SCHWEDEN Herrliches Leben
Eine Gang junger Burschen stürmte den Vivo-Supermarkt im Stockholmer Problemvorort Rinkeby und machte sich mit Taschen voller Beute davon. Ein Fernsehteam, das gerade den Manager über seine Erfahrungen mit Jugendgangs befragte, konnte den Raubüberfall filmen.
Schweden erlebte, was viele als Lehrstück zum Reizthema Strafvollzug betrachten. Zwei der Kaufhausräuber wurden unter Zwangsobhut des Sozialamtes gestellt, das sie vor zwei Wochen an Bord einer angemieteten Luxusjacht in die karibischen Gewässer zwischen Martinique und Barbados reisen lassen wollte - zur Rehabilitation.
Stockholms »Expressen« höhnte: »Zum Segeln in Westindien verdammt!« Und der Reichspolizeichef schrie auf: »Sperrt sie hinter Schloß und Riegel.« Vorletzten Sonntag kamen zwei der Beteiligten, darunter der 18jährige Gangleader, dann doch in U-Haft, diesmal wegen des Verdachts, zur Gruppenvergewaltigung von zwei 14jährigen Mädchen angestiftet zu haben.
Schwedens Strafvollzug, den auch Liberale im Lande mitunter für zu freizügig halten, trägt in den Augen seiner Kritiker Mitverantwortung für die Taten des Christer Pettersson, 42. Mit 19 war er auf die schiefe Bahn geraten. Für Ladendiebstähle und Einbrüche kam er, Schauspieler aus gutbürgerlicher Familie, anfangs stets nur unter Schutzaufsicht, bevor ihn die Richter in eine psychiatrische Anstalt einwiesen.
Von dort brach er aus, erstach auf der Flucht einen Mann mit einem Bajonett, wurde wieder den Psychiatern übergeben, aber nach sieben Monaten »auf Probe« entlassen. Er war für insgesamt 63 Vergehen, vom Diebstahl bis zum Mordversuch, in 18 Gerichtsverfahren verurteilt worden.
Mitte Dezember 1988 landete er dann wieder in U-Haft. Von Montag dieser Woche an muß sich Pettersson vor dem Stockholmer Amtsgericht für eine Tat verantworten, die Schweden vor nunmehr über drei Jahren in Volkstrauer stürzte und die größte Fahndung in der Geschichte des Landes auslöste.
Pettersson, so heißt es in der Anklage des Oberstaatsanwalts Anders Helin, habe »am 28. Februar 1986 an der Kreuzung Sveavägen/Tunnelgata den Ministerpräsidenten Olof Palme vorsätzlich des Lebens beraubt, indem er Olof Palme mit einem Revolver in den Rücken schoß«. Weiterhin wird ihm ein Mordversuch an Lisbet Palme angelastet, »indem er einen Revolverschuß auf sie abfeuerte«.
Zahlreiche Anwälte und Kriminologen zweifeln jedoch, daß die Kripo wirklich den Täter erwischt hat und ob die Staatsanwaltschaft richtig beraten war, das Indizienmaterial einem Gericht vorzulegen. Denn in 18 Verhören konnten die Beamten den Angeklagten zwar zahlloser Lügen überführen und sein Alibi für den Mordzeitpunkt weitgehend entkräften. Doch ein Schuldgeständnis konnten sie ihm nicht abringen: »Warum hätte ich Palme ermorden sollen?« fragte er wieder und wieder. Daß er überhaupt unter Mordverdacht steht, schiebt er auf seinen Gesichtsausdruck: »Das liegt an meinen Augen, ich sehe verkommen aus.«
Mit unzweideutigen technischen Beweisen kann die Anklage nicht aufwarten. Zwar wurden die beiden am Tatort gefundenen Geschosse vom Fabrikat Winchester 357 Western-Metal Piercing auch vom Bundeskriminalamt in Wiesbaden und dem FBI als die »echten« Tatgeschosse identifiziert. Doch die Tatwaffe konnte von der Polizei noch nicht vorgelegt werden.
Vor einem halben Jahr erst begann das technische Dezernat der Stockholmer Kripo mit dem Probeschießen aller schwedischen Dienst- und Privatrevolver der Marken Smith & Wesson, Sturm Ruger, Llama, Escodin und Kassnar. Doch »erst in fünf Jahren«, so sagte der zuständige Kommissar, »haben wir alle registrierten Waffen durchgetestet«.
So vertrauen die Staatsanwälte vor allem auf die Aussagen von 21 Zeugen der Anklage. Schlüsselzeugin ist die beim Mord nur leicht verletzte Lisbet Palme. Sie konnte Pettersson ohne nennenswertes Zögern aus einer Gruppe von elf Männern identifizieren.
Doch die Gruppe wurde ihr nicht live gegenübergestellt, sondern nur per Videoband vorgeführt, weder Oberstaatsanwalt Helin noch die Pflichtverteidiger durften aufgrund von Lisbets Vorbedingungen anwesend sein.
Daß es Pettersson an plausiblen Tatmotiven mangelt, hält Staatsanwalt Jörgen Almblad nicht für relevant: »Wir brauchen keine Motive nachzuweisen, sondern nur, daß der Angeklagte den Mord vollbracht hat und kein anderer Mensch, der sich in der Nähe des Tatorts aufhielt, in Frage kommt.«
Die Wahrscheinlichkeit, daß die Richter einen Schuldspruch fällen, schätzt Almblad auf »ungefähr 100 Prozent, auch wenn man in einem Indizienverfahren niemals ganz sicher sein kann«.
Sollte Almblad recht behalten, hätten die Richter nur eine Wahl: Sie müßten den Angeklagten zu lebenslanger Haft verurteilen. Er könnte dann nach 12 bis 15 Jahren begnadigt werden, aber mit etwas Glück auch schon früher frei sein - wenn er in den Genuß der sozialpsychologischen Rehabilitation käme.
Diese liberale Einrichtung machte sich unter anderem der wegen »grober Spionage« für die Sowjet-Union zu lebenslanger Haft verurteilte Polizeioffizier Stig Bergling zunutze: Er entwich 1987 aus lockerer Aufsicht, seine letzten Spuren verloren sich nahe der Hauptstadt Helsinki. Zwei Postkarten sind seither die einzigen Lebenszeichen. Beider Text: »Das Leben ist herrlich! Stig.«
Zu schöne Aussichten für den mutmaßlichen Mörder des Nationalhelden Palme? Einen Präzedenzfall konnten die Schweden jetzt nicht brauchen.
Mit einem plötzlich entdeckten Fluchtrisiko machten Ende vergangener Woche einige Sozialämter doch noch den Rehabilitationstrip der ihrer Obhut anvertrauten Täter rückgängig - und vereitelten damit den anstößigen Segeltörn in die Karibik.