SCHULEN / POLIT-GRUPPEN Herr heizt
Vor den vier Gymnasien der ehrwürdigen Universitätsstadt Göttingen verteilten Primaner Flugblätter an heimwärts drängende Pennäler. Schwarz auf gelb ermunterten die Zettel zu organisiertem Widerstand.
»Die Schüler«, so stand da, »sind in unserer Gesellschaft eine ..., rechtlose, unterdrückte ... Gruppe. Abhängig sind sie von der Schule, die keinen demokratischen Geist atmet, und vom Elternhaus, das ... alle Repressalien in der Hand hat.« Und: »Wir finden uns nicht damit ab, uns in der Schule mit überkommenen pädagogischen Mitteln als Rohmaterial verarbeiten zu lassen.«
Nicht nur in Göttingen, wo ein »Unabhängiger Sozialistischer Schülerbund« (USSB) die gelbe Kampfansage drucken ließ, sondern auch in anderen westdeutschen Städten und in West-Berlin bliesen während der letzten Wochen politisierende Pennäler zum Sammeln: Deutschlands Schüler mucken auf.
In Hamburg und München, in Frankfurt und andernorts organisieren sich Gymnasiasten und Berufsschüler und fordern radikale Demokratie im Klassenzimmer:
* Mitbestimmung in Zeugnis- und Versetzungskonferenzen, der Lehrplangestaltung und Lehrmittelauswahl;
* Einführung von Philosophie (statt Religion) und Soziologie als vollbewertete Unterrichtsfächer;
* ständige Diskussion politischer Probleme wie Notstand und Vietnam-Krieg;
* Sexualkunde, die sich nicht -- »so kommen die Spermen zum Eilein« -- auf biologische Fakten beschränkt.
Es gibt Schüler, die machen jetzt nicht. mehr mit!«, signalisierte das »Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler« (AUSS), ein vorläufiger Bundesvorstand der Protestbewegung. in einem Flugblatt aus Frankfurt.
Weitere Informationen, so verhieß die Schrift, seien unter der Frankfurter Telephon-Nummer 77 64 22 abzurufen. Den Apparat dort bedienen freilich keine Schuljungen. Der Aufstand wird vielmehr vom protestgewandten »Sozialistischen Deutschen Studentenbund« (SDS) angeleitet.
Die Schute, so erkannte der SDS-Vorstand Anfang des Jahres in einem Memorandum, »bezieht ihre Legitimität aus vorkapitalistischen Epochen; autoritär und feudalistisch ist sie heute noch«. Und deshalb müsse eine -dem SDS ähnliche -- von Parteien und Staat unabhängige Organisation für Schüler geschaffen werden.
In einer ersten Polit-Pennälergruppe formierten sich daraufhin am 2. Februar 80 Schüler aus 20 Berliner Anstalten im Jugendklub »Ca ira« -- so der Titel eines französischen Revolutionsliedes -- zu einer »Unabhängigen Schülergemeinschaft« (USG).
Ungeladen erschien Berlins Schulsenator Carl-Heinz Evers und forderte das Jungvolk auf, die Schwungkraft doch besser in der Schülermitverwaltung unter den Augen des Lehrkörpers auszuleben. Er wurde ausgebuht.
Die USG-Revolutionäre« die von dem Berufsschüler Michael Lukasik geführt werden, legten zunächst eine Kartei an, in der sie alle Fälle von Autoritätsmißbrauch an Schulen sammeln wollen. Beispiel: An einer Schule wurden Schüler wegen schlechter Leistungen vor die Wahl gestellt, entweder die Anstalt zu verlassen oder eine Prügelstrafe zu erdulden. Einer steckte, ehe er die Schule schließlich doch aufgab, 108 Schläge ein.
Danach eröffneten die Rebellen eine Kampagne zur Sexualaufklärung -- mit Vorträgen eines Medizinstudenten über Abtreibung, Enthaltsamkeit und vorehelichen Geschlechtsverkehr. Motto der Reihe: »Make love, not babies.«
In Göttingen gewann der SDS-Nachwuchs schon eine erste Bataille. Auf Protest des neuen Schülerbundes wurde am Neuen Gymnasium vom Lehrerkollegium die Schulordnung zurückgezogen, die den Schülern als »Dreschflegel« erschien und in der sie die Ideologie einer ... formierten Schule« entdeckt haben wollen.
Der Leiter des Gymnasiums, Oberstudiendirektor Gerd Wichmann, 58. verstand seine Schulwelt nicht mehr: »An unserer Anstalt herrschte doch Ruhe. Aber das paßte wohl gewissen Leuten nicht. Da ist ein Herr vom SDS, der heizt hier die Schüler auf.«
Daß dieser Herr kein einzelner ist. soll sich am 18. Juni in Frankfurt erweisen, wenn der erste Bundeskongreß der sozialistischen Schüler steigt.
Das Hauptreferat soll ein Linker aus Berlin halten: Außenministersohn Peter Brandt.