»Hier endet die Freiheit«
Es ist ein Uhr vierzig am Nachmittag, und auf der Summer Street, die bergan zur South Boston High School führt, wird es angespannt ruhig.
Ein Autofahrer, der am Sperrbezirk von 200 Metern rings um die Schule gestoppt wurde, stellt den Motor seines Kombi ab. Die Demarkationslinie von 200 Metern haben die Einwohner in gelber Ölfarbe auf die Straße gemalt, dazu den Hinweis: »Hier endet die Freiheit.«
Ein Halbwüchsiger hat sich mit zwei Freunden direkt an der Linie aufgebaut. Auf seinem T-shirt steht: »Zulus back to Africa!« Mit der rechten Hand zerknautscht er eine Bierdose und wirft sie über die gelbe Linie in den Sperrbezirk.
Die Gegend ist kleinbürgerlich, leicht heruntergekommen. Vor den schmalen Einfamilienhäusern wachen, im Abstand von jeweils zehn Metern, Soldaten einer Sondereinheit, der Tactical Patrol Force, speziell geschulte Aufruhrbekämpfer. Die durchsichtigen Visiere ihrer Helme sind heruntergeklappt, an ihrer Seite krächzen Walkie-Talkies. Sie stehen breitbeinig und reglos, Soldateska von einem fernen Stern vor viktorianischen Knusperhäuschen.
Aus der Ferne grollt es jetzt, ein Grollen, das schnell stärker wird. Dazu fällt, vom Himmel her, das metallische Flap-Flap eines Hubschraubers ein, der sich eilig nähert. Dann biegt brausend eine Motorradstaffel um die Ecke, ihr folgen fünf leere, gelbe Busse; die üblichen Schulbusse, die zu dieser Tageszeit überall in den USA vor die Schulen rollen. Der martialische Aufwand, mit dem sie ankommen, läßt sie wie Stoßtrupps einer Besatzungsmacht erscheinen. »Sieg Heil«, ruft ein Mann den Bussen nach.
Die halten vor der Schule, 150 schwarze Kinder, die bereitstanden, marschieren durch ein Spalier von Polizisten und Reportern und steigen zügig ein. Auf der Schultür, die sich hinter ihnen schließt, steht, in Ölfarbe gesprayt: »Jeder sollte einen Nigger besitzen.«
Die Gemeinde, in der eine solche Inschrift an einem öffentlichen Gebäude stehenbleiben kann und die sich auch nicht darum schert, wenn Inschriften an ihren Mauern dazu auffordern, »Nigger zu killen«, heißt South Boston, eine isolierte Hafengegend mit Einwohnern überwiegend irischer und italienischer Herkunft. Dieser Stadtteil war im vorigen Jahr als erster von der Anordnung des Bundes-Distriktrichters W. Arthur Garrity betroffen, die Integration in den Schulen Bostons durch den Austausch von schwarzen und weißen Schulkindern per Bus zu vollziehen (,Busing"). Hier brach nach Schulbeginn im vorigen September der Aufruhr los, hier ging er diesen September weiter, und hier wurde rabiater, entschlossener Widerstand organisiert, der jetzt ins ganze Land ausstrahlt. Die Organisation, die ihn trägt, heißt »Roar« (Aufschrei), wobei die Buchstaben für »Restore our alienated rights« (Gebt die uns entzogenen Rechte zurück) stehen.
Ihre Mitglieder sehen sich als die wahren Erben der amerikanischen Revolution, als. Aufständische nicht mehr gegen die englische Krone, sondern gegen eine ihrer Meinung nach willkürliche Bundesgewalt. Richter Arthur Garrity ist für sie, was König Georg III für die Siedler des Unabhängigkeitskriegs war. Es ist eine Gruppe, in der sich die amerikanische Geschichte selber einholt, in der die Grundsätze, unter denen die USA angetreten sind, ad absurdum geführt werden.
Denn in South Boston und in den anderen belagerten Schulbezirken prallen zwei Grundsätze, die Amerikas politische Tradition den Bürgern garantiert, unversöhnlich aufeinander: das Recht der Schwarzen auf gleiche Chancen und das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden, die selber entscheiden möchten, wo ihre Kinder zur Schule gehen sollen.
Als »Wiege der Freiheit« stellt sich Boston dem Besucher gleich am Flughafen vor, es ist -- so der Fremdenverkehrsslogan -- die Stadt, »in der alles angefangen hat": das erste spektakuläre Aufbegehren der Kolonisten nämlich, mit der Boston Tea Party*, der nächtliche Ritt von Paul Revere im April 1775, der die Nachricht vom Anmarsch der englischen Truppen verbreitete, die Schlacht von Bunker Hill im Juni 1775, in der die Rebellen-Armee den Briten schwere Verluste zufügen konnte.
Die Busing-Gegner behaupten, an diese Ereignisse anzuknüpfen, eines ihrer Abzeichen zeigt das Denkmal von
* Aus Protest gegen die Teesteuer verkleideten sieh am 16. Dezember 1773 Neuengland-Siedler als Indianer. enterten britische Frachtschiffe und warfen Teekisten in die Hafengewässer von Boston.
Bunker Hill mit der Aufschrift »1775 -- 1975: resist« (Leiste Widerstand). Eine örtliche Untergruppe von Roar nennt sich »Powder Keg« (Pulverfaß), eine andere benannte sich nach dem von amerikanischen Rebellen verabredeten Feuerzeichen: »One if by land and twa if by sea.«
Das klingt alles nach Lokalpatriotismus und Heimatpflege, aber dahinter steckt weitaus mehr. Nicht nur ist Roar seit der Gründung im September 1974 zur »wichtigsten politischen Gruppierung in Boston« geworden, zu einem »Schlüsselfaktor in der Frage, wer der nächste Bürgermeister wird« (so der Journalist Gary Griffith); Roar dürfte sogar mitbestimmen, wer nächster demokratischer Präsidentschaftskandidat wird. Denn Busing ist eine zentrale politische Frage, um die sich kein Kandidat herumdrücken kann.
»Das Schlimme sind die fremden Truppen. Unsere eigenen Jungs, die Cops von hier, würden uns das nicht antun«, sagt Nancy Yotts, 40, Mutter von vier Kindern, katholisch. Sie leitet das South-Boston-Informationszentrum, eine Zweigstelle von Roar, und sie behauptet, die »fremden Truppen« hätten einen Jungen lebensgefährlich verprügelt.
Nancy Yotts Informationszentrum ist im vorigen Jahr von Leuten aus der Gegend gegründet worden, weil »die Informationsstelle, die der Bürgermeister eingerichtet hat, nicht die Wahrheit über den Schultransport sagt. Niemand sagt die Wahrheit. Nicht die Presse, nicht die Stadt, nicht die Lehrer
Dies ist ein tief sitzender Verdacht der Busing-Gegner, für den sie jeden Tag neue Nahrung suchen: die »Verschwörung des Schweigens« gegen das, was sich ihrer Meinung nach »wirklich in Bostons Schulen abspielt«.
Das Informationszentrum hat Kundschafter. Durch den Laden, in dem es untergebracht ist, driften ständig Leute aus dem Viertel, unterhalten sich über die jüngsten Ereignisse bei Demonstrationen ("Da haben sie die Frau eingelocht, nur weil sie mit ihrer Fahne direkt auf der Demarkationslinie stand") und geben die jüngsten Integrationsgreuel aus den Schulen zu Protokoll ("Dieses Niggergirl fragt meine Tochter, und die ist noch nicht mal zehn, ob sie schon mal gebumst hat").
Roar bietet im Informationszentrum T-shirts' Anstecknadeln und sogar ein Parfüm mit dem Namen Roar an -- ein »aggressiver Duft«. Im hinteren Raum hämmern Schreibmaschinen die täglich ergänzten Berichte über Zwischenfälle, die die Zeitungen angeblich verschweigen; jeder, der hereinkommt, nimmt eins der Blätter vom Stapel und füttert sichtbar seine Empörung. Gleichfalls im Hinterzimmer: ein hochempfindliches Funksprechgerät, über das Roar-Männer, die von strategischen Punkten im Viertel den Verlauf des Bustransports beobachten, ihre Wahrnehmungen in die Zentrale melden, etwa: »Achtung, Mann mit grüner Windjacke photographiert Inschrift.«
Auf dem Boden türmen sich Kleiderbündel. Es sind Spenden für vier Familien aus der Gegend, deren Holzhäuser vor ein paar Tagen ausbrannten. Die Hilfe wird von Roar organisiert. Im Laden bekleben zwei Frauen Büchsen mit Roar-Zeichen, in denen Geld für die Brandopfer gesammelt werden soll. »Sehen Sie, so ist das hier«, sagt Nancy Yotts, »kaum hatte es gebrannt, da waren die Familien schon bei Nachbarn untergebracht. So was wie Rotes Kreuz oder staatliche Wohlfahrt brauchen wir hier nicht.«
South Boston ist der Inbegriff einer fest in sich verwachsenen, nach außen fast luftdicht abgeschlossenen Gemeinschaft. Es liegt auf einer fünf Quadratkilometer großen Halbinsel, Familien italienischer, polnischer oder litauischer Herkunft wohnen hier, aber der typische »Southie« ist immer noch irisch. und das bewußt.
Die jungen Männer tätowieren sich das irische Kleeblatt auf die Arme, und in den Kirchen wird der Rosenkranz auf gälisch gebetet. Als South Boston im Krieg Sand aus England für seinen Strand bekommen sollte, gab es einen Aufschrei patriotischer Empörung.
Die Plätze und Parks in South Boston sind gefallenen Southies gewidmet, deren Namen einzeln aufgeführt werden. Familie, Geschichte, Familiengeschichte sind greifbar und konkret.
Die High School steht auf einem Hügel, auf dem ein Mahnmal an eine der ersten Schlachten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges erinnert, ein Stück Geschichte, das die Southies ganz für sich beanspruchen: »Das waren wir ganz allein.«
Die Familien wohnen dicht beieinander, die Häuser von Großeltern, Tanten, Onkeln, Kusinen sind keine fernen Adressen. Fremde fallen sofort auf. Im Belagerungszustand, der jetzt hier herrscht, treffen sie auf Feindseligkeit. Reporter werden verprügelt, ihre Autos umgestürzt.
Krisenstimmung, die immer dicht vor der Explosion steht, herrscht aber nicht nur wegen der Schule. South Boston ist wirtschaftlich bedroht. Seit der Einführung des Containerverkehrs haben viele Southies ihren Job im Hafen verloren, Werften haben zugemacht. Wer es schaffte, zog weg. Was blieb, ist ein Bodensatz, Jobs sind rar.
Aufgrund der Bürgerrechtsgesetzgebung werden Schwarze bevorzugt. »Ich war bei der Telephongesellschaft«, sagt Tommy, 18 und arbeitslos, »die sagen, sie nehmen nur Schwarze. Bei jeder Prüfung für Jobs im öffentlichen Dienst kriegen Nigger automatisch zehn Punkte mehr. Ich verstehe diesen Scheiß nicht.« Am ersten Schultag schmiß Tommy Steine und Flaschen auf die Polizei.
All dieses erklärt Roar, den Aufschrei, den es im Wortsinn gab, als Bundesrichter Garrity anordnete, Southie-Kinder zur Schule ins schwarze Roxbury und die Kinder von dort nach South Boston zu verladen. Denn die Schule, die South Boston High School zumal, ist in dieser Gegend eine geheiligte Institution, Bestandteil jeder persönlichen Biographie wie die Erstkommunion. »Jeder, aber auch jeder, den ich kenne, ist auf dieser Schule gewesen«, sagt im Roar-Büro Walter Milan, 62. »Mein Vater auch, genauso wie alle meine Onkel und Tanten, ich würde mich lieber erschießen als meine Enkel woanders hinzuschicken.«
Dabei ist »South Boston High« eine anerkannt schlechte Schule. Nur etwa 25 Prozent der Absolventen gehen weiter aufs College, es gibt welche, die sich brüsten, bis zum Tag der Abschlußfeier kein Buch gelesen zu haben. Welchen Nutzen die Kinder aus Roxbury daraus ziehen sollten, in eine schlechtere Schule verpflanzt zu werden, ist in der Tat schwer ersichtlich. Und ebensowenig ist zu übersehen, daß liberale Fürsprecher des Busing, wie Senator Edward Kennedy, ihre eigenen Kinder auf teuere Privatschulen schicken.
Nancy Yotts erklärt ihre Philosophie, eine kleine, untersetzte Frau mit dunklen Haaren. Um den Hals hängt das Roar-Abzeichen: ein Löwe über dem Umriß der Vereinigten Staaten. »Ich glaube an Amerika«, sagt sie. Was aber hat Roar mit der Revolution von damals zu tun?
»Die Rechte, für die wir damals gekämpft haben, werden uns heute verweigert: Das Recht, uns friedlich zu versammeln. Das Recht auf freie Rede. Das Recht, auf unseren eigenen Straßen zu laufen.« Geht es Roar -- wie damals den Kolonisten -- um Selbstbestimmung?
»Klar«, sagt Nancy, »wir sind eine Kolonie, die Unabhängigkeit verlangt.«
Bundes-Distriktrichter Garrity als König Georg III.? »Er ist nicht vom Volk gewählt worden. Er regiert auf Lebenszeit und genauso autokratisch.«
Und wer sind, in diesem historischen Parallelogramm, Liberale wie die Senatoren Kennedy und Brooks? »Das sind die Tory-Verräter.« Und sind die Roar-Leute dann Revolutionäre?
»Um Gottes willen, nein. Wir sind konservativ. Wir wollen wiederherstellen, nicht umstürzen. Wir arbeiten nur mit dem Stimmzettel.«
Ganz so blauäugig und lammfromm demokratisch ist Roar denn doch nicht. Der Verein riecht nach Konspiration. Im Telephonbuch steht er nicht,
In den Fenstern die Buchstaben »Ro« und »AR«.
ist nirgendwo eingetragen. Offiziell ist Roar ein Zusammenschluß von Nachbarschaftsorganisationen wie dem South Boston Information Center, die jeweils zwei Vertreter in einen ausführenden Rat schicken, in Wahrheit freilich, glaubt der Journalist Gary Griffith, wird Roar von Louise Day Hicks geführt, einer einflußreichen, stockkonservativen Politikerin, die -- bislang erfolglos -- versucht hat, Bürgermeisterin von Boston zu werden. Sie ist jetzt Mitglied des neunköpfigen Stadtrates und hat bereits etliche Freunde von Roar in wichtige städtische Ämter vermitteln können. Ihr verdankt Roar auch den Tagungsort: Jeden Mittwoch treffen sich rund 250 Mitglieder im Tagungsraum des Bostoner Stadtrats. Vor der Tür stehen dann fünf bis sechs kräftige Männer und filtern die Eintretenden. Sie tragen Hemden, deren Schnitt und Aufmachung denen der staatlichen Ordnungshüter nachgeschneidert sind. Fremde werden gefragt, ob sie für oder gegen das Busing seien und ob jemand, der bereits drinsitze, für sie bürgen könne.
Was in den Roar-Versammlungen tatsächlich gesprochen wird, hat bisher kein Journalist mit eigenen Ohren hören können. Es gibt nur einen einzigen Augenzeugenbericht eines Teilnehmers über eine Versammlung. Rita Graul, nominelle Vorsitzende von Roar, eröffnete sie mit den Worten: »Sehen Sie nach rechts, sehen Sie nach links und stellen Sie fest, ob Sie die Leute neben sich kennen. Mitschreiben verboten.«
In den 60er Jahren, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte, hat sich Boston ein neues Rathaus gebaut: einen schweren Betonbau, der aussieht wie eine Festung. Radikale verwiesen damals gern darauf, daß die Fenster so hoch und so klein angelegt wurden, damit sie vor steinewerfenden Demonstranten sicher seien. Im Frühjahr dieses Jahres, bei einer Demonstration im Schulbus-Konflikt, gingen dann aber doch zwei Fenster zu Bruch.
Eines davon gehört zum Büro der Stadträtin Louise Day Hicks, das andere zu dem eines gleichgesinnten Stadtratskollegen. Auf das Holz, mit dem die Glaslücke provisorisch geschlossen wurde, ließ Frau Hicks die Buchstaben »RO« schreiben, ihr Kollege fügte »AR« auf seinem hinzu.
Seitdem, und das ist jetzt fast ein Dreivierteljahr her, prangt vom Rathaus in Boston, der »Wiege der Freiheit«, das Wort ROAR.