»Hier gibt es politische Zwänge«
SPIEGEL: Herr Minister, nach Berechnungen Ihres Ministeriums werden in diesem Jahr die Realeinkommen der Landwirte um mindestens 19 Prozent steigen. Seit 1968/69 haben die Einkünfte der Bauern alljährlich im Durchschnitt um über elf Prozent zugenommen. Den Landwirten geht es gut, Verbraucher und Steuerzahler müssen dafür zahlen. Josef Ertl ist, so scheint es, der beste Lobbyist, den Deutschlands Bauern je in Bonn hatten.
ERTL: Die Bezeichnung Lobbyist habe ich nicht verdient.
SPIEGEL: Sagen wir: Interessenwahrer.
ERTL: Meine Aufgabe ist es, der Landwirtschaft die gleichberechtigte Teilnahme am allgemeinen wirtschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen, und das heißt sicher auch an der Einkommensentwicklung. Das ist uns, da haben Sie recht, gelungen. Allerdings nicht zu Lasten von Verbrauchern und Steuerzahlern.
SPIEGEL: Aber an erster Stelle stehen für Sie die Bauern.
ERTL: Nein, Bauern und Verbraucher sind bei mir gleichrangig, weil Agrarpolitik ohne kaufkräftige Verbraucher gar nicht möglich ist.
SPIEGEL: Sie können doch nur den einen zum Nachteil der anderen helfen. Wenn Sie die Preise kräftig anheben -- wie vorletzte Woche in Brüssel mit einem Zuschlag von 4,5 Prozent für Deutschlands Bauern -, dann müssen im Endeffekt die Verbraucher bezahlen. Und wenn Sie den Bauern Subventionen zugestehen, dann kommt dafür die Staatskasse, sprich der Steuerzahler, auf.
ERTL: Ich habe eine Agrarpolitik gemacht, die den Anpassungsprozeß und die Produktivität gefördert hat. Die Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft war in den vergangenen Jahren viel höher als im gewerblichen Sektor.
SPIEGEL: Was nur mit Hilfe von Subventionen möglich war.
ERTL: Nein, mit Anpassungshilfen ...
SPIEGEL: ... was dasselbe ist. Und mit Hilfe überhöhter Preise.
ERTL: Aber doch nicht mit überhöhten Preisen, sondern durch Betriebsverbesserungen.
SPIEGEL: ... die nicht zuletzt dadurch möglich wurden, daß steuerliche Vergünstigungen und staatliche Zuwendungen in Milliarden-Höhe die Landwirte in eine ungleich bessere Situation gebracht haben als andere Gruppen.
ERTL: Aber die gewerbliche Wirtschaft bekommt doch auch was. Sehen Sie sich doch unsere Regionalpolitik an oder das ERP-Programm.
SPIEGEL: Das steht in keinem Verhältnis zu den Mitteln, die in die Landwirtschaft fließen. Eine Million Landwirte in der Bundesrepublik werden mit mehr als vier Milliarden Mark subventioniert, EG-Zuschüsse nicht gerechnet. Hinzu kommt der Vorteil garantierter Markt-Preise.
ERTL: Sagen Sie mir, wo es garantierte Preise gibt.
SPIEGEL: Bei den Milchprodukten beispielsweise.
ERTL: O nein, sehen Sie, da sind Sie schon auf dem falschen Dampfer. Da haben Sie nur zwei Produkte: Magermilchpulver und Butter. Käse ist frei, die ganzen Frischmilch-Produkte sind frei, und für Trinkmilch gibt es auch keine Garantie.
SPIEGEL: Herr Ertl, warum wehren Sie sich eigentlich so vehement dagegen, daß wir in Ihnen einen erfolgreichen Interessenvertreter der deutschen Bauern sehen?
ERTL: Ich möchte nur nicht den falschen Eindruck entstehen lassen, das sei alles nur möglich gewesen mit Subventionen und staatlichen Preisgarantien. Das ist objektiv falsch. Sie können sagen, teilweise mit staatlichen Garantien, dann sind wir wieder einig.
SPIEGEL: Es zahlt die Allgemeinheit. Ein Beispiel sind die einmaligen steuerlichen Vergünstigungen, von denen die Bauern profitieren. 1965/66 zahlten die Landwirte noch 238 Millionen Mark Einkommensteuer, 1972/73 waren es nur noch rund 180 Millionen Mark -- ein einmaliger Fall, daß trotz Einkommensteigerung und Progression die Steuerschuld sinkt.
ERTL: Ohne Zweifel, steuerlich hat die Landwirtschaft nicht zu klagen.
SPIEGEL: Zweites Beispiel ist die soziale Sicherung der Landwirte. Als Sie das Ressort übernahmen, gab der Bund dafür 800 Millionen aus. Sie führten dynamisierte Rente und Zuschüsse zur Krankenversicherung ein. In diesem Jahr stehen dafür in Ihrem Etat bereits 2,7 Milliarden Mark -- mit stark steigender Tendenz.
ERTL: Stimmt.
SPIEGEL: Was kosten denn diese Staatshilfen in den 80er Jahren?
ERTL: Das könnte sich Ende der 80er Jahre in Größenklassen von sieben bis acht Milliarden bewegen. Dazu stehe ich. Hier war ein großer Nachholbedarf ...
SPIEGEL: ... der auf Kosten der Allgemeinheit gedeckt wird, während alle anderen für ihre soziale Sicherung selbst zahlen müssen.
ERTL: Im sozialen Bereich ist die Landwirtschaft auch nicht anders gestellt als beispielsweise die Knappschaft.
SPIEGEL: Dürfen wir noch ein weiteres Beispiel anführen, das zeigt, wie erfolgreich Josef Ertl für seine Klientel war? Im vergangenen Herbst gab es massive Haushaltskürzungen für fast alle Ressorts. Bruder Josef aber blieb weitgehend ausgespart.
ERTL: Nein, das können Sie nicht sagen.
SPIEGEL: Fast alle Gruppen mußten daran glauben. Sie hingegen steuerten im wesentlichen nur den Abbau des sogenannten Grenzausgleichs, der Ausgleichszahlungen für die Mark-Aufwertungen, bei -- und das auch noch auf sechs Jahre gestreckt.
ERTL: Die drei Prozent Aufwertungsausgleich sind jährlich 1,2 Milliarden Mark. Daneben habe ich noch andere Posten zur Disposition gestellt, zum Beispiel wurde die Frachthilfe gestrichen, der Zuschuß für den Transport von Getreide aus marktfernen Gebieten zum Aufnahmeort.
SPIEGEL: Immer teurer kommt Bonn auch der europäische Agrarmarkt zu stehen. Für die EG-Überschußproduktion zahlt die Bundesrepublik schon jetzt fast 2,7 Milliarden Mark nach Brüssel. Aber statt das marode System zu reformieren, macht man es von Jahr zu Jahr komplizierter.
ERTL: Wir haben doch die Reformmöglichkeiten herausgearbeitet. Dabei darf man nicht vergessen, daß unsere Partner viel schwierigere Strukturprobleme zu lösen haben als wir. Die Iren, die Franzosen und die Italiener sagen mit Recht: Wir haben unsere Grenzen geöffnet für eure Industrie, und wir wollen eine finanzielle Mitverantwortung für unsere Agrarproduktion.
SPIEGEL: Die Frage ist aber doch, ob ein System finanziert werden soll, bei dem künstlich überhöhte Preise zu immer höheren Überschüssen führen.
ERTL: Warum soll ich mir darüber Gedanken machen, wenn ich weiß: Hier gibt es politische Zwänge, die im Interesse Europas zu respektieren sind. Die Geschäftsbasis ist unverändert: hier industriell-gewerbliche Zollunion, dort gemeinsamer Agrarmarkt. Und eines kommt noch hinzu: Wenn in Italien oder Frankreich fünf oder sechs Prozent Wähler auf dein Lande zu den Sozialisten und Kommunisten abwandern, dann entsteht eine andere politische Landschaft in ganz Europa.
SPIEGEL: Sind also die Chancen. das Ungetüm »Agrarmarkt« zu reformieren, durch die politische Konstellation in Italien und Frankreich auf den Nullpunkt gesunken?
ERTL: Auf den Nullpunkt nicht gerade, aber die Möglichkeiten sind nicht allzu groß.
SPIEGEL: Demnach bezahlen die Europäer den politischen Status quo mit ungeheuren Summen. Beim Milchpulver beispielsweise führten hohe Garantiepreise dazu, daß heute 1,15 Millionen Tonnen auf Halde liegen. Jetzt werden davon nach der jüngsten Brüsseler Abmachung 400 000 Tonnen zwangsweise Futtermitteln beigemischt. Da gleichzeitig aber auch die Milchpreise angehoben wurden, wird der Milchpulver-Berg wohl bald wieder die alte Höhe erreicht haben.
ERTL: Diese Gefahr haben wir natürlich auch gesehen. Und deshalb soll die Kommission -- so der Beschluß des Ministerrates -- bis zum 1. September einen Vorschlag vorlegen, wie die Erzeuger an den Kosten beteiligt werden können, wenn die Überschüsse anhalten.
SPIEGEL: Wie könnte das denn praktisch aussehen?
ERTL: Gegebenenfalls müssen wir einen Fonds schaffen, der von den Erzeugern mitgespeist wird. Dann könnten wir Überschüsse verbilligt auf den Markt bringen.
SPIEGEL: Das ist noch Zukunftsmusik. Zunächst aber hat der Rat beschlossen: Weil jetzt 400 000 Tonnen Milchpulver verfüttert werden, braucht die EG weniger Sojabohnen aus den USA. Da aber Washington für diesen Fall mit Handeiskrieg droht, legen die Europäer nun auch noch einen Sojabohnen-Berg an. Das ist doch grotesk.
ERTL: Ich stimme Ihnen voll zu, das war auch meine Meinung im Rat. Aber der britische Vize-Präsident Christopher Soames, der mit den Amerikanern verhandelte, hat darauf sehr bestanden, und dann haben sich die anderen Delegationen gebeugt.
SPIEGEL: Allein die Preishilfen für die Milchproduzenten kosten die europäischen Steuerzahler inzwischen sieben Milliarden Mark. Insgesamt werden in Brüssel bereits fast 20 Milliarden Mark verteilt. Ist dieses Agrarsystem nicht dabei, sich selbst ad absurdum zu führen?
ERTL: Die Gefahr ist gegeben, das bestreite ich nicht, wenn nicht politische Entscheidungen getroffen werden.
SPIEGEL: Es läuft jedesmal nach dem gleichen Schema: Erst werden hohe Preise garantiert. Dann wird zuviel produziert, und die Lagerhäuser füllen sich.
ERTL: Wir wollen das auch nicht dramatisieren. Im Augenblick gibt es nur bei zwei Produkten echte Überschußprobleme: bei Milchpulver und Wein ...
SPIEGEL: ... nachdem der Rindfleischberg gerade für 1,1 Milliarden Mark abgebaut worden ist und 400 000 Tonnen Butter zu Schleuderpreisen in die Sowjet-Union verscherbelt wurden.
ERTL: Ja, wollen Sie an die Russen gar nichts verkaufen? Die Franzosen denken darüber ganz anders.
SPIEGEL: Aber solche Geschäfte sollten etwas einbringen und kein Zuschußunternehmen sein.
ERTL: Aber eines ist klar: Schwankungen wird es immer geben, es sei denn, Sie wollen alles kontingentieren. Dann müssen Sie zum System des Reichsnährstandes zurückkehren.
SPIEGEL: Nicht unbedingt. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich auf dem Agrarmarkt, der den Bauern immerhin freistellt, wieviel Schweine sie halten oder wieviel Weizen sie anbauen, auch die Preise je nach Angebot und Nachfrage frei bilden könnten. Sie selbst haben doch so etwas angeregt.
ERTL: Das scheitert politisch. Zur Zeit ist allenfalls eine vorsichtige Beteiligung der Erzeuger durchzusetzen.
SPIEGEL: Haben Sie denn überhaupt noch ein Interesse an Reformen? Den Bauern bei uns geht es gut, es gibt keine Demonstrationen, und
ERTL: ... das nicht nur, weil die Einkommen gestiegen sind, sondern vor allem, weil wir das Problem der kleinen Landwirte gelöst haben.
SPIEGEL: Sie meinen die Klitschen, die lediglich als zweite Einnahme-Quelle dienen?
ERTL: So abwertend würde ich das nicht sehen. Schauen Sie sich doch mal unsere Agrarstruktur an. Wir haben heute nahezu 45 Prozent Nebenerwerbs-Landwirte. Die verdienen 7000 bis 8000 Mark mit ihrer Kuh und vielleicht 18 000 Mark auf einem anderen Arbeitsplatz. Nur so können Sie das Kleinbauernproblem lösen, wenn Sie die Leute nicht vom Land vertreiben wollen. Und ich will sie nicht vom Land vertreiben. Erkundigen Sie sich doch mal bei Mercedes, welche Meinung sie von den Kleinlandwirten haben, über ihre Qualität, über ihr Verhalten.
SPIEGEL: Die bleiben so ruhig, weil sie gar nicht gemerkt haben, daß die staatlichen Preisstützungen und Prämien vor allem den Großbauern zugute kommen. Wir zitieren aus Ihrem Agrarbericht: Das obere Viertel der Betriebe hat im Schnitt das sechsfache Einkommen des unteren Viertels. Diese Einkommensdisparität wird durch das jetzige Subventionierungssystem gefördert, denn je mehr Fläche ein Landwirt bewirtschaftet, desto mehr staatliche Mittel streicht er ein. Wenn wir Sie richtig verstehen, sehen Sie in diesem Subventionssystem sogar noch ein Strukturmittel: Die Kleineren werden zum Aufgeben gezwungen und müssen einen Nebenerwerb übernehmen.
ERTL: Im oberen Viertel der Gutverdienenden sind doch auch kleine Betriebe und bei dem unteren Viertel sogenannte große. Aber selbst wenn Sie recht hätten: Ich sehe da keine Alternative. Sonst müssen Sie Kleinbauern massiv mit Einkommensübertragungen helfen. Niemals wird es möglich sein, daß ein Landwirt mit sechs Kühen gleiches Einkommen erwirtschaften kann wie einer mit 30 Kühen.
SPIEGEL: Glauben Sie eigentlich, daß sich Ihr erfolgreicher Einsatz für die bundesdeutschen Bauern bei der anstehenden Wahl auszahlt? Wählen die Bauern Josef Ertls FDP?
ERTL: Das kann ich heute nicht so beurteilen. Ich verhehle nicht, daß es nach wie vor eine sehr starke traditionelle Bindung zur CDU gibt, wobei die agrarpolitische Arbeit kaum eine Rolle spielt.
SPIEGEL: Die wenigen Bauern-Stimmen, die Sie vielleicht für die Koalition gefangen haben, sind auf alle Fälle die teuersten Stimmen der sozialliberalen Koalition.
ERTL: Danach betreibe ich nicht Politik. Ich glaube, kommende Generationen werden froh sein, daß es in einer schwierigen Stunde gelungen ist, einen Beitrag zur Stabilisierung der Gesellschafts- und Wirtschaftsstruktur zu leisten. Und noch etwas: Fliegen Sie mal mit dem Hubschrauber über dieses Land, dann stellen Sie fest, es ist immer noch ein schönes Land. Und so gesehen, habe ich nicht nur für Landwirte und Verbraucher etwas getan, sondern für die Allgemeinheit. Da kann ich dann auch verschmerzen, daß mich mancher Bauernverbands-Präsident wohl immer noch nicht wählt.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für das Gespräch.