Wenn das gaullistische Frankreich eine Krise entfacht, geht allemal ein Trommelwirbel voraus. Es gehört zum Stil der V. Republik, die Bedeutung Frankreichs durch regelmäßig wiederkehrendes Krisenfeuerwerk ins rechte Licht zu rücken. Hauptadressat war dabei von je die Bundesrepublik, bei der man sicher sein konnte, daß sie sich jede Verschlechterung des deutschfranzösischen Verhältnisses selbst zur Last legen würde.
In der Natur solch einer Politik liegt es, daß sie das Sensorium aller Beteiligten, vom großen Publikum gar nicht zu reden, abstumpft. Sogar vernünftige Positionen werden nicht mehr gewürdigt, wenn das außenpolitische Krisenbedürfnis der handelnden Spitzenpolitiker als ein irgendwie innerfranzösisches oder innergaullistisches, als eins des Generals de Gaulle oder seines Nachfolgers Pompidou abgetan werden kann, ja muß.
Fast kann man nicht glauben, daß der Präsident ausgerechnet den Landwirtschaftsminister Chirac vorgeschickt habe, uni sein Unbehagen an der Politik der Bundesregierung zu artikulieren (sie »distanziere sich von Europa«, meinte M. Chirac in einem Interview; anfangs habe er geglaubt, es nur mit der Politik seines deutschen Kollegen Ertl zu tun zu haben; seit dem letzten deutsch-französischen Gipfel in Bonn hingegen wisse er, daß diese Distanzierung in Wahrheit die neue Politik der Regierung Brandt ausmache).
Wie denn, wir wären wieder einmal schlechte Europäer, weil wir den -- nicht funktionierenden -- Gemeinsamen Agrarmarkt, der uns pro Tag vier Millionen D-Mark kostet, für reformbedürftig halten? Wir haben ja niemandem angekündigt, daß wir eine große Krise anblasen wollen, nur weil Frankreich unsere Interessen und Vorstellungen (noch) nicht teilt.
Wenn wir zugeben, daß unsere Positionen, wie die anderer Länder, oft nicht logisch miteinander vereinbar sind, so müssen wir doch feststellen, daß ein vernünftiger Dialog mit dem gaullistischen Frankreich über dessen Unlogik nicht möglich ist. Wie soll man vereinbaren, daß Frankreich
* expansiv, und das heißt kostentreibend wirtschaftet und gleichzeitig Bonn vorwirft, es verteidige die Stabilisierung des Geldes nicht hartnäckig genug gegen die USA;
* der Bundesregierung vorhält, sie nehme die aus dem Osten drohende militärische Gefahr nicht ernst genug, einerseits; und andererseits die Zusammenarbeit innerhalb der Nato und, notabene, eine Beteiligung an den Kosten der Amerikaner oder überhaupt höhere Rüstungslasten verweigert;
* die Bundesrepublik bezichtigt, sie entferne sich von Europa, und gleichzeitig den Fortschritt europäisclher Institutionen verlangsamt und blockiert;
* eben jene »special relationship« zur Sowjetunion pflegt, die der Bundesregierung neuerdings vorgeworfen wird;
* die Bundesrepublik mit sonderbarer Equilibristik für das »Trojanische Pferd« sowohl der USA wie auch der Sowjets in Europa hält.
Frankreich hat Angst vor einer sozialistischen Bundesrepublik. Aber in Frankreich wäre undenkbar, daß die Ernennung eines Kommunisten zum Richter die Staatsautorität gefährdet; Kommunisten sind dort längst Richter. In der Bundesrepublik wäre einstweilen noch undenkbar, daß die Besetzung einer Fabrik durch die Arbeiter, daß die Wegnahme und Verschleuderung der von dieser Fabrik produzierten Waren stattfinden könnten, ohne daß die Behörden beizeiten einschritten.
Arbeiter zerstören ihre Produktionsmittel (438 Aluminiumschmelzen des Chemiekonzerns Péchiney-Ugine-Kuhlmann) und bekommen gleichwohl die Voll -- und Weiterbeschäftigung an den nicht mehr existierenden Arbeitsplätzen nebst Lohnerhöhungen garantiert, das ist französische, nicht westdeutsche Wirklichkeit. Nein, wir sind nicht »sozialistischer« als das gaullistische Frankreich, mag man"s beklagen oder loben.
Aber was Deutschland betrifft, Deutschland als nicht mehr bestehendes Ganzes, so ist es in den Augen vieler Franzosen immer noch die große Abenteurerfigur. Man stößt sie auf den Weg der Verständigung mit der Sowjetunion, und siehe da, sie arrangiert sich mit der Sowjetunion. Grund genug zum Mißtrauen, eh?
Je nebuloser die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in einer fernen Zukunft verschwimmt, desto begieriger denkt Frankreich über Deutschlands schrittweise Neutralisierung nach, die Frankreich isolieren und seines strategischen Vorfelds berauben müsse. Je näher die Weltmächte zusammenrücken, desto mehr fühlt sich Frankreich »eingekreist«, desto dringlicher braucht es die deutsche Gefahr. Vor diesem Hintergrund scheint doppelt deplaciert, daß ausgerechnet ein so grobklotziger Marschierer wie Jacques Chirac den Angriff auf Brandt eröffnen mußte.
Denn Frankreich hat ja tatsächlich während der letzten 100 Jahre, und beileibe nicht eher, hinlänglich Grund zur Beunruhigung gehabt. Zweimal ist es, obwohl friedwillig, überfallen, das zweite Mal bis ins Mark gedemütigt worden. Nur sieht man nicht, wie eine Bundesrepublik, die ein neutrales Gesamtdeutschland vorzöge, Frankreich gefährden könnte. Hier meldet sich der selige Maginot mit seiner unseligen Philosophie.
Die Crux ist ja, daß Sowjetrußland sich einstweilen und wohl noch recht lange ein neutrales Gesamtdeutschland einfach nicht leisten kann. Aber wahr ist auch, daß die Bundesrepublik sich von der Europäischen Gemeinschaft, wie sie sich derzeit darbietet, nicht »würde halten lassen (und vielleicht von keiner europäischen Gemeinschaft), wenn die DDR sich bereit fände, das parlamentarische System zu übernehmen. Für die Probleme Berlins und die Lösung der »deutschen Frage« ist nun einmal eine andere Antwort nicht vorstellbar. Nur, wo sind die Anzeichen dafür, daß die SED ihre Existenz aufs Spiel setzen wollte oder daß die Sowjets Interesse hätten, sie zu überreden oder zu zwingen?
Wenn Edgar Faure, gaullistischer Präsident der Nationalversammlung, die Franzosen angesichts dieser sie beunruhigenden Perspektive beruhigt (schrittweise Neutralisierung der Staaten Mitteleuropas wäre »mehr ein Faktor des Friedens als des Krieges"), so stellt auch er das Abschwimmen Deutschlands in Rechnung, als stehe es unmittelbar bevor. Wahr ist, daß in der Theorie und für alle Zeit eine Änderung der Interessen des Kremls und, ihnen folgend, der Westdeutschen nicht ausgeschlossen werden kann. Wahr ist ebenso, daß dem befürchteten Ereignis niemand so sehr zuarbeitet wie seit Jahrzehnten die französische Politik. Und wahr ist drittens, daß bis zum Tage X noch viele »heiße Herbste« in Paris einkehren dürften, die mit Hilfe der »deutschen Gefahr« von Jahr zu Jahr weniger gemeistert werden können.
Die Innenpolitik ist unser Schicksal, die äußere Politik vielfach nur noch eine des leeren Stuhls.