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ENGLAND Hiebe aufs Haupt

Ein englischer Brauch, die Prügelstrafe an den Schulen, wird verfeinert: Künftig soll es unberührbare Kinder geben und solche, die geschlagen werden dürfen. *
aus DER SPIEGEL 34/1983

Unsere Schulkinder«, ergrimmt sich der britische Lehrer-Funktionär Tom Scott, »sind Opfer, die jedermann schlagen darf.«

In den staatlichen Erziehungsanstalten von England und Wales wurde im vorigen Jahr fast 240 000mal gezüchtigt. Es ist alles ganz legal und selbstverständlich. Jede Tracht Prügel muß ins Klassenbuch eingetragen werden. Die Dunkelziffer jener Fälle, die verschwiegen wurden, liegt aber wahrscheinlich zehnmal so hoch. Alle 18,6 Sekunden pro Schultag werde in England ein Kind geschlagen, so eine Hochrechnung der Londoner Organisation »Stopp« (Society of teachers opposed to physical punishment). Stopp hat den Kampf gegen die Prügelstrafe aufs Panier geschrieben.

Lediglich in Schottland, das sich autonomer Rechtsprechung erfreut, soll die Prügelstrafe spätestens 1984 liquidiert werden.

Anlaß dafür waren wüste Keilereien in den Klassenzimmern: Viele Schüler hatten sich handgreiflich zur Wehr gesetzt, um die Lehrer von der Züchtigung mit der in Schottland gebräuchlichen »tawse«, einem Lederriemen von der Länge eines Unterarms, abzuhalten.

Für England und Wales aber präsentierte Erziehungsminister Sir Keith Joseph Ende Juli einen Gesetzeskompromiß. Anstatt die Prügelstrafe völlig abzuschaffen, sollen die Eltern künftig selbst entscheiden, ob ihre Kinder Schlägen in der Schule unterzogen werden dürfen oder nicht.

Ein prinzipieller Prügelbann käme nicht in Frage, meint Sir Keith, weil »viele Eltern nach wie vor die Prügelstrafe wünschen«. Allerdings konnte sich der Minister nicht auf Meinungsumfragen stützen.

Den Kritikern schien sein Kompromiß auch so schon flau genug. Sie fürchteten, daß die Aufteilung in unberührbare und antastbare Schüler eine Art Kastensystem schaffen würde.

Joseph habe nicht gesagt, wie das Zwei-Klassen-System funktionieren solle, spottete der »Guardian«. »Etwa durch Fingerabdrücke im Klassenbuch? Oder durch Trennung - links die Geschlagenen und rechts die Unversehrten?«

Bedenken äußerten auch die Interessenvertretungen der Lehrer, die an der Prügelstrafe bis vor kurzem wie an einer nationalen Institution festhielten. Die geplante Zweiteilung werde »ein Chaos« im Gefolge haben, prophezeite Douglas McAvoy von der National Union of Teachers (NUT), mit 250 000 Mitgliedern die größte Gewerkschaft der Erzieher. NUT-Sprecher McAvoy: »Wir sehen schon den massenhaften Verkauf von Ansteckplaketten mit dem Aufdruck: 'Ich darf nicht geschlagen werden.'«

In die gleiche Kerbe hieb auch Peter Dawson, Chef einer stramm rechten Mini-Gewerkschaft der Schulmeister. Dawson, der einst zu den gefürchteten Dreschern seiner Schule zählte, beklagte nun den »absoluten Nonsens«, einen Teil der Kinder abzustrafen, während andere, die das gleiche Vergehen begingen, ohne körperliche Buße blieben.

Das meistgebrauchte Prügelwerkzeug ist der »cane«, ein Bambusrohr mit Griff, das in den Klassenzimmern zur Bedienung durch die Zuchtmeister ausliegt. Zugelassen sind obendrein auch Lederriemen, Gürtel, Lineale, Ellen oder, falls nichts anderes greifbar ist, ein Lehrerschuh. Oft werden die Schlagwaffen in Kombination verwandt, wobei Schüler, die etwa mit Gürtel sowie Lineal traktiert wurden, in den Klassenbüchern als »gegürtelt und gelinealt« (belted and rulered) geführt werden.

Den Einsatz dieses Inventars bewirken oft genug banale Anlässe - etwa »ungefragtes Reden«, »Grinsen« oder »schlecht gemachte Hausaufgaben«. An manchen Schulen gilt ein Quotensystem, bei dem die Lehrer erst nach drei Verstößen ihrer Schutzbefohlenen aktiv werden.

Die Delinquenten müssen, zumeist freitags, vor den Prügel-Paukern Schlange stehen, um die Hiebe nacheinander vor der Klasse in Empfang zu nehmen;

bevorzugt schlagen die Pädagogen aufs Gesäß oder - auch das eine englische Besonderheit - auf die Fingerknöchel einer Hand, die von dem jeweiligen Dulder flach aufs Pult zu legen ist.

Das sogenannte caning trifft auch geistig oder körperlich Behinderte, weil in vielen der 145 Schulbezirke die Sonderschulen in die Prügel-Praxis einbezogen wurden.

Stockhiebe, so geht aus einem 108seitigen Stopp-Dossier hervor, setzte es an einer Grundschule in Cornwall für ein neunjähriges Mädchen, das unter epileptischen Anfällen leidet. Sein Vergehen: Es hatte im Unterricht »geflüstert«.

Ein achtjähriges Mädchen, das eine Sonderschule in der Grafschaft Kent besuchte, erhielt Hiebe aufs Haupt, obschon das Kind nach einem Autounfall mehrere Tage lang bewußtlos im Krankenhaus gelegen hatte. Einem gleichaltrigen Mädchen, das hirngeschädigt ist, erging es nur wenig besser. Das Prügelopfer mußte seine Schuhe ausziehen und bekam die Stockschläge - nach orientalischer Manier - auf die entblößten Fußsohlen versetzt.

Solcher Gefühlsroheit und Quälerei hätte Minister Joseph schon vor 18 Monaten den Garaus machen können: Im Februar 1982 hielt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fest, daß Eltern, die gegen die Prügel-Praxis an den Schulen Großbritanniens sind, den Schutz der Europäischen Menschenrechtskommission in Anspruch nehmen dürfen - und zwar dann, wenn sie »religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen geltend machen« können.

Solche Einwände hatten die schottischen Mütter Jane Cosans und Grace Campbell angemeldet, die mit Hilfe der Straßburger Richter verhindern wollten, daß ihre Söhne mit der schottischen »tawse« gezüchtigt werden. Dem Schüler Jeffrey Cosans beispielsweise drohte eine Ahndung mit dem Lederriemen, weil er über die Schulmauer geklettert war, um den Weg nach Hause abzukürzen.

Da sich Jeffrey weigerte, die Auspeitschstrafe anzunehmen, wies ihn der Rektor von der Schule - ein unerbittliches, durchaus aber gebräuchliches Verfahren, mit dem es die um Satisfaktion geprellten Schulaufseher den Verweigerern am Ende doch noch heimzahlen.

Für die britische Regierung, die solche Racheakte toleriert, fiel das Straßburger Gerichtsurteil doppelt peinlich aus. »Demokratische Staaten«, so hieß es in der Begründung, müßten nicht nur »weltanschauliche Überzeugungen ... respektieren«. Auch dürften die Schüler, die Prügel verweigern, nicht aus der Schule geworfen werden.

Englands Chef-Erzieher Joseph sah keinen Grund, die Prügelstrafe gänzlich abzuschaffen. Da die klagenden Schotten-Jungen nicht geschlagen worden waren, fehlte in Straßburg ein konkreter Fall, an dem die Prügelstrafe generell als »entwürdigend« gebrandmarkt werden konnte.

Von den englischen Gerichten wird die Machtfülle der Surrogat-Schläger nur selten eingeschränkt. Freisprüche für beklagte Lehrer gibt es sogar dann, wenn ärztliche Atteste auf geplatzte Lippen oder lange Striemen am Gesäß und Rücken hinweisen. »Wenn die Aussagen sich widersprechen«, weiß Paul Temperton, der Gerichtsurteile für die friedfertige Lehrerorganisation Stopp sammelt, »glauben die Richter eher an die Version des Lehrers als dem vermeintlich aufsässigen Kind.«

Mit den Folgen der Prügel-Tradition im Königreich setzt sich auch der britische Psychologenverband auseinander, der das erzieherische Faustrecht an den Schulen scharf bekämpft. »Es gibt keinen Beweis, der die Prügelstrafe auch nur im entferntesten rechtfertigen könnte«, meint Professor Robert Green, der eine Studiengruppe der Berufsvertretung leitet, »wir könnten aber einen Heuschober mit Fällen füllen, die das Gegenteil beweisen.«

Prügelfolgen wie zum Beispiel Bettnässen, Hyperaktivität und schwerwiegende Gemütsveränderungen diagnostiziert der Londoner Kinderarzt Michael Libermann, der in seiner Praxis von Lehrern durchgewalkte Kinder untersucht. Am häufigsten, so Libermann, würden die schwächsten Kinder attackiert - »Prügel machen ihre Situation noch schlimmer«.

Doch die Züchtigung der Schulkinder kann der Regierung Thatcher nun auch international nach Kräften schaden. Die Vereinten Nationen werden demnächst über einen Report der UN-Menschenrechtskommission abstimmen, in dem die Prügelstrafe in den Schulen zum erstenmal als »Folter« benannt wird.

Und auch aus Straßburg droht der britischen Regierung neues

Unheil. 34 Eltern, deren Kinder in der Schule böse geschlagen wurden, haben dort inzwischen neue Klagen eingereicht - mit besten Chancen, gegen ihre eigene Regierung zu gewinnen.

Getragen wird die Last der Rechtsverfahren jetzt schon von Englands Steuerzahlern. Bereits die ersten beiden Straßburger Klagen kosteten 600 000 Mark, die der britischen Staatskasse aufgebürdet wurden. Jeffrey Cosans, der wegen seines Schulverweises nicht mehr dazu kam, das Abitur zu machen, mußten zusätzlich 12 000 Mark erstattet werden - als »Entschädigung für entgangene Karriere-Chancen«.

Für Jeffrey, inzwischen 21 Jahre alt, war auch das kein Trost: Er ist seit dem unfreiwilligen Abgang von der Schule arbeitslos.

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