»Hier spricht der deutsche Mensch«
Noch im Herbst 1944 glaubt Goebbels unbeirrt an die kriegswichtige Macht des Kinos. Die deutschen Bühnen hat er bereits Ende August schließen lassen. Auch Generalintendant Gustaf Gründgens, der ihn in dieser Angelegenheit am 31. August 1944 aufsucht, kann ihn nicht umstimmen: »Das Staatstheater muß wie alle Theater geschlossen werden. Die Theaterschließung ist eine totale Maßnahme, die keine Kompromisse und Einschränkungen duldet«, notiert der Minister in seinem Tagebuch.
Immer mehr Sprechbühnen werden in den folgenden Monaten in Kinos umgewandelt. Auf das gewohnte Filmvergnügen soll die Bevölkerung unter keinen Umständen verzichten müssen. Aber allmählich beschleichen Goebbels Zweifel, ob seine Filmpolitik richtig ist.
Im Oktober 1944 schickt er einen Mitarbeiter namens Fries nach Stockholm, um sich dort über das aktuelle amerikanische Filmangebot zu informieren.
Er erfährt, »in Schweden würden fast ausschließlich von Amerika Hetz- und Verleumdungsfilme gegen Deutschland zur Vorführung gebracht, und man könne nicht abstreiten, daß diese, da sie sehr gut gemacht seien, ihre Wirkung nicht verfehlten . . . Ich ziehe daraus die Konsequenz, daß wir jetzt auch in größerem Umfang als bisher politische Filme, wenn auch nicht gerade ausgesprochene Hetzfilme, drehen müssen«.
Aber woher sollen die kommen? Die Filmproduktion ist ein schwerfälliger Prozeß, der seit zwei Jahren konsequent verfolgte eskapistische Kurs nicht auf die Schnelle zu korrigieren. Premierentitel vom Oktober 1944: »Schicksal am Strom« (Flußschiffer-Drama mit Karin Hardt), »Seinerzeit zu meiner Zeit« (Romanze von Boleslav Barlog mit Hannelore Schroth und Paul Klinger), »Es fing so harmlos an« (Komödie von Theo Lingen mit Johannes Heesters). Gerade der letzte Titel mutet angesichts der Kriegssituation besonders makaber an: Einen Tag nach der Uraufführung der munteren Klamotte, am 21. Oktober, fällt mit Aachen die erste deutsche Großstadt in Feindeshand. Der einzige neue Film, den Goebbels im Herbst 1944 an die Propagandafront hätte werfen können, Veit Harlans monumentales Schlachten-Epos »Kolberg«, ist nach über einem Jahr Produktionszeit und gigantischen Kosten von acht Millionen Reichsmark immer noch nicht einsatzbereit.
»Kolberg«, der teuerste Ufa-Film seit Fritz Langs »Metropolis«, ist dem besessenen Kino-Monomanen Veit Harlan zu lang, zu wirr, zu gewalttätig geraten. Goebbels stößt sich an Harlans hemmungslosem Pathos, am endlosen Gemetzel zwischen napoleonischen Truppen und Kolberger Bürgerwehr, schließlich auch an dem Gewicht, das der Regisseur der Rolle des pazifistischen Geigers (Kurt Meisel) gegeben hat. Erst nach vielen Änderungen und Kürzungen wird »Kolberg« am 30. Januar 1945 in Berlin und in der eingeschlossenen Atlantik-Festung La Rochelle uraufgeführt.
Am 13. Oktober 1944 besichtigen Wolfgang Liebeneiner und Karl Ritter einen der Lieblingsfilme des amerikanischen Präsidenten. Oft und gern hat Franklin D. Roosevelt darauf hingewiesen, wie wichtig »Mrs. Miniver« bei der Anstrengung gewesen sei, die zögerliche Öffentlichkeit in den USA zum verstärkten Beistand für die bedrängten britischen Brüder zu bewegen.
Im Juni 1942 war »Mrs. Miniver« gestartet worden: eine 134 Minuten lange Hochglanz-Produktion aus den MGM-Studios, inszeniert von William Wyler. Sechs Oscars hatte das kommerziell höchst erfolgreiche Propagandastück gewonnen, auch den für den besten Film des Jahres.
»Mrs. Miniver« ist die mit allen raffinierten Rührmitteln des Hollywood-Kinos erzählte Geschichte einer von Hitlers Bomben-»Blitz« bedrohten englischen Familienidylle in den beiden ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs. Tapfer ertragen die gutbetuchten Minivers, gespielt von den amerikanischen Stars Greer Garson und Walter Pidgeon, den Luftterror, die Niederlage von Dünkirchen und schließlich sogar den Tod der Schwiegertochter, die einem Bombenangriff auf das schmucke Dorf zum Opfer fällt, wo Familie Miniver seit vielen Generationen _(* Mit Greer Garson und Helmut Dantine. ) lebt. Und niemand ist edelmütiger als Mrs. Miniver, die sich sogar um einen abgeschossenen deutschen Flieger kümmert, der sie - fanatisch bis zum Schluß - mit der Waffe bedroht. »Der Krieg ist noch lange nicht aus«, stößt er hervor, als er abgeführt wird.
Die Schlußsequenz spielt in der zestörten Kirche des Orts. Bei einem Gedenkgottesdienst für die Opfer ruft der Vikar zum Freiheitskampf auf. Die Kamera schwenkt himmelwärts. Über das Gotteshaus hinweg donnern britische Bomber gen Naziland. So geht das Leben weiter.
Mit einem elegischen Grundton zeichnet William Wyler eine kleine feine Welt, die durch den Krieg zwar bedroht, aber nicht zerbrochen wird: eine Welt der zivilisierten Manieren und der zarten Gesten, in der zu Friedenszeiten höchstens der alljährliche Rosenzüchter-Wettbewerb für Aufregung sorgt. Und Mr. Miniver, ein gediegener Gentleman, liest im Luftschutzbunker »Alice im Wunderland«.
»Mrs. Miniver« ist ein Film ganz nach dem Geschmack von Wolfgang Liebeneiner. Für ihn steht fest: »Das Leben geht weiter« muß eine deutsche »Mrs. Miniver« werden. In den folgenden Wochen arrangiert der Produktionschef der Ufa weitere interne Vorführungen des vom Propagandaministerium fälschlich als »englischer Hetzfilm« eingestuften Hollywood-Werks, auch für seine Hauptdarsteller Hilde Krahl, Marianne Hoppe und Gustav Knuth.
Am 21. Oktober 1944 bringt Wolfgang Liebeneiners Aufnahmeleiter Heinz Fiebig die neue Drehbuch-Fassung von »Das Leben geht weiter« zum Reichsfilmdramaturgen Frowein. Vier Tage später trifft die vorläufige Genehmigung aus dem Ministerium ein. Vorerst scheint sich niemand daran zu stoßen, daß Liebeneiners Version weitgehend auf laute propagandistische Töne verzichtet.
Der Feind, gegen den es doch durchzuhalten gilt, wird nur ein einziges Mal beiläufig erwähnt. In Bild 126 lagern die Bibliothekarin Lenore Carius und ihr Fliegerhauptmann Hoesslin unter einem Ahornbaum:
»Über ihren Gesichtern tanzt der leise schaukelnde Blätterschatten. Sie läßt sich auf ihre Ellbogen nieder, atmet tief und sagt: ,Es ist schön. Ich hätte es nicht geglaubt.'' Er: ,Ich wußte es sofort.'' Sie: ,Schon im Keller?'' Er: ,Als ich dich sah.'' Sie flüstert: ,Daß es das gibt . . .''
Etwas Silbernes fliegt von oben ins Bild und bleibt auf Lenores Kleid liegen. Er lächelt: ,Ein Schmetterling?''
Lenore hebt den Silberstreifen auf, es ist einer von jenen Staniolstreifen, die gegen die Tastgeräte abgeworfen werden. Sie betrachtet ihn mit halbem Lächeln. Er scherzend: ,Er hält dich für eine Blume, so wie ich.''
Er dreht den Kopf nach ihr und erkennt, worum es sich handelt: ,Ach, ein Gruß aus London. Hat wohl irgendwo in den Blättern gesessen.'' Er lacht ein wenig: ,Man kommt nicht davon los.''«
Diese Mischung aus zarter Melancholie und schierem Kitsch ist es gewiß nicht gewesen, was Goebbels von seinem Protege Liebeneiner erwartet hat. Im Laufe der nächsten zwei Monate treffen immer neue Änderungswünsche aus dem Ministerium ein. Aber da sind die Dreharbeiten schon in vollem Gange, da kann es sich Liebeneiner vollends leisten, mit Verwirrspielen und Verzögerungstaktiken zu arbeiten.
Der Mann, der die Riesenproduktion »Das Leben geht weiter« mit harter Hand hätte lenken sollen, hat inzwischen ganz andere Probleme. Seit Mitte Oktober kümmert sich Karl Ritter ausschließlich um den zweiten Film seiner Herstellungsgruppe: »Kamerad Hedwig«, die Geschichte einer tapferen Reichsbahnerin, gespielt von Luise Ullrich. Regie führt der erfahrene Gerhard Lamprecht. Ritter, von ständigen Finanznöten geplagt, stellt sich selbst für die stolze Summe von 20 000 Mark als Mitregisseur ein und verlegt die Außenaufnahmen in seine Heimatstadt Würzburg. Doch dort beenden schwere Bombardierungen jäh die Dreharbeiten.
Die Ufa ist mit ihren Kräften am Ende. Ritter und Lamprecht müssen ihren Film im alten Ufa-Studio Tempelhof fortsetzen, weil in Babelsberg alle Atelierkapazitäten durch das Großprojekt »Das Leben geht weiter« blockiert sind. Aber auch in der Filmstadt ist normales Arbeiten nicht mehr möglich. Ganze _(* Mit Gustav Knuth und Hilde Krahl bei ) _(den Dreharbeiten im November 1944. ) 420 Liter Benzin stehen dem Konzern im November noch zur Verfügung. Mit 5 Litern muß sich Professor Liebeneiner begnügen.
Am 20. November 1944 räumen deutsche Truppen die albanische Hauptstadt Tirana. Zwei Tage später nehmen amerikanische Einheiten Metz ein. In Ungarn steht eine sowjetische Offensive bevor. Die Nachrichten von allen Fronten klingen immer bedrohlicher.
Am 20. November 1944 steht Gustav Knuth im Atelier Ton West der Ufa am Küchenherd und gießt Öl in die Pfanne. Um acht Uhr morgens haben an diesem Montag in Babelsberg endlich die Dreharbeiten des Films »Das Leben geht weiter« begonnen. Sie sollen bis zum 29. März 1945 dauern. Nach Schnitt, Synchronisation und Überspielung ist die Ablieferung der ersten Kopie für den 30. Juni 1945 vorgesehen.
Wolfgang Liebeneiner ist die Ruhe selbst. Ihn stört es am wenigsten, daß es immer noch weder eine genehmigte Kalkulation noch ein endgültig verabschiedetes Buch gibt. Inzwischen ist mit Thea von Harbou, einst Ehefrau und engste Mitarbeiterin von Fritz Lang, eine weitere Autorin auf »Das Leben geht weiter« angesetzt worden. Zu klareren Verhältnissen führt auch das nicht. Wer, außer Liebeneiner, soll da noch durchfinden?
Erster Tag, erste Szene, erste Konzentration. Bild 36, Einstellung 71: »Die Küche ist verdunkelt. Ewald steht am Herd, eine Schürze umgebunden, ohne Rock, der am Handtuchhalter hängt, und macht Kartoffelpuffer. Er singt vor sich hin und wirft einen fertigen Kartoffelpuffer auf einen Teller, auf dem schon mehrere andere liegen. Im Hintergrund geht die Tür auf und Gundel kommt schnell herein. Sie wirft ihr Dienstkäppi ab und ruft: ,Ewald, Kartoffelpuffer! Fein!''«
Das Küchengeplänkel spielt in der Nacht nach dem Evakuierungsbefehl des Gauleiters: am 1. August 1943. Da sind die beiden kleinen Kinder des Ehepaares Martens schon bei den Großeltern auf dem Lande, da wird die Ahnung kommender Katastrophen munter weggespielt. Hilde Krahl und Gustav Knuth verstehen sich prächtig. Liebeneiner lenkt das Geschehen ohne dramatische Allüren. Wer an diesem ersten Drehtag dabei ist, muß den Eindruck bekommen, die Ufa habe mal wieder mit einer ihrer kleinen Komödien begonnen.
Tatsächlich kennen selbst etliche Teammitglieder und Darsteller kaum mehr als den Titel des Films, an dem sie mitwirken. Wegen der allgemeinen Papierknappheit sind nur wenige komplette Drehbücher verteilt worden. Als der Schauspieler Karl Schönböck am 8. Drehtag seinen ersten Auftritt hat, weiß er praktisch nichts über seine Rolle.
Schönböck dreht zu dieser Zeit in den Ateliers der zur Ufa gehörenden Tobis in Berlin-Johannisthal. Unter der Regie von Wolfgang Staudte spielt er, mit schwarzgefärbten Haaren, einen südländischen Schiffsoffizier in der Kriminalkomödie »Frau über Bord« mit Heinrich George. Am 28. November fährt ihn ein Aufnahmeleiter der Tobis hinüber nach Babelsberg, quer durch die sterbende Stadt Berlin, vorbei an Trümmerwüsten und Volkssturmübungen. Bei der Ufa steckt eine Garderobiere Schönböck in einen hellen Sommeranzug und verpaßt ihm einen eleganten Panamahut. So steigt er wenig später, jeder Zoll ein beschwingter Galan, mit drei Flaschen Wein im Arm die in der Halle Ton West gebaute Treppe des Hauses Klopstockstraße 48 empor: »Sind Sie auch bei Gundels Geburtstag? Es geschehen noch Zeichen und Wunder!«
Karl Schönböck spielt Axel Aressen, den hartnäckigen Verehrer der spröden Bibliothekarin Lenore Carius. Der junge Schauspieler weiß die Ehre zu schätzen. _(* Mit Charlotte Schellhorn in der ) _(Kriminalkomödie »Frau über Bord« (1945). ) Jeder Drehtag trägt zur Aufrechterhaltung der kostbaren u.k.-Stellung bei. Wer vor der Kamera steht, muß nicht an die Front. Schönböck sagt seine Sätze und wird zurück zur Tobis chauffiert. Diese Prozedur wiederholt sich im Laufe der nächsten Woche noch einige Male. Bis zum Schluß hat Schönböck keine Ahnung, in welch einem wichtigen Film er da auftritt.
Von Woche zu Woche werden die Dreharbeiten schwieriger. Stromsperren zwingen zu Dispositionsänderungen. Die großen Atelierhallen können kaum noch beheizt werden. Immer mehr Teammitglieder werden ausgebombt.
Am 5. Dezember kommt es zu einem heftigen Streit zwischen Wolfgang Liebeneiner und seiner Ehefrau und Hauptdarstellerin Hilde Krahl. Für diesen Tag, den 14. der Dreharbeiten, ist in der »Neuen Ost« die Einstellung 82 disponiert. Am Fenster ihres verdunkelten Schlafzimmers erleben Gundel und Ewald Martens einen ersten Bombenalarm mit.
»Gundel: Wie schön die Nacht ist.
Ewald: Hm, hm. Weißt du noch, im Frieden konnte man das gar nicht sehen, von all dem Licht auf der Straße.
Gundel: Ja, wirklich! Und laut war es auch hier von all den Autos.
Ewald: Die Kinder haben noch nie eine erleuchtete Straße gesehen.
Gundel: Hoffentlich lernen sie es bald kennen.«
Hilde Krahl weigert sich standhaft, den Satz »Wie schön die Nacht ist« zu sagen. Er scheint ihr zynisch, menschenverachtend. Wie kann eine dieser todbringenden Nächte schön sein? Gustav Knuth pflichtet ihr bei: »Ich versteh'' die Hilde.«
Liebeneiner wehrt sich, wird böse: »Könnt ihr denn nicht mehr objektiv denken? Ist euer Gehirn von diesen Gangstern schon so verletzt? Das ist das Wesen der Finsternis: Wo immer man hinkommt, ist der Sternenhimmel schöner.«
Solche Sätze sagt er gerne. Das Vage liegt ihm. Selbst eine Bombennacht gerät dem Regisseur Liebeneiner zum ästhetischen Ereignis. In seinen Jahren bei der Ufa ist er zum Verdrängungskünstler geworden. Er liebt es, sich auf das Große und Ganze zurückzuziehen. Das allerdings macht ihn auch für das Regime zu einem unverläßlichen Partner. Wer nicht Farbe bekennt, bleibt unberechenbar.
Am 9. und 10. Dezember 1944 herrscht auf dem Ufa-Gelände in Babelsberg ein Leben und Treiben fast wie in der guten alten Zeit. 1200 Komparsen hat Wolfgang Liebeneiner angefordert, um eine nicht sehr lange, nicht einmal sehr wichtige Sequenz seines Films »Das Leben geht weiter« drehen zu können. Am Stettiner Bahnhof verabschiedet sich Gundel Martens von ihren Kindern, die mit dem Dienstmädchen Anna aufs Land geschickt werden. Hausmeister Butzke gibt das Gepäck auf. Überall in der riesigen Halle herrscht Gedränge, belagern Menschenschlangen die Fahrkartenschalter, drängen Reisende auf die Bahnsteige.
So ähnlich wird es wohl tatsächlich zugegangen sein im August 1943. In der großen Nordhalle hat Liebeneiner 16 Monate später den Stettiner Bahnhof komplett nachbauen lassen. Viele Wochen lang waren Handwerkstrupps der Ufa mit der Vorbereitung einer Szene beschäftigt, die im Film vielleicht zwei, höchstens drei Minuten lang sein wird. Doch der Wahnsinn hat Methode: Je maßloser der Aufwand ist, den Liebeneiner betreibt, desto länger werden sich die Dreharbeiten hinziehen, desto wahrscheinlicher wird es, daß der Regisseur sein großes Werk nicht mehr den Herren Goebbels, Frowein und Hinkel vorführen muß, sondern es in einer neuen Ufa zu Ende bringen kann.
Der 9. Dezember ist ein Samstag. Hoch über den Menschenmassen schweben Liebeneiner und sein Kameramann Günther Anders auf dem größten Kran von Babelsberg und richten die Szene in der Großen Nord ein. Das Bahnhofsambiente sieht täuschend echt aus.
Wie wenig die gigantische Inszenierung noch mit der Babelsberger Realität zu tun hat, geht aus einer drei Tage früher verfaßten Aktennotiz der technischen Direktion hervor. Da geht es um die »luftschutzmäßige Unterbringung der Massenkomparserie«. Mit Fliegeralarm muß auch am Wochenende gerechnet werden.
Die Situation ist heikel. In der Halle agieren am Samstag und am Sonntag nicht nur 300 Frauen aus Babelsberg, nicht nur 400 Kinderkomparsen, original Bahn- und Schutz-Polizisten, sondern auch Hunderte von zwangsverpflichteten Ausländern aus einem nahen Lager. Die Ufa-Direktion ordnet an: »Es wurde festgelegt, daß die massiven Schutzräume ausschließlich den Frauen vorbehalten bleiben sollen. Hierzu ist es notwendig, daß sämtliche Ausländer - auch Frauen - den Betrieb verlassen und die Splittergräben im Wohnlager aufsuchen . . . Es wird ein umfangreicher Ordnerdienst - möglichst aus Abteilungsleitern - organisiert, die eine reibungslose Durchführung dieser Anordnung garantieren. Der Werkschutz soll zur Unterstützung herangezogen werden.«
Das makabre Dokument zeugt von Furcht: vor einer unkontrollierbaren Rebellion der Fremden, vor dem Eindringen der kriegerischen Wirklichkeit in die Kunstwelt der Ufa, die wiederum nichts anderes versucht als die möglichst naturalistische Rekonstruktion jener Realität. Ein Alarm findet an diesem Dezemberwochenende nicht statt.
Alarm indessen schlägt der Reichsbeauftragte für die deutsche Filmwirtschaft, Dr. Max Winkler. Der bewährte Sparkommissar beschwert sich Mitte Dezember bei Ufa-Direktor Tackmann darüber, daß trotz aller angemeldeten Bedenken die Großdekoration »Bahnhofshalle« gebaut worden sei. Der Reichsbeauftragte fühlt sich hintergangen und fordert Auskünfte. Aber da ist er bei dem Parteigenossen Tackmann an der falschen Adresse. Hat man bei der Ufa nicht schon vor vielen Wochen darauf hingewiesen, daß das Unternehmen »Das Leben geht weiter« jeden vernünftigen Rahmen sprengt? Weiß Dr. Winkler nicht, daß es sich um einen »politischen Film handelt, der im Staatsauftrag hergestellt wird und für den besondere Weisungen erteilt worden sind«?
Kurz vor Weihnachten, bald einen Monat nach der ersten Klappe, herrscht über den Schluß des Films alles andere als Einigkeit. Liebeneiner weiß, daß ein pathetisches Durchhaltefinale nach dem Krieg gegen ihn verwendet werden könnte. Seine deutsche »Mrs. Miniver« muß durch pazifistische Töne überzeugen. So geht es weiter darum, die Arbeit in die Länge zu ziehen.
Wie kann das Ende des Films aussehen? Das Propagandaministerium wünscht einen optimistischen Fanfarenstoß: Nach dem Tod seiner Frau hat sich Ewald Martens gramgebeugt in die Arbeit gestürzt, wohnt sogar in der Fabrik, arbeitet rund um die Uhr an einer weiteren Verbesserung des Peilgeräts. Lenore und ihr Flieger, frisch vermählt, besuchen den Einsiedler. Hoesslin sagt: »Einander zu helfen in dieser Zeit, sich nicht zu verlassen, das ist bestimmt genauso wichtig wie der Kampf, denn das Leben darf ja nicht aufhören.« Und Lenore fügt hinzu: »Und dein Leben hört ja auch nicht auf, Ewald. Schließlich sind noch die Kinder da.«
Ein paar Sätze reichen schon, um den vom Schicksal arg gebeutelten _(* Bei den Dreharbeiten zu dem Film ) _("Großstadtmelodie« (1943). ) Ingenieur wieder aufzurichten. Der will denn auch rasch »tun, was man kann": »Währenddessen blendet das Bild langsam ab, man sieht die Silhouette der nächtlichen Stadt wie früher beim Angriff. Scheinwerfer kreisen, einige treffen sich. Man hört das Dröhnen von Flugzeugen. Immer mehr Scheinwerfer treffen sich: Das Dröhnen wird immer lauter, es klingt wie Glockengeläut, dann werden wirkliche Glocken daraus. Gleichzeitig vereinigen sich alle Scheinwerfer von allen Seiten zu jenem Scheinwerfergewölbe, welches wir von unseren Friedensfesten kennen. Aus dem Glockengeläut wird eine starke Festmusik. Mit ihrem Ausklang blendet auch das Bild ab und es erscheint das Wort ENDE.«
So sieht ein möglicher Schluß aus. Liebeneiner findet ihn unmöglich. Er weiß, daß die Zeit für ihn arbeitet. Von Woche zu Woche werden die Produktionsbedingungen chaotischer.
Längst schwebt Liebeneiner ein Finale für »Das Leben geht weiter« vor, das mit den Intentionen der Auftraggeber im Propagandaministerium nicht mehr viel zu tun hat. Es ist unvorstellbar, daß Goebbels und Frowein es genehmigen würden:
Nach Gundels Tod verläßt Ewald Martens Berlin, verkriecht sich auf dem winterlichen Gutshof seiner Mutter: zutiefst verzweifelt, das Gesicht von Brandnarben schwer entstellt. An seinem Geburtstag spürt ihn Lenore Carius auf, die Frau des Fliegers. Sie versucht, ihn aus seiner Lethargie zu rütteln: »Wir verstehen ja, daß du verzweifelt bist, Ewald, aber willst du dich denn ganz vergrübeln? Glaubst du, daß das in Gundels Sinn ist?«
Der Ingenieur bleibt unversöhnlich: »Ach, laß mich in Ruhe mit euren Phrasen. Gundel ist tot und hat nichts im Sinn. Und warum ist sie tot? Wofür? Was hat das alles für einen Sinn? Da schreiben mir diese Herren Briefe. Pflicht schreiben sie . . . Lebensaufgabe . . . Phrasengewäsch verdammtes! Das Dings da schicken sie mir.«
Er greift in die Tasche und zieht ein Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse heraus: »Und wofür? Weil ich einen Apparat erfunden habe, der ein Dreck ist, ein Dreck gegen die Übermacht der anderen. Jetzt soll ich diesen nutzlosen Blödsinn fortsetzen, nicht wahr? Das wäre ein Verbrechen, Lenore, das wäre sinnlos, das müssen wir aus Gundels Tod gelernt haben.«
Doch selbst jetzt noch mag Liebeneiner das Publikum nicht mit dem Gefühl vollständiger Sinnlosigkeit entlassen. Das letzte Wort läßt er Lenore: »Wir haben uns auf etwas eingelassen, Ewald, das ist so ungeheuer groß, das geht um Leben und Tod, und es ist schon viel zu viel Blut geflossen, als daß noch einer sagen könnte, es war bloß Spaß, nun will ich nicht mehr.«
Das letzte Bild spielt, wortlos, auf dem verschneiten Friedhof. Mit einem Blumenstrauß legt Ewald auch seinen Orden auf das Grab von Gundel. Mit der Freundin zusammen geht der Witwer eine lange Pappelallee hinunter.
Seltsam zwiespältig wirkt Liebeneiners Schluß. Das Leben geht weiter, aber der Friedhof ist wahrlich kein Ort, der zum Aufbruch animiert. Fast scheint es so, als hätte sich der Autor mit den Sätzen der Lenore Carius seine eigene Rechtfertigungsrede geschrieben: Wenn denn alles verlorengegangen ist im Schicksalssturm, bleibt den Überlebenden nichts als die Pflichterfüllung, auch wider besseres Wissen. Der brave Mann bleibt auf dem Posten. Längst mag er begriffen haben, daß er falschen Herren dient, aber der Widerstand erschöpft sich in symbolischen Gesten.
Zu Weihnachten 1944 wendet sich der Produktionschef der Ufa zum letzten Mal an die in Babelsberg verbliebenen »lieben Kameraden": »Auch Sie haben es nicht mehr leicht, aber . . . wie die Kameraden draußen unsere Ufastadt schützen, so erhalten wir ihnen die Ufa lebendig in der Erwartung jenes Tags, der uns alle wieder zusammenbringt.« Wolfgang Liebeneiner zeichnet »in herzlicher Verbundenheit«.
Babelsberg, Dezember 1944: Das Ende naht. Aber darüber wird nur geflüstert. Die Orientierung in der Ufa-Stadt fällt zunehmend schwerer. Splittergräben und improvisierte Luftschutzlöcher, die für den realen Ernstfall frisch ausgehoben worden sind, liegen in der Nähe von Bombentrichtern und Schutthügeln, die Liebeneiners Architekt Toni Weber zu kunstvoll kunstlosen Arrangements des Katastrophenfilms »Das Leben geht weiter« hat fügen lassen. Ende 1944 beginnen sich in Babelsberg die Grenzen zwischen dem wirklichen und dem inszenierten Krieg zu verwischen.
Die Angst geht um. Wer ist ausgebombt, wer in letzter Minute noch eingezogen worden? Liebeneiner, dem es nie gelegen hat, ein Held zu werden, tut, was er kann. Am 3. Januar 1945 fordert er bei der Reichsfilmintendanz den von einem Einberufungsbefehl bedrohten Schauspieler Walter Janssen für die »Rolle des Geheimrats in der Staatsbibliothek« an. Zu diesem Zeitpunkt ist der fragliche Part längst mit Paul Henckels besetzt. Inzwischen neigen _(* Aufnahme von 1950. ) sich auch die Rohfilmvorräte dem Ende zu. Vergeblich kämpft Liebeneiner darum, »Das Leben geht weiter« in einer Länge von 4000 Metern (zirka 140 Minuten) drehen zu dürfen: »Wir hatten bei dem Film, der ja besonders für das Ausland gedacht ist, an die Länge eines amerikanischen Spitzenfilmes gedacht.« Genehmigt wird am 12. Januar 1945 zunächst aber nur eine Länge von 3000 Metern (zirka 100 Minuten).
Liebeneiner zeigt sich störrisch. Immerhin erlaubt ihm die Kontroverse um den Umfang seines Werkes, von ungelösten inhaltlichen Problemen abzulenken. Solange nicht einmal feststeht, wie lang »Das Leben geht weiter« werden darf, kann abschließend auch schwerlich über Veränderungen und Kürzungen verhandelt werden.
Erst am 29. Januar, drei Tage nach der Eroberung von Kattowitz durch sowjetische Truppen, spricht Dr. Müller-Goerne im Namen des Reichsfilmintendanten ein finales Machtwort und setzt die Länge sowohl für die Auslands- wie für die Inlandsfassung auf 100 Minuten fest.
Zu dieser Zeit scheint das Vertrauen in die rechtzeitige Fertigstellung des Großprojekts »Das Leben geht weiter« bereits ernsthaft erschüttert. Am 6. Januar 1945 dekretiert das Propagandaministerium in seiner täglichen Mitteilung an alle deutschen Zeitungen ("Streng vertraulich! Nur zur Information! Muß geheimgehalten werden!"): »Der Ufafilm ,Das Leben geht weiter''« soll »vorläufig von der Presse in keiner Weise behandelt werden«.
In der zweiten Januarhälfte nehmen die bürokratischen Scharmützel um den Film immer absurdere Formen an. Am 20. Januar, genau zwei Monate nach Drehbeginn, meldet sich noch einmal die Ufa-Film GmbH, die Holding des Treuhänders Dr. Winkler, bei der Reichsfilmintendanz, um »Sie der Ordnung halber darauf aufmerksam zu machen, daß die Kosten für den bereits im November 44 begonnenen Film ,Das Leben geht weiter'' bis heute noch nicht genehmigt sind«.
»Das Leben geht weiter« ist bei weitem der teuerste Film, den die Ufa 1944/45 dreht. Rund 2,5 Millionen Mark beträgt das Budget für Liebeneiners »Spitzenvorhaben«. Normalproduktionen kosten ungefähr die Hälfte.
Zwischen dem 49. und dem 50. Drehtag liegt fast ein Monat Pause. Am 26. Januar 1945 müssen die Arbeiten in Babelsberg wegen der ständigen Stromausfälle bis zum 23. Februar unterbrochen werden. Nach dem schweren amerikanischen Luftangriff vom 3. Februar, bei dem in Berlin 22 000 Menschen den Tod finden, sieht es kaum noch so aus, als könnte Liebeneiner seinen Film zu Ende drehen.
Er wartet ab. Babelsberg bleibt von Angriffen weitgehend verschont. Auch die Sieger werden die Ateliers der Ufa nutzen wollen. In Berlin brechen Telefon- und Postverbindungen immer mehr zusammen. Die Kontrolleure verlieren die Kontrolle. Das Überwachungssystem funktioniert nicht mehr. Liebeneiner beweist Nervenstärke. Jetzt endlich kann er den letzten Großfilm der Ufa auf seine Weise zu Ende bringen.
Oft fragt Hilde Krahl in diesen Wochen ihren Mann: »Wie lange werden wir drehen?« Liebeneiner sagt: »Solange es geht.« Aber zumindest für Hilde Krahl kann es nicht mehr lange gehen. Sie ist schwanger. Am Dienstag, dem 27. Februar 1945, hat sie ihren letzten Drehtag. Ihr Partner in der Einstellung 408 ist Friedrich Kayßler, der den alten Professor Hübner spielt. Bei dem Krebsforscher, letzten Geheimnissen der Menschheit auf der Spur, holt sich Gundel Martens zwischen S-Bahn-Dienst, Bombenangst und häuslichen Problemen mit dem überarbeiteten Gatten immer wieder Trost und Zuspruch.
Lange hat es keine Luftangriffe mehr gegeben im Spätherbst 1943. Gundel hofft: »Ja, vielleicht lassen sie uns in Ruhe. Warum sollten sie denn auch mit Absicht unsere Wohnungen zerstören? Hübner: »Warum? Warum ist der Mensch des Menschen Feind? Auf diese Frage hat nicht einmal Sokrates eine Antwort gewußt. Und ein Krieg ist halt eine Naturkatastrophe, wie ein Erdbeben, da weiß man auch nicht, warum es kommt. Wichtig ist nur, daß wir uns hinterher nicht zu schämen brauchen, wenn wir mal in einen Spiegel schauen.«
Soll das gar die Botschaft sein, die Liebeneiner nach der Niederlage zu verbreiten hofft: daß der Krieg über die »anständigen« Deutschen gekommen sei wie ein unheilvolles Schicksal, daß die Verantwortung für das Inferno am Ende nur in der Natur des Menschen zu suchen wäre? Keine Rede mehr von der Verschwörung des Weltjudentums, von Plutokratenhochmut und Bolschewistentücke. Ein bizarrer Fatalismus geht um in Liebeneiners Version von »Das Leben geht weiter«. Er nimmt die durch und durch unpolitischen Rechtfertigungsversuche der frühen Nachkriegsjahre vorweg. Während das Dritte Reich noch in einer mörderischen Agonie liegt, strickt der Produktionschef der Ufa schon an der Legende von den braven Frauen und Männern, die eben nicht anders konnten.
Am wenigsten lassen sich die Buchhalter vom bevorstehenden Kriegsende beeindrucken. Monat für Monat werden »Produktionskostenstände« bekanntgegeben, die keiner ernsthaften Nachprüfung mehr standhalten. Am 10. Februar 1945 schätzt man die Schlußkosten von »Das Leben geht weiter« in Babelsberg offiziell auf 2,423 Millionen: eine Zahl, die vollständig aus der Luft gegriffen ist.
Spätestens Ende Februar 1945 gehen in Babelsberg die Lichter aus. Das ist wörtlich zu verstehen. Nur noch wenige Nachtstunden können wegen der ständigen Stromsperren für die Dreharbeiten genutzt werden. Gegen 23 Uhr finden sich Team und Darsteller ein, um sechs Uhr morgens ist Drehschluß. In der frostigen Dämmerung verlassen die Mitarbeiter des Ufa-Films Nr. 205 die mutwillig zerstörten Kunsträume des Trümmerspiels »Das Leben geht weiter«, um herauszufinden, ob sie selbst noch ein Dach über dem Kopf haben.
Anfang März zeichnet sich das Ende ab. In Babelsberg geht nichts mehr. Wolfgang Liebeneiner bereitet den Umzug seiner Produktion vor.
Am Sonntag, dem 11. März 1945, fährt der Aufnahmeleiter-Assistent Karl-Franz Roell um 7.26 Uhr vom Lehrter Bahnhof aus nach Lüneburg. Dort soll er an den beiden nächsten Tagen Unterkünfte für knapp 60 Mitarbeiter des Films »Das Leben geht weiter« organisieren. Die Ufa hat den jungen Mann mit einem Papier der Reichsfilmintendanz ausgestattet. Noch immer liegt »die Fertigstellung dieses Films im dringenden Reichsinteresse«, werden »alle Dienststellen des Staates, der Wehrmacht und der NSDAP gebeten, dem Obengenannten behilflich zu sein«.
Der Kommandant des Lüneburger Fliegerhorstes zeigt sich wenig beeindruckt. Er findet es, gelinde gesagt, rätselhaft, daß die Ufa immer noch Krieg spielt. Gleichwohl bleibt ihm kaum eine andere Wahl, als die ungebetenen Gäste aus Berlin auf seinem Gelände drehen und auch wohnen zu lassen. Vorsorglich macht er darauf aufmerksam, daß mit feindlichen Luftangriffen jederzeit gerechnet werden muß.
In den folgenden Tagen treffen nach und nach die Beleuchter, Bühnenarbeiter, Elektriker und Dekorateure des Ufa-Films Nr. 205 in Lüneburg ein. Der Pyrotechniker Heinz Lange, Spezialist für Feuerzauber jeglicher Art, wird besonders früh auf dem Fliegerhorst gebraucht. Da er kaum darauf bauen kann, daß die Royal Air Force bei möglichen Tiefflug-Attacken auf die Kameras der Ufa Rücksicht nehmen würde, bereitet er seine eigenen Brandsätze, Explosions-Effekte und Nebelwände vor.
Derweil wartet Liebeneiner mit den Darstellern in Berlin. Erst eine Woche später fährt der Regisseur, begleitet von seiner schwangeren Frau und dem Hauptdarsteller Gustav Knuth, mit dem Wagen nach Lüneburg. Marianne Hoppe, von Liebeneiner dringend gebeten, mit ihm die Stadt zu verlassen, zieht es vor, in Berlin zu bleiben. Ihre Szenen für »Das Leben geht weiter« hat sie abgedreht, jetzt will sie ihren Mann Gustaf Gründgens nicht verlassen.
Viktor de Kowa nebst japanischer Gattin Michiko kommt irgendwie abhanden. De Kowa aber wird in Lüneburg gebraucht. Liebeneiner reist ohne ihn ab.
Er denkt nicht daran, sein ehrgeiziges Projekt aufzugeben. Alles bislang gedrehte Material hat er aus Berlin nach Lüneburg bringen lassen. Dort soll es mit ihm das Kriegsende überstehen. In der Zwischenzeit kann er die Dreharbeiten fortsetzen. Liebeneiner ist überzeugt, daß ihn die Sieger sein Werk beenden lassen werden.
Mit seiner Frau Hilde Krahl bezieht der Regisseur ein karges Zimmer auf dem Lüneburger Fliegerhorst. Um den 20. März 1945 herum nimmt er die Arbeit wieder auf. Hilde Krahl, mit Lebensmittelmarken des Kollegen Gustav Knuth ausgestattet, besorgt sich eine Milchkanne und lernt das Schlangestehen. Das Filmteam wird aus Gulaschkanonen versorgt. Junge Luftwaffenoffiziere geben Überlebenstips: »Wenn Tieff lieger angreifen, laufen Sie bis zum Waldrand und werfen Sie sich flach auf den Boden.«
Aufnahmeleiter Fiebig verbreitet unverdrossen gute Laune. Aber noch einmal muß die Ufa-Truppe umziehen. Auf dem Fliegerhorst wird das Leben zu gefährlich. Der Schauspieler Jaspar von Oertzen, der einen der Wissenschaftler im Team des Wunderwaffen-Erfinders Ewald Martens spielt, erinnert sich: »Wegen der Nachtflugstaffel bekamen wir regelmäßig nächtlichen Besuch. Vor allem Tiefflieger. Mit Bordmaschinen beharkten sie den ganzen Horst, um ein paar Flugzeuge am Aufsteigen zu hindern . . . Die jungen Flieger schüttelten die Köpfe über uns. Täglich bauten unsere Leute die Scheinwerfer auf, während sie ihre Geschütze für die Bodenverteidigung einrichteten. Die Front kam täglich näher.«
Die Filmschaffenden kommen in dem Dorf Bardowick nahe Lüneburg unter. Sie wohnen bei Bauernfamilien. Den täglichen Weg zum Drehort müssen die meisten zu Fuß bewältigen. Die Produktion des letzten großen Ufa-Films verfügt noch über einen einzigen Pkw.
An einem drehfreien Sonntag fahren Liebeneiner und Fiebig mit Hilde Krahl auf Schleichwegen nach Hamburg. In Blankenese findet die schwangere Schauspielerin Unterschlupf bei einem Gynäkologen. Dort kommt am 25. Juni 1945 Johanna Liebeneiner auf die Welt.
Liebeneiner und Fiebig kehren sofort nach Bardowick zurück. Der Regisseur will bis zur letzten Minute drehen. Jaspar von Oertzen gegenüber erklärt er die Situation so: »Wir machen es wie Rembrandt. Der soll einmal an seinen Zeichnungen ungestört weitergearbeitet haben, als um ihn herum gekämpft wurde.«
Im Team indessen macht sich eine gewisse Unruhe bemerkbar. Längst besteht kein Kontakt mehr zu den Familien in Berlin. Geht das Leben wirklich weiter? Am 16. April gibt Liebeneiner auf. Offiziell werden die Dreharbeiten unterbrochen. Zwei Tage später erreichen gegen 14.30 Uhr die ersten englischen Panzer das Stadtzentrum von Lüneburg.
Auch in Bardowick geht an diesem sonnigen Mittwoch der Krieg zu Ende. Liebeneiner und seine Mitarbeiter stehen am Straßenrand und sehen dem Einzug der britischen Truppen zu. Die Sieger winken von ihren Tanks herunter. Die Eroberung von Bardowick fordert keine Opfer. Nur Liebeneiners Innenrequisiteur wird für kurze Zeit verhaftet. Weil er eine Schirmmütze trägt, halten ihn die Engländer für einen von Rommels Afrikakämpfern.
Fast auf den Tag genau fünf Monate sind vergangen seit dem Drehbeginn des Films »Das Leben geht weiter«. Liebeneiner und sein Team haben gut zwei Drittel ihres Werks vollendet. Jetzt wird es darauf ankommen, sich mit den Siegern zu arrangieren. Liebeneiner ist vorsichtig. Zusammen mit dem Kameramann Günther Anders und dem Aufnahmeleiter Heinz Fiebig hat er nach einem sicheren Versteck für die Kameraausrüstung und das bisher gedrehte Filmmaterial gesucht. Seit die Ufa-Truppe in und um Lüneburg dreht, konnten die Aufnahmen nicht mehr kopiert werden.
In Bardowick bietet sich nur ein Ort für die Lagerung der kostbaren Güter an: der mächtige Backsteindom aus dem 13. Jahrhundert. Liebeneiner hat sich das imposante Bauwerk genau angeschaut. In der Nähe des Westportals ist er auf zwei Grabkammern mit Zinksärgen gestoßen. Dorthin läßt er in einer nächtlichen Aktion das gesamte Material bringen. Neben Gebeinen aus dem Mittelalter finden die sterblichen Überreste des Ufa-Films Nr. 205 vorläufig ihre Ruhe.
Die Aktivitäten der ungebetenen Berliner Gäste sind von den Einheimischen nicht unbemerkt geblieben. Der Bürgermeister von Bardowick, darauf bedacht, bei den neuen Herren einen guten Eindruck zu machen, führt den englischen Kommandanten zu dem Versteck. Was dann geschieht, bleibt unklar. Es ist nicht unmöglich, daß englische Soldaten die Filmdosen als Souvenirs haben mitgehen lassen. Kann auch sein, daß ein paar brave Bardowicker Bürger ein Geschäft mit den geheimnisvollen Hinterlassenschaften der Ufa witterten und das _(* Mit Hans Quest (liegend) als ) _(Rußland-Heimkehrer Beckmann in der ) _(Uraufführung des Theaterstücks von ) _(Wolfgang Borchert 1947 an den Hamburger ) _(Kammerspielen. ) »wertlose« Zelluloid dann schlicht vernichtet haben.
Im Dom von Bardowick verliert sich die Spur des Films »Das Leben geht weiter«. Bis heute ist kein Meter des Materials wieder aufgetaucht.
Wolfgang Liebeneiner bleibt noch einige Wochen in Bardowick. Nach seinem Werk sucht er vergebens. Liebeneiner wickelt ab.
Am 13. Mai schreibt er einen Brief an den Aufnahmeleiter-Assistenten Karl Franz Roell, der einen Ufa-Vertrag bis zum 31. Oktober 1945 besitzt: »Da eine Weiterarbeit an unserem Film unmöglich und die Weiterexistenz der Ufa-Filmkunst und der Ufa GmbH völlig ungeklärt ist, müssen wir unseren Vertrag ab 1. Mai 1945 so lange als ruhend betrachten, bis die Ufa oder ihre Rechtsnachfolger wieder zu arbeiten beginnen . . . In der Hoffnung, daß wir uns in nicht allzu ferner Zukunft wieder im Atelier begegnen mögen, bin ich mit herzlichen Grüßen Ihr Wolfgang Liebeneiner.«
Bereits im Herbst 1945 erhält Liebeneiner eine Arbeitserlaubnis, die zwei Jahre später von einer Entnazifizierungskommission bestätigt wird. An Ida Ehres Kammerspielen in Hamburg inszeniert er die Uraufführung von Wolfgang Borcherts Heimkehrerdrama »Draußen vor der Tür«, das er, mit Hilde Krahl, unter dem Titel »Liebe 47« auch verfilmt. Karl-Franz Roell ist als Aufnahmeleiter dabei. In den späten vierziger Jahren spricht Liebeneiner manchmal noch mit einem gewissen Bedauern von dem großen Film, den er nie beenden konnte. Doch allmählich gerät das letzte Abenteuer der alten Ufa in Vergessenheit. Das Leben geht weiter. *HINWEIS: Ende
* Mit Greer Garson und Helmut Dantine.* Mit Gustav Knuth und Hilde Krahl bei den Dreharbeiten im November1944.* Mit Charlotte Schellhorn in der Kriminalkomödie »Frau über Bord"(1945).* Bei den Dreharbeiten zu dem Film »Großstadtmelodie« (1943).* Aufnahme von 1950.* Mit Hans Quest (liegend) als Rußland-Heimkehrer Beckmann in derUraufführung des Theaterstücks von Wolfgang Borchert 1947 an denHamburger Kammerspielen.