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ZYPERN / GRIVAS Herr der Insel

aus DER SPIEGEL 44/1958

Das Kolonialmisterium in London wurde kürzlich durch eine Eildepesche des Gouverneurs der britischen Mittelmeer -Insel Zypern, Sir Hugh Foot, alarmiert. Der Gouverneur bat seine Vorgesetzten in London, alsbald eine Gruppe englischer Kriminalisten nach Zypern in Marsch zu setzen, die befähigt sei, Mittel und Wege zu finden, die englischen Streitkräfte und die Bevölkerung auf Zypern von den Drangsalierungen der zyprischen Terroristen zu befreien.

Was Sir Hugh Foot zu seinem ungewöhnlichen Hilferuf veranlaßt hatte, war nicht so sehr der Ausbruch neuer Unruhen auf der umstrittenen Mittelmeer -Insel, als vielmehr die Tatsache, daß die Partisanen der Widerstandsbewegung EOKA zu einer neuen Taktik übergegangen sind: Sie führen einen lautlosen Zermürbungskrieg gegen alle jene Zyprer, die sich noch weigern, das Hauptziel der EOKA bedingungslos zu unterstützen

- die 35 000 Briten auf Zypern zu isolieren.

»Einschüchterung ist auf Zypern eine viel heimtückischere Waffe als offener Terror, denn sie hinterläßt kaum Spuren«, berichtet die britische Journalistin Nancy Crawshaw. Wer sich weigert, den Boykott britischer Waren - im März von der EOKA angeordnet - zu unterstützen, wird von den Rollkommandos der Widerstandsbewegung unnachsichtig bestraft.

Diese Rollkommandos rekrutieren sich vornehmlich aus Halbstarken, Priestern und Schulkindern. Nancy Crawshaw schreibt, daß »die Kinder jeden Ungehorsam ihrer Eltern gegenüber der Sache der EOKA melden müssen. Kleine Jungen verteilen Flugblätter oder bedrohen Geschäftsinhaber und Hausherren; dann avancieren sie zu aktiven Terroristen.«

Und weiter: »Tragen Mädchen Kleider britischer Herkunft, so reißen Halbstarke ihnen die Kleider vom Leibe. Wird ein Zyprer beim Rauchen englischer Zigaretten erwischt, schlägt man ihn nieder. Maskierte Männer haben Fernseh-Apparate zertrümmert; niemand wagt heute, englische Geräte zu besitzen. Anonyme Anrufer stellen Geschäftsinhaber vor die Wahl, als Sühne für den Verkauf englischer Waren entweder ihren Laden mehrere Wochen lang geschlossen zu halten oder aber eine Vernichtung ihrer Waren zu gewärtigen.«

Die neue Taktik der EOKA und der Hilferuf des Sir Hugh Foot veranlaßten schließlich das britische Kolonialministerium, zum erstenmal in der Geschichte des Zypern-Konflikts Scotland Yard einzuschälten. Anfang Oktober reisten zwei gefürchtete Fährtensucher der Londoner Polizeizentrale - Chefinspektor Thomas Butler und Inspektor Peter Vibart, als »Schreckenszwillinge« in der Unterwelt Old Englands wohlbekannt - nach Zypern, um den Abwehrkampf gegen die Zermürbungskampagne der EOKA zu forcieren.

Das Interesse der beiden Sherlock-Holmes-Adepten wird sich vor allem auf den geheimnisumwitterten Mann konzentrieren, der hinter der neuen Kampagne der zyprischen Widerstandsbewegung steht, obwohl lange Zeit nicht einmal die Kriminalisten der britischen Zypern-Polizei genau sagen konnten, ob er wirklich eine Person oder nur eine politische Legende ist: auf Oberst Georgios Theodoros Grivas, den 60jährigen Führer der EOKA.

Tatsächlich haben britische Kolonialbeamte geglaubt, Grivas sei längst tot oder von Zypern geflohen; hinter dem griechischen Heldennamen »Digenis"*, mit dem Grivas seine pathetischen Aufrufe an die griechische Bevölkerung Zyperns unterschreibt, verberge sich ein Komitee von EOKA-Führern.

Mit derartigen Illusionen reagierten viele Briten ihre Enttäuschung darüber ab, daß bisher kein Zyprer bereit war, sich jene 10 000 Pfund (über 117 000 Mark) zu verdienen, die Zyperns britische Behörden auf die Ergreifung ihres Gegners mit dem »kleinen Hitler-Schnurrbärtchen« und den »großen, tiefsitzenden Ohren« - so die zahlreichen Steckbriefe - ausgeschrieben haben.

Bis heute sind Struktur und Stärke der EOKA ein Geheimnis geblieben. Der britische Abwehrdienst weiß lediglich, daß der »harte Kern« - jene Mitglieder der EOKA, die schießen und Bomben legen zeitweise nicht mehr als vierzig Mann stark war. So bescheiden sich auch solche Zahlen neben den 30 000 Mann britischer Sicherheitstruppen ausnehmen, »so sind doch eigentlich auf der Mittelmeer-Insel Zypern die Männer der EOKA, nicht wir Briten, die Herren« ("News Chronicle").

Das ist vor allem das Verdienst des Partisanen-Obersten Grivas, dem selbst seine britischen Gegenspieler - der Gouverneur Foot und dessen Vorgänger, Feldmarschall Harding - Respekt bezeugen. Grivas ist es bisher gelungen, den Fallen zu entrinnen, die ihm seine englischen Verfolger gestellt haben. Ihm eine neue Schlinge zu legen, ist offenbar das Ziel der beiden Londoner Gangsterjäger, die jetzt im Auftrage des britischen Kolonialministeriums nach Zypern kamen.

* Digenis Akritas, Hauptfigur eines byzanitinischen Nationalepos aus dem 10. Jahrhundert. Digenis ("Zwiegeborener") wurde er genannt, weil sein Vater ein Heide, seine Mutter eine Griechin war.

Zyperns Rebellenchef Grivas

Zehntausend Pfund für seinen Kopf

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