamburg. Im September 1946 wurde Wehner politischer Redakteur an der SPD-Zeitung »Hamburger Echo«. Gleich lud er sich einen zweiten Beruf auf: Den Kommunisten im Hafen machte er die Anhänger abspenstig.

Im Jahre 1941, vor seiner Verhaftung also, hat Wehner laut eigenem Zeugnis Ernst Wiecherts literarisch eher anspruchsloses Buch »Das einfache Leben« gelesen. Er las es, wie er schreibt, zum erstenmal, muß es also noch öfter zu Rate gezogen haben.

Den Begriff »einfaches Leben« machte er sich zu eigen. Zwischen dem, was er für wahr erkannte, und dem eigenen Tun wollte er künftig nicht Kluft noch Widerspruch erstehen lassen.

In der politischen Praxis ließ sich das nicht immer machen. Aber »einfach« im Einklang mit sozialistischen Prinzipien, und auch mit der alten Bibel, hat Wehner immer gelebt, bis heute.

Da gab es einfache Freuden und grimmige Kämpfe nebst verzehrendem Ingrimm. Da gab es die Ächtung durch Adenauer und seine Leute, die bis 1960 währte. Über sechs Briefe lang mußte der Außenminister Brentano 1955 mit seinem Patriarchen hin- und herrangeln, weil er Wehner auch nur über seine Schwelle gelassen hatte. Wer, außer Adenauer, hatte so eigenwüchsige und lange zurückreichende Außenseiter-Erfahrung, Anti-Bismarck-Erfahrung notabene? Das »Urgestein« fällt ja nicht wie ein Meteorit vom Himmel.

Weil er so einfach lebte, ohne Bonzentum und ohne Schnörkel, so ganz ohne vordergründige Eitelkeit; weil ihm kein Einsatz zuviel, kein Privatleben zu wichtig, kein Bezirksparteitag zu entlegen war; weil er die Wonnen des Bürgers so unberührbar verachtete, immer auch behaftet mit einem absonderlichen Hang, einem Hang zur expressionistischen Selbstdarstellung und Übertreibung; weil er viel falsches Zeug, aber das Falsche niemals flach aus sich herausstieß; weil er das Richtige manchmal als erster erkannte, aber konsequenter und hartnäckiger durchsetzte: Darum, und nicht weil er der große Organisator und Stratege wäre, sah die Weltanschauungs-Partei, die er selbst zur Allerweltspartei, zum Machtverteilungsverein verwandelt hat, in ihm ihren Charakter, ihre Existenzberechtigung, ihren politischen Sinn.

1959, mit der auf den Kopf gestellten Präsidenten-Wahl, ging Adenauers Herrschaft über die Bundesrepublik zu Ende. 1959, für ein Jahrzehnt, wurde Wehner der bestimmende Politiker jenes Staates, den er nicht gewollt hatte.

Fortsetzung und Schluß: Wehner als Erzfeind Adenauers -- Koalition mit Adenauers CDU -- Ein gemaßregelter Fraktionsvorsitzender stürzt seinen Chef

Zur Ausgabe
Artikel 1 / 75
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten