JAPAN Herr Herumgeher
Ein braver Japaner rümpfte die Nase und lief zur Polizei. »In unserem Land trifft man äußerst selten jemanden«, sagte er später, »der einige Tage lang nicht gebadet hat.« Es schauderte ihn sichtlich. »Offen gesagt, die Frau stank.«
Die empfindliche Bürgernase ermöglichte es der japanischen Polizei 1972, eine der meistgesuchten Terroristinnen der »Vereinigten Roten Armee« zu verhaften: Hiroko Nagata, selbsternannte Richterin beim Fememord an 14 abweichlerischen Rotarmisten.
Im August 1974 detonierte vor dem Verwaltungsgebäude des Mitsubishi-Konzerns in der Tokioter Innenstadt eine Bombe, von Terroristen gelegt. Acht Menschen starben, fast 300 Passanten wurden verletzt.
Obgleich der Fahndungsaufwand der Polizei bescheiden blieb -- keine Großrazzien, kein spektakulärer Masseneinsatz Uniformierter -, waren die Bombenleger in relativ kurzer Zeit festgesetzt: Hinweise von Bewohnern großer Wohnblocks über neue Mieter und verdächtige Besucher in der Nachbarschaft brachten das Ende für die »Ostasiatische Bewaffnete Front, Fangzahn der Erde«.
Japans Polizei steht im Ruf, die effektivste Schutztruppe der Welt zu sein -- weshalb es nicht sehr wahrscheinlich ist, daß sich Westdeutschlands flüchtige RAF-Terroristen ausgerechnet in dieses Polizei-Dorado abgesetzt haben sollten.
Doch Japans Polizei wäre wohl nur halb so erfolgreich, wäre nicht die Mitarbeit der Bevölkerung so intensiv, ihr Bedürfnis, Informationen an die Ordnungshüter weiterzureichen, so groß.
Ein Sprecher der Nationalen Polizeibehörde in Tokio bestätigt es: »Rund 70 Prozent unserer Festnahmen werden durch die Mitarbeit gewöhnlicher Bürger ermöglicht. Sie erzählen uns sofort, wenn sie etwas Ungewöhnliches bemerken.«
Ob Terror oder Taschendiebstahl, Ein- oder Ehebruch: Dem Schutzmann an der Ecke mit Berichten zu helfen, ihn selbst mit überflüssigem Klatsch und Tratsch am Privatleben seiner Gemeinde teilhaben zu lassen, ist dem Japaner selbstverständliche Pflicht und gesuchtes Vergnügen. Erfüllung findet er dabei leicht, denn in einer »nur Japan eigenen Weise«, wie der amerikanische Politologe David Bayley meint, steht dort der Schutzmann noch wirklich an der Ecke.
Der direkte Kommunikationsdraht zwischen Volk und Polizei wird gewahrt durch ein Netz von »koban«, winzigen Polizeiwachen, oft nur ein kahler Raum von wenigen Quadratmetern, im Schichtdienst rund um die Uhr von zehn Beamten nacheinander besetzt.
In Tokio liegen diese »koban« nie mehr als zehn Gehminuten auseinander; über 1200 Polizeiboxen sind es allein in der Metropole. In Japans Großstädten finden sich derzeit 5891 Polizeiboxen, über 10 000 weitere auf dem Lande, dort trotz ihrer Winzigkeit sogar gleich Familienwohnung der Beamten.
Die Bevölkerung, ergab eine polizeiinterne Untersuchung kürzlich, ist mit ihren Nachbarschafts-Polizisten glücklich und deshalb strikt gegen jede Verringerung der koban.
Selten nur werden koban-Besatzungen ausgewechselt; zwei Jahre gar hat jeder neue Streifengänger Zeit, sich mit seiner Nachbarschaft vertraut zu machen. Im Schnitt betreut er 450 Haushalte, spricht in jedem einzelnen mindestens zweimal im Jahr persönlich vor.
Den wenigsten Japanern nur ist es lästig, wenn ihr »omawarisan« (Herr Herumgeher), wie die koban-Schupos liebevoll genannt werden, auf seinem weißen Dienstfahrrad vorgerollt kommt. Bereitwillig werden dann alle Fragen, die er auf schier endlosem Papier abhakt, beantwortet: Familienstand, Beruf, Kinder, Untermieter, Verwandtschaft, Lebensgewohnheiten, private Hobbys gar.
»Der japanische Polizist«, erklärt koban-Experte Bayley, »hat eine andere Aufgabe als zum Beispiel der amerikanische. Denn er stellt nicht nur Gesetzesübertretern nach. Er versteht sich selbst als jemand, der zu moralischer Sauberkeit ermutigt.«
Der Streifenbeamte als moralisches Vorbild: Im heute noch konfuzianisch beeinflußten Japan erscheint Herrschaft oft als Frage von Tugend. So erklärt sich, zumindest teilweise, das fast bedingungslose Vertrauen der Bevölkerung in die allgegenwärtige uniformierte Obrigkeit, die selbst vor der Privatsphäre nicht halt macht.
Überschwengliches Lob förderte eine Umfrage vor einigen Jahren zutage. 60 Prozent der befragten Japaner hielten ihren Nachbarschafts-Polizisten für »einen gütigen und warmherzigen Freund«.
Diesem Image müssen die koban-Cops gerecht werden. Bis in absurde Kleinigkeiten wird dem Volk von den oft noch jungen Polizisten Lebenshilfe zuteil.
Auf dem Dach des koban an der Ginza-Kreuzung im Zentrum Tokios wurde ein Lautsprecher montiert. Jedesmal, bevor nun die Ampel auf Gelb springt, ertönt eine sanfte weibliche Stimme: »Es ist jetzt gefährlich, die Straße zu überqueren. Wir wollen uns alle korrekt verhalten und die Verkehrsregeln beachten.«
Lautsprecherhilfe auch vor einem Obdachlosenasyl in Tokio. Da kaum jemand dort eine eigene Uhr besitzt, weckt das koban die Schläfer jeden Morgen kollektiv. Und wer sich einen Goldfisch als Haustier halten möchte, aber kein Haus hat, kann den Fisch ins Gemeinschaftsbassin des koban setzen.
Kein Einzelfall auch dies: Ein Polizist erfuhr, daß in seinem Bezirk ein Ausländer, den er zu überwachen hatte, krank war. Er schickte seine Tochter, den Fremden zu pflegen, bis der wieder gesund war.
Japan hat, Interpol zufolge, die niedrigste Kriminalitätsrate der Welt. Noch erstaunlicher: Während fast überall die Zahl der Kapitalverbrechen steigt, ist sie in Japan seit langem rückläufig. Tokio gilt als sicherste Großstadt der Welt.
Das koban-System, meint Tokios Polizeiführung, hat einen entscheidenden Anteil daran. Die Japaner in ihrer Mehrheit glauben das auch: Nicht nur, daß sie die stete Nähe der Polizei gelassen hinnehmen, sie helfen ihrem »omawarisan« aktiv -- und sei es manchmal auch nur symbolisch.
Vor Jahren gründete die Oberschülerin Fusako Shigenobu eine Bürgerbewegung »Die kleine Gefälligkeit": Sie verteilte auf der Straße Blumen an Polizisten, schmückte auch manch tristes koban mit einem Strauß.
Heute ist Fusako Shigenobu die meistgesuchte Terroristin, unbestrittene Chefin der »Roten Armee« Japans. Sie wußte, warum sie sich schon vor fünf Jahren in den Nahen Osten absetzte.