Zur Ausgabe
Artikel 49 / 86

SOWJET-UNION / PARTEI Herz und Hirn

aus DER SPIEGEL 14/1971

Das politische Schicksal von 244 Millionen Einwohnern der Sowjet-Union bestimmen 14 Millionen Sowjetbürger: die Mitglieder der Kommunistischen Partei.

Die 230 Millionen Nicht-Kommunisten der UdSSR bringen, so die Partei-Losung, »den Kommunisten uneingeschränktes Vertrauen entgegen«. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, lehrte Lenin -- aber Kontrolle üben die Sowjetbürger über ihre Staatspartei nicht aus.

Das politische Schicksal der 14 Millionen Parteimitglieder bestimmen die 195 Mitglieder des Zentralkomitees und zwei von diesen gewählte Institutionen: das Sekretariat -- mit Generalsekretär Breschnew an der Spitze -- und das Parteipräsidium, das heute wieder wie unter Stalin »Politbüro« heißt und aus elf Mitgliedern besteht.

Die Parteimitglieder vertrauen ihrem Zentralkomitee (ZK) -- aber sie kontrollieren es nicht, sondern das ZK kontrolliert die Partei »Ohne richtunggebende Weisungen des Zentralkomitees unserer Partei wird in unserer Republik keine einzige wichtige politische oder organisatorische Frage von irgendeiner staatlichen Institution entschieden«, lehrte schon Lenin.

Das sowjetische ZK verfügt über mehr Macht als irgendeine Institution in einem anderen Industrieland: Dem ZK unterstehen Staatsapparat, Armee und Polizei, die Direktoren der staatlichen Betriebe, die Schulleitungen, Universitäten, Redaktionen. Das ZK entscheidet über die Verteilung des Sozialprodukts, über Investitionen, Kredite, Preise, Löhne und Gehälter.

Die vom ZK abhängigen Parteifunktionäre -- rund eine halbe Million besoldeter Apparatschiks -- setzen den Willen des ZK in der Sowjetgesellschaft durch: mit Hilfe der Sekretäre der Parteiorganisationen in Stadt und Land, in Betrieben und Kolchosen, Behörden und Militäreinheiten, und mit den einfachen Parteimitgliedern in 365 000 Grundorganisationen der KPdSU.

Sie bestimmen, wer in der Sowjet--Hierarchie aufsteigt, wer welchen Posten und wer eine bessere Wohnung erhält, wer studieren und was er lesen darf, was produziert und was verkauft werden soll.

Denn die Partei ist -- was in der Konzeption von Karl Marx nicht vorgesehen war -- laut Artikel 126 der Sowjetverfassung »der Vortrupp der Werktätigen ... und leitende Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen wie auch der staatlichen In ihrem Selbstverständnis nennt die Partei, »die immer recht hat«, sich das »kollektive Gewissen«, »Herz und Hirn unserer Epoche« und »Licht unseres Lebens«.

Das Zentralkomitee dieses Lebenslichts kann auch ohne die Regierung Verordnungen erlassen. Formal wird das ZK vom Parteitag gewählt, zu dem regionale Parteikonferenzen und Landesparteitage Delegierte entsenden. in dieser Woche, am 30. März, treten rund 5000 Delegierte (je einer auf 2900 Mitglieder) zum Parteitag im Kongreßpalast des Kreml zusammen.

Es ist der 24. Parteitag in der Geschichte der russischen Kommunisten, deren Parteitage oft -- nicht immer -- einen neuen Kurs ankündigten.

Auf dem 1. Parteitag im März 1898 gründeten in Minsk neun Delegierte von sechs sozialdemokratischen Organisationen eine »Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei«. Auf dem 2. Parteitag 1903 in Brüssel, später in London, gewann der Delegierte Lenin eine Mehrheit für seine Konzeption einer straffen Kaderpartei intellektueller Berufsrevolutionäre. Sie nennt sich seit dem 7. Parteitag 1918 »Kommunistische Partei«.

Der 10. Parteitag im März 1921 führte das bis heute gültige Verbot der Bildung von Fraktionen innerhalb der Partei ein und ging zur »Neuen Ökonomischen Politik« über, einer Liberalisierung der Wirtschaft; der 15. im Dezember 1927 beschloß die Kollektivierung der Landwirtschaft und den ersten Fünfjahresplan für die Industrialisierung Rußlands.

Von den Delegierten des 17. Parteitags 1934 waren nach Stalins Säuberungen noch zwei Prozent auf dem 18. Parteitag 1939 vorhanden. Von den Kongreßpalast im Kreml.

71 Mitgliedern des 1934 gewählten ZK wurden 48 hingerichtet; zwei starben durch Selbstmord.

Stalin ließ von 1939 bis 1952, ein halbes Jahr vor seinem Tod, überhaupt keinen Parteitag mehr einberufen. Auf dem 19. Parteitag 1952 setzte er jene Funktionäre aus seiner Schule ein, die noch heute die Führungselite des Sowjetstaats bilden.

Nikita Chruschtschow, der unter Stalin Karriere gemacht hatte, verkündete als Erster Parteisekretär auf dem 20. Parteitag 1956 die Entstalinisierung und auf dem 22. Parteitag 1961 ein neues Parteiprogramm sowie ein (im wesentlichen noch heute gültiges) Parteistatut. Nach der persönlichen Diktatur Stalins stellte Chruschtschow die Parteiherrschaft wieder her, wie Lenin sie begründet hatte.

Die Partei der Herrschenden nimmt nicht jeden bei sich auf. Ein Sowjetbürger, der ihr beitreten will, muß handschriftlich ein politisches Bekenntnis und einen Lebenslauf abfassen, drei Parteimitglieder als Bürgen benennen und sich bei der Parteizelle an seinem Arbeitsplatz bewerben. Bei Annahme wird er für ein Jahr »Kandidat«.

Jedes Parteimitglied, das sich nicht bewährt, kann in den Kandidatenstand zurückversetzt werden. Die Genossen sollen eine moralische Elite sein: Bei Trunksucht, Korruption, Unehrlichkeit oder politischer Abweichung drohen Parteistrafen; jährlich werden etwa 50 000 Genossen aus der Partei wegen derartiger Delikte ausgeschlossen. Wer nicht spurt, verliert mit dem Parteibuch auch seinen privilegierten Job.

Die so gefilterte Massenorganisation, die aus Lenins Bund von Berufsrevolutionären hervorgegangen ist, führt das Sowjetvolk, aber sie repräsentiert es nicht: Etwa ein Fünftel der Parteigenossen sind Frauen, etwa ebenso viele sind Arbeiter, jeder sechste hat heute eine abgeschlossene Fach- oder Hochschulbildung, vor allem die Funktionäre der Partei (siehe Seite 121).

Seit Lenin gilt das Prinzip des »demokratischen Zentralismus«, das die Wählbarkeit aller leitenden Parteiorgane von unten nach oben vorsieht, aber auch die strikte Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit und die Anerkennung aller Beschlüsse der höchsten Organe durch die unteren Organe -- und damit die dauerhafte Absicherung einer einmal etablierten Führungsgruppe, solange der es gelingt, die Parteiwahlen zu manipulieren.

Bisher ist das der Führungsspitze meist gelungen. Die Kandidaten für parteiinterne Wahlen werden stets durch den Parteiapparat von oben »empfohlen«. Wer sich nicht unbeliebt machen will, folgt der Empfehlung.

Freimütig forderte die Funktionärszeitschrift »Parteileben« vor Jahren, die Genossen sollten »sich aufmerksam zur Meinung übergeordneter Parteikomitees verhalten«, und: »Die Wahlen müssen geschickt gelenkt werden und dürfen nicht dem Selbstlauf überlassen werden.« Einige »nicht genügend erzogene« Genossen hätten einen »formalistischen, falschen« Standpunkt, wenn sie »hartnäckig fordern, daß in die Kandidatenlisten mehr Kandidaturen eingetragen werden als gewählt werden müssen«.

Später forderte »Parteilehen« selbst mehr Demokratie und enthüllte dabei die üblichen Methoden. Das Blatt kritisierte bei der Vorbereitung des letzten Parteitags 1966:

Manche Genossen ... versuchen, auf das Verfahren bei den Wahlen zu den Partei organen das Prinzip des Zwangscharakter. der Beschlüsse der oberen Organe für die unteren Organe anzuwenden: die Empfehlung einer Kandidatur durch das Kreis- oder Stadtparteikomitee ist kein Beschluß. dessen Durchführung eine Pflicht Ist, sondern nur ein Gesichtspunkt, den die Kommunisten natürlich in Betracht ziehen müssen, mit den sie sich aber auch nicht einverstanden erklären können. Und es ist schlecht, ein solches Nicht-Einverständnis als einen »Akt der Untergrabung« der Autorität des höheren Organs auszulegen.

Ähnlich zeigte das Parteiorgan »Kommunist« einmal auf, wie »demokratischer Zentralismus« mitunter praktiziert wird:

Sobald es zu Wahlen oder zu Tätigkeitsberichten kommt, erscheinen außerordentlich aufmerksame Vormunde, die alle möglichen, der Demokratie fremden Prozeduren einführen und versuchen. den Parteimassen eine schlechte Kandidatur aufzudrängen und manchmal zu diesem Zweck ganz graben Druck ausüben. Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß jedes höhere Parteikomitee den Kommunisten empfehlen kann, diesen oder jenen Genossen in ein Parteiorgan zu wählen, und nicht nur empfehlen, sondern auch eine Kandidatur verbieten kann. Aber man hat kein Recht, Rat und Empfehlung in ein Werkzeug des Drucks auf die Kommunisten umzuwandeln.

Doch da die Genossen in der Regel der Partei nicht angehören, um Opposition zu leisten, sondern um auf zusteigen, wählt sich die Führung ihre Mitgliedschaft selbst: Das jeweils höhere Führungsorgan sorgt für die richtige Zusammensetzung der ihm unterstellten Organe. Solange nicht das Prager Fieber einer Demokratisierung der Partei die KPdSU ergreift, bestimmen die hauptamtlichen Funktionäre -die eigentlich nur die Parteibeschlüsse auszuführen haben -, was in der Partei geschieht.

Die Funktionäre verteidigen die Machtpositionen und materiellen Privilegien der Partei-Klasse: Sie achten darauf« daß nur Verteidiger dieses Systems avancieren. Die Führung regeneriert sich aus sich selbst.

Beförderungen, die einen Sitz Im ZK kraft Amtes zur Folge haben, kontrolliert das Politbüro, nachdem das Sekretariat die Personalakten vorbereitet und einen Vorschlag unterbreitet hat. Denn das Zentralkomitee ist ein Spiegelbild der wichtigsten Apparate und Pressure-groups der Sowjetmacht.

Die stärkste Gruppe stellen die regionalen Parteisekretäre, Im ZK sitzen 74 der 84 Bundes-Minister, 10 der 14 Marschälle, wichtige Wehrbezirks-Kommandeure, der Generalstaatsanwalt und der Präsident des Obersten Gerichtshofs, die Sowjetbotschafter aus den jeweils für die sowjetische Außenpolitik wichtigsten Ländern, Vertreter der Massenorganisationen, der Präsident der Akademie der Wissenschaften. Zur Dekoration gehören dem jetzigen ZK einige Kunstschaffende und Betriebsdirektoren an, ferner zehn Arbeiter, eine Hafen-Kranführerin, eine Weberin und zwei Melkerinnen.

Genau wird darauf geachtet, daß die Vertreter des Parteiapparats die absolute Mehrheit haben: In dem 1961 gewählten ZK waren 88 der 175 Vollmitglieder regionale Parteisekretäre oder Angestellte des zentralen Apparats. Von den 360 Vollmitgliedern und Kandidaten des letzten ZK, das 1966 auf dem 23. Parteitag gebildet worden war, stellte die Partei mit ihren Gliederungen 183 -- das waren 50,8 Prozent. Vielleicht rechnet die Partei damit, daß doch einmal Kampfabstimmungen stattfinden könnten -- vielleicht dienen die Mehrheitsverhältnisse auch als Basis für die Absprachen vor den Sitzungen wie in einer parlamentarischen Demokratie.

Denn über die Zusammensetzung des ZK wird monatelang hinter den Kulissen verhandelt, ehe die aus Kompromissen entstandene alphabetische Liste der zu Wählenden den Parteitagsdelegierten vorgelegt wird, die dann diese Liste nur noch -- bei geheimer Stimmabgabe -- in die Urne zu werfen haben.

Innerhalb des ziemlich festliegenden Proporzes der einzelnen Apparate zielen Machtkämpfe, Ämterpatronage und Intrigen auf eine stärkere Vertretung des eigenen Clans, der sich oft aus den Freunden bildet, die ein Aufsteiger im Lauf seiner Karriere auf den einzelnen Stationen gesammelt hat -- so etwa Breschnews sichere Anhänger aus seiner Zeit in Dnepropetrowsk oder die Lobby der Manager aus der Rüstungswirtschaft um den Politbüro-Kandidaten Ustinow, die Pressure-group der ehemaligen belorussischen Partisanen oder der früheren Funktionäre des Staatsjugendverbands »Komsomol« um das Politbüromitglied Schelepin.

Sie sammeln sich in zwei großen Koalitionen: den (nach einem Chruschtschow-Wort) »Eisenfressern«, die für eine Bevorzugung der Schwer- und Rüstungsindustrie sowie eine militärfreundliche Etat- und Außenpolitik eintreten und meist die konservativen Parteiapparatschiks auf ihrer Seite haben, und die Progressiven, die für eine Förderung der Konsumgüter-Produktion, eine liberalere Innenpolitik und außenpolitische Annäherung an den Westen plädieren mit Unterstützung des Staats- und Wirtschaftsapparats

Seit Chruschtschows Sturz 1964, als die Ämter des Partei- und des Regierungschefs getrennt wurden, gilt Parteisekretär Breschnew als Repräsentant der Konservativen und Premier Kossygin als Anführer der Fortschrittspartei. Das Duumvirat funktionierte, weil Breschnew immer noch ein bißchen fortschrittlich und Kossygin ziemlich konservativ war.

Um nach außen das Bild einer völligen Geschlossenheit der sowjetischen Führungsspitze zu wahren, wird im ZK nur versteckt diskutiert: Indem einige Redner besonders heftig für einen Beschluß argumentieren, andere sich zurückhaltender äußern und eine dritte Gruppe bewußt schweigt und damit Mißfallen bekundet, lassen sich für Eingeweihte Meinungsverschiedenheiten ablesen.

In der Regel hat das ZK lediglich schon vorher ausgehandelte oder von Politbüro und Sekretariat abgesprochene »Resolutionen« nachträglich zu genehmigen. Unter Chruschtschow wurden oft die Sitzungsprotokolle veröffentlicht. Nach seinem Sturz 1964 wurde bekanntgegeben, daß Kossygin »einstimmig« zum Premier gewählt wurde, bei Breschnews Wahl zum Parteichef fehlte dieser Hinweis, Heute sind Sitzungen und Abstimmungsergebnisse geheim (die Stimmabgabe im ZK erfolgt durch Handaufheben) -- gerade diese Geheimhaltung ermuntert aber viele ZK-Mitglieder wahrscheinlich zu einer freimütigeren Debatte.

Ohne Zweifel ist das sowjetische ZK nicht mehr nur ein Akklamations-Organ. 1957 rief Chruschtschow das ZK sogar gegen das Parteipräsidium (wie damals das Politbüro hieß) zu Hilfe, weil sich dort eine Mehrheit gegen ihn gebildet hatte. Später suchte er oppositionelle Stimmungen gegen sich selbst im ZK dadurch zu verhindern, daß er Hunderte von »Gastdelegierten«, die oft nicht einmal der Partei angehörten, an ZK-Sitzungen teilnehmen ließ -- in der Annahme, (Ile ZK-Mitglieder würden vor aller Öffentlichkeit keinen Widerstand wagen.

Dennoch kam Chruschtschow mit seinen Ideen manchmal beim ZK nicht durch, und es war das 1961 unter Chruschtschow zusammengestellte Zentralkomitee, das ihn 1964 seines Postens enthob, nachdem sich auch im Parteipräsidium, das ohne Chruschtschow tagte, nach zweitägiger Sitzung wieder eine Mehrheit gegen ihn gebildet hatte.

Während das Zentralkomitee mindestens halbjährlich zusammentreten muß, versammeln sich die elf Mitglieder des Politbüros zwei- bis dreimal in der Woche. Sie sind das oberste Machtorgan der UdSSR, sie entscheiden alle laufenden Probleme der sowjetischen Politik.

»Wenn es nicht gelingt, in irgendeiner Frage zu einem einheitlichen Standpunkt zu gelangen, wird über sie durch einfache Stimmenmehrheit entschieden«, erzählte Chruschtschow einmal dem damaligen Chefredakteur der »New York Times«, Catledge. »Es gibt natürlich Fragen, über die sehr hitzige Debatten entbrennen.

Das Politbüro tagt im Kreml -- in jenem Saal, in dem voriges Jahr Kanzler Brandt mit Breschnew redete. Zwischen neun und zehn Uhr morgens fährt die Prominenz ins Amt -- dann kann ihr Volk die schwerbewachten Wagen mit verhängten Fenstern sehen.

Seit dem Amtsantritt Breschnews und Kossygins vor über sechs Jahren wurden benachbarte Parteistaaten von revolutionären Bewegungen erschüttert: In China stürzten Rotgardisten den Parteiapparat, in der Tschechoslowakei reformierte die Partei sich selbst von oben. Von beiden Gefahren grenzte die Sowjet-Union sich ab unter dem Risiko militärischer Konflikte.

Die Führung der UdSSR suchte einen dritten Weg zur inneren und äußeren Stabilisierung des Status quo durch Kontakte zum Westen, schloß voriges Jahr ihren Pakt mit Bonn -- und wird von Konservativen im eigenen Lager gemahnt, sich gegen den »Sozialdemokratismus abzugrenzen

Sowjet-Konservative sehnen sich wieder nach dem starken Mann, der als allmächtiger Schiedsrichter zwischen den widerstreitenden Interessengruppen fungiert. Nach dem Sturz Stalins wie nach dem Sturz Chruschtschows hatten sich die Spitzenfunktionäre zwar geschworen, nie wieder alle Macht in einer Hand zu vereinigen. Das Parteistatut erhebt in Artikel 28 die »kollektive Führung zum »obersten Prinzip -- doch Parteichef Breschnews Streben nach einer Vorrangstellung wird von der Lobby im Parteiapparat und bei den Militärs goutiert. Das historische Vorbild, der Alleinherrscher Staue, wird schrittweise rehabilitiert.

In der Tat hat der Parteichef im sowjetischen System heute weniger Vollmachten als ein Chef der Exekutive einer parlamentarischen Demokratie. Der französische Ostexperte Michel Tatu kam zu dem Ergebnis**.

Er kann keine Beschlüsse fassen. Anderswo, zum Beispiel in Großbritannien, ist der Premierminister dem Unterhaus gegenüber verantwortlich, nicht aber den Beratern seines Kabinelis gegenüber. Er kann gegen deren Meinung handeln Breschnew kann eine Entscheidung von der Mehrheit des Politbüros aufgezwungen werden.

Er kann die Zusammensetzung seiner Regierungsmannschaft nicht verändern. Er kann eventuell als Chef des Sekretariats Einfluß auf die Ernennung dieses oder jenes mittleren Funktionärs ausüben. Aber um jemanden ins Politbüro zu holen oder um eines seiner Mitglieder aus ihm zu entfernen, braucht ei die Einwilligung seiner Kollegen. Faktisch wird ihm seine Umgebung von der Kooptierungsregel aufgezwungen. Diese selbe Regierungsmannschaft kann ihn ohne vorherige Benachrichtigung verabschieden

Breschnew hat sich stets bemüht, das zu ändern -- durch Stärkung seiner Position als Erster Sekretär. Von dem letzten Parteitag, dem 23. im März/April 1966, ließ er sich den Titel eines »Generalsekretärs verleihen, den bis dahin nur Stalin getragen hatte. Ein Vierteljahr später wurde er vom Politbüro gebremst und öffentlich -- wenn auch ohne Namensnennung -- wegen seines Strebens nach Alleinherrschaft gerügt,

Für die Prag-Intervention gewann Breschnew eine Mehrheit im Politbüro, doch im nächsten Jahr waren die Entspannungsfreunde in der Mehrheit. Anfang 1970 scheiterte offensichtlich ein Versuch, die konservative Majorität im Politbüro wiederzugewinnen, woraufhin Breschnew sich den »Tauben« im Kreml anpaßte.

Doch die Macht-Balance war so labil, daß Breschnew den laut Statuten im März 1970 fälligen Parteitag verschieben mußte. Am 2. Juli vorigen Jahres erklärte er vor dem ZK, der Parteitag solle noch 1970 stattfinden -- elf Tage später wurde in einer neuen ZK-Sitzung als neuer Termin März 1971 festgelegt.

Breschnew begann, sich iii die Zuständigkeiten des Regierungschefs Kossygin einzumischen, er kam in eine Kabinettssitzung. in der er von Amts wegen nichts zu suchen hatte, und hielt dort eine Rede; zu Neujahr 1971 (auf diesen Festtag hatte er sogar seinen offiziellen Geburtstag verschieben lassen) hielt er als erster Sowjetführer eine Fernsehansprache an sein Volk.

Doch »Kommunist«, das theoretische Organ des ZK, warnte ihn: »Es ist unsinnig, wenn ein Führer meint, daß er, wenn er einen bestimmten Posten erhalten hat, auch automatisch Autorität erwirbt ... Der Führer muß wissen, daß das ihm erwiesene Vertrauen ein Vorschuß ist Offenbar galt dk Rüge freilich gleichzeitig auch Kossygin:

Nicht hoch ist jene Autorität, welche auf Kosten billiger Popularitätshascherei, Anbandelung an die Massen und Familien wirtschaft erreicht wird. Solche Beziehungen setzen die Achtung vor dem Führer herab ... Aber im Unrecht ist auch jener Führer, der da meint, daß er seine Autorität um so zuverlässiger bewahrt, wenn er sich vor den Massen durch die Kabinettstüren abgrenzt, indem er die Distanz zwischen sich und Untergebenen betont

Vermutlich war unter den ZK-Genossen der alte Streit um die Prioritäten zwischen Schwer- und Konsumgüterindustrie neu entbrannt, das Schlüsselproblem der Sowjetwirtschaft. Breschnew wagte es am 14. Februar 1971, den Entwurf für den neuen Fünfjahresplan ohne einen eidsprechenden ZK-Beschluß der Sowjet-Öffentlichkeit vorzulegen -- im eigenen Namen

* Bei der Stimmabgabe für die Parteitagsdelegierten auf der Moskauer Gebietskonferenz ein 12. März 1571 (rechts: Staatspräsident Podgorny).

** Michel Tatu: Macht und Ohnmacht im Kreml«. Verlag Ullstein. 560 Seiten, 20 Mark.

Darin war das Wachstum für die Grundstoffproduktion auf 41 bis 45 Prozent festgelegt, das Wachstum der Konsumgüterproduktion aber zum ersten Mal in einem Plan für die folgenden fünf Jahre -- höher: auf 44 bis 18 Prozent. Allerdings -- drei Viertel der Gesamtproduktion entfallen weiterhin auf die Schwerindustrie.

Letzten Montag stimmte das ZK nachträglich Breschnews Alleingang zu. Die ZK-Genossen nutzten die nächsten Tage, um die Weichen für den Parteitag zu stellen. 38 Plätze sind neu zu besetzen (wenn nicht -- durch Erhöhung des Mitgliederbestandes -- mehr): Zehn ZK-Mitglieder sind verstorben, 211 verloren ihre Posten, die ihnen das Anrecht auf einen ZK-Sitz verschafft halten. Unter den sicheren Neuanwärtern auf ZK-Mitgliedschaft sind überwiegend Parteisekretäre Anhänger Breschnews, und Militärs.

Die Gefolgsleute des Gewerkschaftschefs Schelepin wurden fast völlig eliminiert, und im Ostblock ist es in den letzten Wochen Brauch geworden, den murrenden Arbeitern die Gewerkschaftschefs zu opfern. Falls Schelepin, 52, keine neuen Koalitionen schließen kann -- etwa mit den Militärs oder der Rüstungslobby --, dürfte er von Breschnew. 64, ausgepunktet werden. Gewiß wird Breschnew auch versuchen, den Premier Kossygin, 67, für Rußlands Wirtschaftsmisere verantwortlich zu machen und zurückzusetzen.

Der Parteichef schleuste seit langem Parteifunktionäre in die Regierung ein -- auf das Amt eines Vizepremiers, auf fünf Ministerposten, zu Ersten Stellvertretern des sowjetischen Delegierten im Comecon, des Vorsitzenden des Staatlichen Plankomitees und des Staatskomitees für Wissenschaft und Technik -, dort genau neben den anderen Ersten Vize Gwischiani, den Schwiegersohn Kossygins.

Und denkbar ist, daß Breschnew seinen Benjamin, den ZK-Sekretär Katuschew, ins Politbüro holt, womöglich auch den Innenminister Schtschelokow und sogar Verteidigungsminister Gretschko und (als Vollmitglied) KGB-Chef Andropow, Politbürokandidat seit 1967.

Doch obwohl es so aussieht, daß Generalsekretär Breschnew auf dem 24. Parteitag der KPdSU seine Führungsposition festigen wird, bleibt das sowjetische Parteisystem stets offen für Überraschungen -- etwa für eine Initiative des Parteitags selbst:

Am 30. Oktober 1961 stellte der Liberalkommunist Spiridonow, damals Parteichef Leningrads und von Breschnew inzwischen ausgeschaltet, auf dem 22. Parteitag einen unvorbereiteten Antrag in der Annahme, die akklamationsgewohnten Delegierten würden es nicht wagen, vor ausländischen Gästen und der Weltpresse zu opponieren.

Der Antrag lautete, Stalins Leichnam öffentlicher Huldigung zu entziehen und aus dem Mausoleum am Roten Platz zu entfernen. Die Parteitagsdelegierten stimmten spontan zu.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 49 / 86
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren