Zur Ausgabe
Artikel 34 / 63

Himmel oder Hölle dieser Welt?

aus DER SPIEGEL 1/1977

Brasilien -- »O mais grande du mundo«, »das größte (Land) der Welt«. So zumindest preist es ein Regierungsslogan, der zwar den nüchternen Fakten nicht standhält, aber mit nationalistischem Pathos wenigstens die eigenen Bürger zu berauschen sucht.

Doch auch Ausländer sehen es groß. »Wohin Brasilien geht, dahin geht Lateinamerika«, hatte US-Präsident Nixon einst prophezeit. Sein Außenminister Kissinger ernannte das Riesenreich zum »festen Stützpunkt der westlichen Welt«.

Nur noch mit Poesie kamen gemeinhin durchaus unpoetische Menschen dem Phänomen Brasilien bei -- kapitalistische Manager:

»Manchem deutschen Unternehmer / wird es immer unbequemer / wachsend und bedenklich droh'n / Steuern, Jusos, Inflation / Kommen Sie nach Rio Grande! / Dort ist Chefsein keine Schande.«

Mit solchem Knittelvers lockt Arno Vincent Jacobi, Geschäftsführer der Deutsch-Brasilianischen Handelskammer im Bundesstaat Rio Grande do Sul, unternehmungslustige Kapitalisten ins gelobte Land, das seinen Namen von dem in die »Alte Welt« exportierten roten Tropenholz »Pau brasil« bekam. Phosphate, Eisenerz, Platin und Bauxit, Nickel, Zinn, Chrom, Kobalt und Uran, was immer für den technischen Fortschritt an Bodenschätzen notwendig ist, finden Investoren unter Brasiliens Erde in ungeahnten Mengen.

Viele, viele kamen, mehr als in jedes andere Entwicklungsland, denn es lockten Rekord-Wachstumsraten und Rekordgewinne.

»Wir entdeckten ein Land, in dem es keine Streiks gibt, in dem es keine Verträge mit Gewerkschaften gibt, in dem es keine freien Wahlen gibt -- wir entdeckten den Himmel«, frohlockte ein entzückter italienischer Unternehmer.

Wahrlich, wen wundert's, daß Menschen in dem gelobten Land der festen Meinung sind, »Deus 6 brasileiro« -- »Gott ist ein Brasilianer.«

Ist er? Brasilien -- eine »institutionalisierte Hölle«, urteilt dagegen der brasilianische Anwalt und einstige linkskatholische Abgeordnete Márcio Moreira Alves. Brasilien ist eine Diktatur unter dem Stiefel einfältiger Brigadiers, deren Brutalität nur noch von ihrem Größenwahn übertroffen wird -- der sie dazu treibt, den halben Kontinent zu ihrer Einflußsphäre und den ganzen Südatlantik zu ihrem »mare nostrum« zu erklären.

Abgesehen von Argentinien, wo ein Guerillakrieg tobt, hält Brasilien den Rekord an Gewalt-Toten in Südamerika. Allein seine berüchtigte »Todesschwadron« foltert und mordet jährlich mehrere hundert Menschen. Den Resten seiner Urbevölkerung, den Indios, droht durch staatliche Siedlungsprogramme und Zivilisationskrankheiten die Ausrottung. Die Kindersterblichkeit steigt (102 tote Kinder auf tausend Geburten, 1960; 130 tote Kinder auf tausend Geburten, 1970). Die Hälfte des Volkes hungert. Elf Millionen Einwohner gelten als geisteskrank, fast eine Million hat Lepra, und pro Jahr rechnet die Weltgesundheitsorganisation mit 300 000 neuen Tbc-Erkrankungen.

»Was steht hinter all den Verbrechen in unserem Land, die in ihrer Grausamkeit nahezu perfektioniert scheinen?« -- das fragten nicht etwa linke Revolutionäre, das fragt, in einem offiziellen, gemeinsamen Hirtenbrief Mitte November die brasilianische Bischofskonferenz ihre Regierung.

Und die Kirchenmänner, empört über Mißhandlungen und Morde an Priestern, geben selbst die Ant. Wort: »Die Ideologie der nationalen Sicherheit, die sich über das Bedürfnis der persönlichen Sicherheit erhebt, breitet sich über den ganzen lateinamerikanischen Kontinent aus, wie es auch in den Ländern unter sowjetischer Herrschaft geschah ... So hat diese Lehre die Gewaltregime dazu geführt, dieselben Merkmale zu übernehmen, die in kommunistischen Regimen üblich sind: Mißbrauch staatlicher Macht, willkürliche Verhaftung, Folter ...«

Beide Bilder, das vom gleißenden Wirtschaftswunderland und das vom finsteren Kerker, werden in den Medien der Welt verbreitet: das schöne Bild etwa gefördert vom »Arbeitskreis Information« (AKI) deutscher Investoren, das häßliche mal untermauert von »Amnesty International«, mal von Emigranten und linken Ideologen.

Was stimmt? Ist das 107-Millionen-Einwohner-Land mit kontinentalen Ausmaßen -- fast sechsmal so groß wie die EG -, mit schier unerschöpflichen Bodenschätzen, nun der Himmel oder die Hölle dieser Welt?

Brasilien ist beides, je nach dem Blickwinkel der Betroffenen, der Nutznießer wie der Opfer des brasilianischen Systems.

Überhaupt scheinen immer beide Seiten recht zu haben in diesem seltsamen Land -- bei den Gemeindewahlen von Mitte November siegten beide konkurrierenden Parteien. Die Regierungspartei Arena ("Allianz der Nationalen Erneuerung") siegte auf dem Lande, die Opposition MDB ("Brasilianische Demokratische Bewegung") hingegen gewann alle großen Städte.

Aber es wäre doch nicht Brasilien, wenn dies alles so einfach wäre, wie es aussieht:

Beide wahlwerbenden Gruppen sind keineswegs Parteien im üblichen Sinn. Sie wurden beide per Generals-Dekret

* Ein Polizist setzt seinen Fuß auf einen ausgebrochenen Strafgefangenen.

aus der Retorte geschaffen. Ihr Unterschied besteht nach einem brasilianischen Witz darin, daß die Regierungspartei zu Vorschlägen der Militärs mit »Ja, mein Herr« zu antworten hat, während für die Opposition ein »Ja« alleine reicht.

Selbst die Parteienwerbung für die Wahl wurde von der Regierung bestimmt.

Schließlich ging es bei diesen Gemeindewahlen nicht etwa darum, wer Bürgermeister in Rio oder in einem Hüttendorf draußen im Mato Grosso wird. Vielmehr hatte Präsident Ernesto Geisel die Wahl zum »Volksentscheid« über seine Politik einer vorsichtigen Liberalisierung hochstilisiert -- seines Kurses der »descompressao«, des »Ablassens von sozialem Druck«, und einer »distensao«, einer »Entspannung«.

Geisel glaubt fest, gewonnen zu haben und die restlichen zwei Jahre seiner Amtszeit auf seinem Weg weiterregieren zu können.

Seine Konkurrenten und potentiellen Nachfolger aus den Kasernen, die schon in den Startlöchern stehen -- jeder brasilianische Vier-Sterne-General fühlt die Berufung, Präsident zu werden -, halten davon nicht viel. Gerüchte verunsichern das Land, ein neuer Putsch von rechtsaußen solle wieder harte Zucht verhängen. Und die Putsch-Gefahr scheint ernst, denn dem Brasilien des Generals Geisel droht das Schmuckstück seiner Schokoladenseite abhanden zu kommen -- sein Wirtschaftswunder.

Weltrezession und Ölverteuerung trafen Brasiliens Ökonomie stärker als andere, da eine einseitig aufs Ausland orientierte Wirtschaftspolitik keine Kaufkraft und damit keinen ausreichenden Markt im eigenen Land geschaffen hat.

Wachsende Auslandsschulden in Höhe von 28 Milliarden Dollar lasten auf dem Land -- weit mehr als auf jedem anderen der Dritten Welt. Der Abgeordnete der Oppositionspartei MDB Alcenar Furtado klagte schon vor Jahren: »Jeder Brasilianer wird heute mit einer Schuld von 230 Dollar geboren.«

Die Schulden steigen weiter: In diesem Jahr wird Brasilien ein voraussichtliches Defizit von 2,8 Milliarden Dollar in der Handelsbilanz aufweisen. Dieses Milliardenloch muß durch neue Kredite gestopft werden, deren Zinslast bald unerträglich werden dürfte.

Die bevorstehende Ölpreiserhöhung macht alles noch schlimmer. Bergbau- und Energieminister Shigeaki Ueki drohte im Oktober mit Benzinrationierung, da »der Staat nicht mehr 60 Prozent seiner Devisen für Öleinfuhren ausgeben kann«. Pro Kopf und Monat soll es dann nur noch 30 Liter Sprit geben.

Um Devisen zu sparen, werden Brasilianer, die als Touristen ins Ausland reisen, zur Kasse gebeten: Jeder Brasilianer muß bei der Zentralbank 12 000 Cruzeiros (rund 2500 Mark) für ein Jahr Linslos deponieren, bevor er einen Paß bekommt.

Allein 1975 mußte der Cruzeiro 14mal abgewertet werden; voriges Jahr 16mal, während die mit einer Rate von 29 Prozent (1975) nach brasilianischen Maßstäben schon als besiegt angesehene Inflation 1976 die 50-Prozent-Marke erreicht hat.

Gleichzeitig läuft Brasiliens Wirtschaft auf langsameren Touren: Die Wachstums-Fetischisten in Brasilia beobachten mit Schrecken das Absinken der Wirtschaftswachstumsrate unter die Zehn-Prozent-Grenze: von 9,6 Prozent (1974) auf vier Prozent 1975. Für 1976 gar wird in Brasilia bestenfalls mit einem »Null-Wachstum« gerechnet.

Dies trifft erstmals auch jene, die bisher vom schnellen Wachstum profitierten und deshalb zu den Stützen der Generals-Herrschaft zählten: den Mittelstand von maximal 15 Prozent der Bevölkerung, zu dem auch viele Facharbeiter gehören.

Die Armen -- 80 Prozent des Volkes -- hatten vom Wachstum ohnehin nie etwas verspürt. Der Abstand zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, hat sich in Brasilien in dreizehn Jahren Militärherrschaft noch vergrößert.

In Brasilia zitieren hohe Regierungsbeamte aus ihren Unterlagen, daß die gesetzlich festgelegten Löhne zu Lasten der untersten Lohngruppen gehen, daß der Warenkorb« nach dem das Existenzminimum berechnet wird, durch Preiserhöhung und Inflation nur noch zur Hälfte gefüllt ist, daß die Einkommensunterschiede zwischen dem Norden und dem Süden des Landes noch größer geworden sind.

»Der Kuchen muß erst größer werden, bevor er verteilt werden kann.«

Nach einem Bericht des Statistischen und Sozialwirtschaftlichen Instituts der Gewerkschaften hat der Mindestlohn in Sao Paulo, der reichsten Region Brasilien, sogar nur noch ein Drittel der Kaufkraft von 1958, der Zeit vor dem Putsch.

Schon vor vier Jahren enthüllte Weltbankpräsident Robert McNamara, daß die ärmsten 40 Prozent der Brasilianer 1960 wenigstens noch zehn, 1970 aber nur noch acht Prozent des Volkseinkommens verdienen. Kommentar des damaligen Wirtschaftsministers Delfim Neto: »Sicher ist, daß 100 Prozent des Volkseinkommens unter 100 Prozent der Bevölkerung aufgeteilt werden, die Proportionen sind nicht so wichtig. Im Kapitalismus gibt es nun einmal Arme und Reiche.«

Dies war von Anfang an das Motto der Politik der brasilianischen Militärs gewesen -- und sie richteten ihre Ökonomie einseitig auf die Reichen aus.

Denn im großen Brasilien sind die Generäle großzügiger als etwa in Peru oder Nigeria. Sie steuerten, fast einmalig auf der Welt, einen Kurs, den sie und ein paar hunderttausend der Besitz-Oligarchie für den wahren Aufstieg zur Großmacht halten: hemmungslose Prosperität der Großindustrie auf Kosten von mehr als zwei Drittel des Volkes.

Das Land, das im Bewußtsein der meisten Europäer noch immer von exotischen Klischees wie Copacabana, Kaffee und Karneval lebt, wurde durch eine investitionswütige Politik ohnegleichen zum einmaligen Dorado kapitalkräftiger Spekulanten. Mit Steuervorteilen, Einfuhrvergünstigungen und lockenden Profitangeboten zogen die Militärs ausländisches Kapital und Know-how ins Land, während sie Arbeitskämpfe jeder Art verboten.

So verwundert es nicht, daß heute mehr als zwei Drittel der brasilianischen Schlüsselindustrien in den Händen ausländischer Kapitalgeber sind. Schon vor vier Jahren erreichten 2345 Großunternehmen, von denen 20 ausschließlich durch ausländisches Kapital gelenkt wurden, 47,1 Prozent des Indu-

* Bei der Amtsübergabe 1974.

strie-Umsatzes. In 2296 weiteren brasilianischen Großunternehmen haben Ausländer die Kapitalmehrheit.

Die Deutschen sind mit über 800 Großbetrieben dabei. Deutsche Firmen haben seit Kriegsende in Brasilien über drei Milliarden Mark investiert, mehr als in Kanada. Ihnen behagte, ebenso wie ihren Kollegen aus anderen Industrieländern, das frühkapitalistische brasilianische Investitionsklima.

Dort, im letzten Wunderland, brauchten sie sich nicht mit Mickergewinnen und Mitbestimmung abzufinden, dort kamen satte Renditen von rund 20 Prozent über, meldeten sich tausend bescheidene Arbeitswillige, wenn fünf Mann gesucht wurden.

Und: »Einigen Unternehmen wurden hier Steuervorteile gewährt«, staunte Joachim Boerger, deutscher Konsul in Belo Horizonte, »für die man in Deutschland hinter schwedische Gardinen gesteckt worden wäre.«

»Volkswagen do Brasil«, größter Automobilhersteller im Lande (Marktanteil 57 Prozent), lobte die Erfolge, »die sicherlich nicht zuletzt auf die stabile innenpolitische Lage und die pragmatisch-liberale Wirtschaftspolitik der brasilianischen Regierung zurückzuführen sind«.

Diese Politik führte zur totalen Abhängigkeit der Brasilianer vom Ausland. Regimekritiker Márcio Moreira Alves stellt in seinem Buch »Brasilien -- Rechtsdiktatur zwischen Armut und Revolution« verärgert fest:

Bei der Geburt werden wir mit Johnson & Johnson bandagiert. Mit Nestlé und Gloria-Milch werden wir am Leben erhalten. Wir tragen synthetische Kleider, die in französischen, englischen und amerikanischen Firmen hergestellt worden sind. Wir reinigen unsere Zähne mit Colgate-Zahnpasta und Tek-Zahnburaten. Wir waschen uns mit Lever- oder Palmolive-Seife und rasieren uns mit Williams- und Gillette-Klingen und -Apparaten ... Wir essen aus Konservendosen, die in Amerika und Kanada hergestellt und von Armour, Swift & Wilson verpackt worden sind. Und wenn wir sterben, etwa an Lungenkrebs, den wir uns vom Rauchen britischer und amerikanischer Zigaretten geholt haben, haben wir endlich eine Möglichkeit, an dem 94-Prozent-Anteil unserer Wirtschaft teilzuhaben, denn die Friedhöfe gehören einer alten brasilianischen Gesellschaft, der Santa Casa da Misericordia. Aber die Elektrizitätsrechnungen müssen die Hinterbliebenen an die Canadian Light and Power zahlen und vielleicht sogar das Holz für den Sarg von der Georgis kaufen, und zwar mit Geld, das bei Thomas de Is Rue oder bei der American Bank Note Company hergestellt ist. Die Politik blieb dennoch konsequent. Jahrelang hatte sich die Staatsmacht selbst bescheidenen Ansätzen einer gerechteren Einkommensverteilung und jeder sozialen Verpflichtung entzogen. Ihr Argument: »Der Kuchen muß erst größer werden, bevor er verteilt werden kann.«

Doch die Zahl derer, die vom Wunder-Kuchen essen können, wurde immer kleiner. Längst sind weite Teile der dünnen Schicht des brasilianischen Mittelstandes, die den Putsch der Militärs noch aus Angst vor sozialistischen Experimenten begrüßt hatten, in die große Masse derer abgesunken, die durch niedrige Löhne und hohe Geldentwertung immer weniger konsumieren können: das sind über 80 Prozent aller Brasilianer. Der brasilianische Binnenmarkt sucht nach Käufern, die er nirgendwo findet, der Umsatz des Einzelhandels sinkt -- das Wunder gerät zur Dauerkrise.

Während eine Minderheit in den Millionenstädten Rio de Janeiro und Säo Paulo nach nordamerikanischen Maßstäben reicher Leute lebt, für Grundstücke in den Stadtzentren Quadratmeter-Preise von 3000 Mark bezahlen kann, liegt der von der Militärregierung in den Großstädten festgelegte Mindestlohn bei 160 Mark. Im Bundesstaat Rio Grande do Sul aber sind es nur noch 150 Mark, im Staat Pernambuco, im verarmten Nordosten, sogar nur 126 Mark.

Dabei mußte die Regierung noch zugeben, daß 70 Prozent der Gesamtbevölkerung von dem kargen Mindestlohn existieren müssen.

Nach Untersuchungen des Sozialministeriums liegt der tägliche Kalorienverbrauch in diesem von seinen Ressourcen her steinreichen Land mit 1400 bis 2200 Kalorien im Durchschnitt noch unter dem Limit, das die Weltgesundheitsorganisation als »lebensnotwendig« errechnet hat. In einem Dorf in der Nähe von Recife, das von Lohnarbeit in einer Zuckermühle lebt, sind von 37 Neugeborenen des Jahrgangs 1970 nur noch sechs am Leben.

Ein System, in dem der Einzelne nur zu genau weiß, daß er allein auf Kosten anderer der bittersten Not entgehen kann, hat in Brasilien eine Gesellschaft menschlicher Wölfe entstehen lassen und die Widerstandskraft der Massen mehr ausgehöhlt, als der Terror der Polizei, als Streikverbot und Pressezensur, Fememord und Folter es vermochten.

Was jenseits der Skyline von Wolkenkratzern existiert -- das Brasilien abseits von Copacabana und Zuckerhut -, interessiert die auskömmlich lebenden Städter höchstens als Reservat billiger Arbeitskräfte.

Das böse Wort einer Brasilien-Deutschen, daß »jenseits von Bahia doch nur Affen leben«, kommentiert ein deutschstämmiger Protestanten-Pfarrer so: »Das ist sehr ungeschickt ausgedrückt, aber sicher nicht falsch.«

Die Quadratkilometer, auf die allein es in Brasilien ankommt, liegen im Dreieck der Millionenstädte Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Sao Paulo.

Säo Paulo, ein Chaos von Asphalt, Unrat und Beton, ist eine der häßlichsten Großstädte der Welt. Gleichwohl ist die Elf-Millionen-Stadt für weitere Millionen, für die »Affen«, die heute noch im Hinterland in Laubhütten oder Bretterbuden am Rande der Zuckerrohr- oder Kaffeeplantagen wohnen, das Traumziel.

Es gibt in der Trockenzone des Nordostens eine eigene, von Landarbeitern geschriebene Trivialliteratur, die erzählt, wie sich die Tagelöhner-Familien aus den Provinznestern über die Slums von Recife oder Bahia bis zu jenem legendären Omnibus vorarbeiten, der täglich 150 bis 200 Neubürger in den Asphaltdschungel von Säo Paulo karrt.

Die einst am Kaffeehandel reich gewordene Stadt ist durch den wilden Boom das Ruhrgebiet Brasiliens geworden. Unter dem Schlagwort »Säo Paulo kann nicht stillstehen« förderte die Stadt die planlose Ansiedlung von Industrien, die ihre Werkshallen und Schornsteine ungesteuert in die Wohnsiedlungen hineinbauten.

Per Smog von 55 000 Industriebetrieben auf engem Raum nimmt heute arm und reich in gleichem Maße den Atem. Im Vorort Säo Bernardo do Campo, wo auch Volkswagen do Brasil sein Werk hat, mußte Mitte 1975 fast die gesamte Bevölkerung für einige Stunden evakuiert werden, weil die Anteile an Giftstoffen in der Luft lebensgefährliche Werte erreicht hatten. Politisierende Militärs ohne politisches Mandat.

Die Interamerikanische Gesundheitsorganisation hat in ihrem Bericht von 1974 festgestellt, daß die Verschmutzungsrate in dieser Stadt viermal höher ist als in Chicago. In Säo Paulo gibt es 30 000 Straßen, die auf keinem Plan zu finden sind, Millionen von Behausungen ohne Wasser, wo die Slumbewohner ihre Buden beleuchten. indem sie Fernleitungen anzapfen.

Säo Paulo -- das ist die Summe der Probleme Brasiliens, die trotz der straffen Zucht der Militärs unlösbar geworden sind. Der derzeitige Herrscher, General Ernesto Geisel, 68 -- der vierte Offizier, der seit 1964 über das Land gebietet, ohne demokratische Legitimation, mit selbsterlassenen Sondergesetzen und praktisch unumschränkter Macht -, wird sie gewiß auch nicht lösen.

Als der schweigsame Heeresoffizier im März 1974 sein Amt antrat, galt er vielen Brasilianern als ein Garant für eine Wende zum Besseren.

Geisel, Lehrerssohn, Nachkomme hessischer Einwanderer und der erste Lutheraner auf dem Präsidentensessel in dem überwiegend katholischen Land, versprach eine Politik, für die er den aus der Technikersprache entlehnten Begriff »Dekompression« verwandte.

Doch die Praxis sah anders aus. Zwar wurden zunächst einige Folteroffiziere versetzt, küßte Geisel während des Wahlkampfes Kinder und focht für die Regierungspartei Arena, als gäbe es tatsächlich was zu wählen.

Doch vor die Entscheidung gestellt, eine tatsächliche politische Öffnung und soziale Reformen zu betreiben oder der von den konservativen Militärs vertretenen harten Linie zu folgen, hat der General bisher noch keine Antwort gegeben. Die weitergehende Frage, wann das Militär die usurpierte Macht wieder abgibt, darf er sich nicht stellen, will er nicht vor Ablauf seiner Amtszeit von den weit konservativeren Generalskollegen gestürzt werden.

Denn längst schon sind die politisierenden Militärs mit dem brasilianischen Großkapital aufs innigste verfilzt. Kaum ein General oder Minister in Schlüsselposition, der nicht auch in der Wirtschaft Karriere gemacht hätte. Allen voran Geisel selbst, vorher Präsident des nationalen Ölriesen »Petrobrás« (unter den weltgrößten Multis an 39. Stelle). Bergbauminister Shigeaki Ueki, der von Japanern abstammt, war dort Geisels Chefmanager.

Geisels rechte Hand, Präsidentenberater General Golbery, arbeitete als Generaldirektor des US-Multis Dow Chemical, Finanzminister Simonsen in den Aufsichtsräten von Mercedes-Benz und British Tobacco. Der ehemalige Außenminister General Juracy Magalhaes steht heute bei Standard Electric unter Vertrag.

Die Lobby-Liste läßt sich beliebig verlängern bis hinunter zu den bescheidenen Pfründen verdienter Chargen in den rund 700 staatlichen Unternehmen. Für die politisierenden Offiziere ohne politisches Mandat ist die enge Bindung an Kapital und Industrie längst zur Daseinsvorsorge geworden.

Mitunter begünstigen den zivilen Aufstieg der Troupiers auch recht schlichte Qualifikationsmerkmale. Finanzchef der »Arsa«, einer Firma, die das Transportmonopol auf Flughäfen besitzt, wurde ein Offizier, der sich auf der Generalstabs-Akademie vor allem dadurch auszeichnete, daß er jede Woche von seinen Kameraden die Tippgelder fürs Fußballtoto kassierte. »Romeo und Julia« verboten.

Der brasilianische Soziologe Professor Cardoso identifizierte diese Mischung aus Militärs, Technokraten und Unternehmer-Funktionären als neue brasilianische Klasse und nennt sie »Borguesia estatal« (staatliche Bourgeoisie): »Leute, die es im privaten Wettbewerb nie schaffen würden, so weit aufzusteigen.«

Eine politische Überzeugung hat diese Staatsbourgeoisie gemeinhin nicht. Bei Veranstaltungen der Regierungspartei Arena läßt sich außer Geisel nur selten ein Minister oder General sehen. Theoretische Erörterungen, gar ideologischer Natur, sind den Machthabern ein Greuel. Selbst systemfromme Diskussionen von Intellektuellen und Künstlern stehen bei ihnen im Verdacht von Linkslastigkeit -- mit fatalen Folgen für das kulturelle Leben.

Vor einigen Jahren ließ der damalige Justizminister Buzaid die »Erotischen Radierungen« von Pablo Picasso unter dem Verdacht der Pornographie beschlagnahmen. Die Blamage hielt seinen Nachfolger Falcao nicht davon ab, Ende März 1975 eine Fernsehaufzeichnung des Bolschoi-Balletts von Prokofieffs »Romeo und Julia« zu verbieten, aus Angst vor kommunistischer Unterwanderung.

Was das brasilianische Militärregime trotz vieler Parallelen von faschistischen Systemen unterscheidet, ist der Mangel an jeder Art auch noch so grob geschnitzter Weltanschauung -- es sei denn, man nimmt das Ziel, auf jede nur mögliche Art Profit zu machen und den fast pathologischen Kommunistenhaß als Ersatz-Ideologie. »Eine Atmosphäre von Gewalttätigkeit und Angst.«

Aber selbst der Anti-Kommunismus, die blutige Verfolgung jedes Brasilianers, der auch nur im Verdacht linker Ideen steht, endet, wenn die Regierung mit Kommunisten Geschäfte machen kann. Brasilien hat enge Handelsbeziehungen sowohl mit der Sowjet-Union wie mit China; den Russen verkauft es seinen Kaffee gegen Maschinen. den Chinesen Sojabohnen gegen Erdöl. Rumäniens kommunistischer Staatschef Ceaucescu war in Brasilien ein willkommener Gast.

Schon die vage Hoffnung auf ein Ölgeschäft ließ die brasilianischen Militärs im Angola-Konflikt auf die linke Karte setzen: Die Ultra-Rechten in Brasilia waren mit die ersten, die das von Sowjets und Kubanern militärisch unterstützte linke Regime der MPLA anerkannten.

Den Mangel an politischem Programm muß ein überzogenes, mitunter schon albern wirkendes nationalistisches Pathos ersetzen, das die Verbundenheit der Regierung mit dem Volk demonstrieren soll.

So feierte Geisels Amtsvorgänger, General Médici. ein Meister der großen Gesten, den Sieg der Brasilianer bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1970 als Zeichen für den Aufstieg Brasiliens zur Weltmacht.

Mit dem Aufbau der trotz architektonischer Glanzstücke noch immer steril und menschenfeindlich wirkenden Hauptstadt Brasília, für den einst der zivile Präsident Kubitschek die Staatsfinanzen ruinierte, setzte sich die Großmannssucht der Regierenden ein fragwürdiges Denkmal.

Die Generalpräsidenten bauten sich ohne Rücksicht auf den ökonomischen Nutzen und die ökologischen Folgen ihr eigenes, noch größeres: die 5629 Kilometer lange Transamazônica, eine Urwald-Fernstraße von der Atlantikküste bis zur peruanischen Grenze.

Auch dieses Denkmal der Militärs ist, noch nicht fertig, schon desolat: Die publikumswirksam verkündete Ansiedlung von Hunderttausenden von Kleinbauern längs der durch den Dschungel geschlagenen Transamazônica hat sich als »absolutes Fiasko« (ein deutsch-brasilianischer Manager) erwiesen.

Siedler, deren einziges Kapital die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben war, erkrankten an Malaria oder Meningitis oder scheiterten an dem schon bald ausgelaugten Boden, an der mangelnden Infrastruktur, unzureichendem Gerät oder fehlenden Grundkenntnissen über den Reis-, Mais- oder Bohnenanbau.

»Unter landwirtschaftlichen Aspekten ist die Transamazônica keine vernünftige Investition«, räumt Rubens Valentini, Wirtschaftsberater in Brasiliens Landwirtschaftsministerium, ein, »wir versuchen jetzt nur noch, das Beste daraus zu machen.« Und bei solchen Versuchen machen in Brasilien allemal wieder die Multis mit.

Der US-Großreeder Daniel K. Ludwig etwa konnte sich im Gebiet nördlich der Amazonas-Mündung eine Farm zulegen, die etwa der Größe der Niederlande entsprechen soll. Einheimische Siedler längs der Transamazônica dürfen allenfalls 100 Hektar besitzen. Auf der Ludwig-Fazenda, einem privaten Staat im Staat, die der publicity-scheue Tanker-Tycoon scharf bewachen läßt, sollen vor allem Rinder und schnell wachsende Bäume Geld bringen.

VW langte mit etwa 47 Millionen Mark für eine 120 000 Hektar große Rinderfarm am Rio Araguaia zu. Auf der Käfer-Ranch, auf der heute etwa 2700 Rinder weiden, sollen in sechs Jahren 110000 Stück Rinder grasen, bevor sie im VW-Schlachthof, VW-Gefrierhaus oder der VW-Konservenfabrik verarbeitet werden.

Sogar 300 000 Rinder will der italienische Energiekonzern Liquigas auf seiner zentral-brasilianischen Großfarm halten. Der französische Glaskonzern Saint-Gobain erwarb ebenso wie der US-Chemiegigant DuPont riesige Ländereien, um sich ein Stück Fleischgeschäft einzuverleiben.

Arbeitsplätze aber schaffen die Monsterfarmen nicht. Nach zweijähriger Anlaufzeit arbeiten auf der Riesenfarm von VW nur 115 Personen.

Wo es ausländischen Kapitalisten gut geht, wollen einheimische nicht zurückstehen. Die Staatsbourgeoisie, die solche Zustände herbeiführte, verstand es hervorragend, es auch für sich selbst zu richten: Die Korruption, »mordomia« genannt, grassiert -- Minister lassen sich neben ihren Gehältern das Hauspersonal, die Autos, selbst die Kreditkarten vom Staat oder von Industrieunternehmen bezahlen.

Die konservative Tageszeitung »O Estado de Sao Paulo« klagte im August: »Jeder Tag ist ein Party-Tag.« Die von der Inflation geplagten Normalbürger konnten lesen,

* daß sich der Finanzminister Simonsen einen neuen Wohnsitz für 500 000 Dollar »organisierte«;

* daß in öffentlichen Unternehmen die Spitzenpositionen mit 17 Monatsgehältern dotiert sind;

* daß Arbeitsminister Arnaldo Prieto aus dem Staatssäckel 28 private Hausangestellte bezahlt und für Privat-Partys auf Staatskosten Frischfleisch über 1200 Meilen weit einfliegen läßt.

Die Armen stehen unterdessen in langen Schlangen vor den Läden um schwarze Bohnen an, die für die meisten Hauptnahrungsmittel sind.

»Feijao« (Bohne) schrieben deshalb viele Wähler bei den Gemeindewahlen auf die Stimmzettel -- in Rio allein gab es 150 000 »Bohnen«-Zettel, mehr als jeder offizielle Kandidat erhielt. Auf Flugblättern drohten rechte Feme-Organisationen »kommunistischen Kanaillen« für solche Unmuts-Äußerungen bereits mit dem Tod.

Jetzt, nach den Wahlen, stehen drastische Sparmaßnahmen bevor, die das Arbeitslosenheer noch gewaltig zu vergrößern drohen. Wie verzweifelt die Job-Suche im Wirtschaftswunderland schon vor der Wahl war, zeigte sich, als um 1000 ausgeschriebene Stellen im öffentlichen Gesundheitswesen sich 68 000 Bewerber rangelten.

Der Niedergang der Wirtschaft wird zwangsläufig das Regime noch mehr verhärten. Es ist auch kein Zufall, daß die katholische Kirche gerade jetzt ihren Hirtenbrief verfaßte, der

Repression und Terror härter geißelt, als es irgendeine Gruppe im Land seit Beginn der Diktatur je wagte.

Sie predigt gegen die schrankenlose »Macht des Geldes«, gegen »wachsende Verrohung, eine neue Art von Fanatismus, eine Atmosphäre von Gewalttätigkeit und Angst«.

Wahre, mutige, notwendige Worte. Nur, die Brasilianer vernahmen sie erst, nachdem der Versuch des Militärregimes, ihre Veröffentlichung zu verhindern, durch den Abdruck des Hirtenbriefes in der internationalen Presse unterlaufen wurde.

»Niemand bremst Brasilien«, ist einer der Slogans, den die herrschenden Militärs mangels Ideen erfunden haben. Er stimmt nur nicht. Brasilien bremst sich selbst.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 34 / 63
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren