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SOWJET-RAKETEN Himmel voller Bomben

aus DER SPIEGEL 47/1965

Am Schluß der rollenden Demonstration in Stahl und Schrecken rumpelten die beiden Ungetüme über das Kopfsteinpflaster des Roten Platzes: 35 Meter lang, drei Meter im Durchmesser, in graugrüner Tarnfarbe gestrichen.

»Allein ihre Größe«, kündete Radio Moskau, »zeugt von ihrer kolossalen Vernichtungskraft.« Und die sowjetische Nachrichtenagentur Tass enthüllte Zweck und angebliche Fähigkeiten der dreistufigen »Global-Raketen«. Laut Tass könnten diese Raum-Bomben als stete Bedrohung des Gegners wie ein Sputnik um die Erde kreisen; sie könnten zu jeder Zeit auf jeden beliebigen Punkt der Erde hinabgelenkt werden, und drittens gebe es gegen sie keine Abwehrwaffe.

Zumindest in zwei Punkten, so kommentierten westliche Experten letzte Woche das atomare Bombenrasseln der Sowjets, habe Tass Falsches behauptet: Die russischen Global-Raketen sind weder so zielgenau noch so unverwundbar, wie die Sowjets glauben machen möchten.

Ziemlich genau ist die Vernichtungskraft zu ermessen, mit der die Sowjets ihre Satelliten-Bomben ausrüsten wollen: Jede der um die Erde kreisenden 100-Megatonnen-Bomben entspräche der Sprengkraft von 100 Millionen Tonnen herkömmlichen Sprengstoffs TNT - dem Achtzigfachen der gesamten Bombenlast, die während des Zweiten Weltkrieges über Deutschland abgeworfen wurde.

Wenn die Sowjet-Bombe in mehreren Kilometern Höhe detonierte, würden ganze Landstriche etwa vom Umfang der Niederlande in der Glut des atomaren Feuerballs verbrennen. Aber auch Millionenstädte wie New York könnten von einer einzigen Bombe dieser Größe pulverisiert werden. Daß die Raum-Bombe, wie die Sowjets behaupten, »zielsicher auf jeden Punkt der Erde« (Tass) hinabgesteuert werden könnte, trifft nicht zu: Erdumkreisende Satelliten können bislang noch nicht so präzise aus ihrer Umlaufbahn abgerufen werden, daß sie ein irdisches Ziel mit hinreichender Zuverlässigkeit träfen.

Um eine Global-Bombe ins Ziel zu steuern, bedarf es der gleichen Lande-Technik wie bei bemannten Raumflügen. Der Raumflugkörper wird durch bordeigene Bremsraketen in 'seinem Umlauf-Tempo verlangsamt und dringt dann - mit flachem Flugwinkel - in die Lufthülle der Erde ein. Würde dieser Landewinkel zu steil, so müßte die Reibungshitze der Lufthülle unzulässig groß werden: Das Raumschiff - oder auch die Raum-Bombe- würde wie ein Meteor verglühen.

Schon wenn -die Bremsraketen nur eine Sekunde zu spät gezündet werden, schießt der Satellit viele Kilometer über sein Ziel hinaus. Das russische Raumschiff »Woßchod II« verfehlte den vorgesehenen Landepunkt um fast tausend Kilometer. Auf eine Weltraum-Bombe übertragen, würde das bedeuten: Anstelle des anvisierten Ruhrgebietes könnte zum Beispiel Warschau unter dem Atompilz verglühen. Zielabweichungen in der Größenordnung von etwa 80 Kilometer halten amerikanische Experten, wie die »,New York Herald Tribune« meldete, »bei einer Raketen-Bombe für unvermeidlich«.

Der Westen stünde zudem einem sowjetischen Atomangriff aus dem Weltall nicht schutzlos gegenüber. Nach jahrelanger Vorarbeit ist jetzt die amerikanische Anti-Raketen-Rakete vom Typ »Nike-Zeus« zur Serienproduktion herangereift. Die schnell startende dreistufige Feststoff-Rakete von 15 Meter Länge ist mit einem atomaren Sprengkopf versehen und kann anfliegende Raketen abfangen, wenn sie noch 300 Kilometer entfernt sind. Sie kann ebenso gegen Interkontinental-Raketen wie gegen herabgesteuerte Bomben-Satelliten eingesetzt werden. Während der letzten zwölf Monate war »Nike -Zeus« bei allen Probeschüssen erfolgreich.

Doch auch eine Spezial-Abwehrwaffe gegen bedrohliche Satelliten im Weltall haben die Amerikaner bereits in Betrieb: Vor mehr als einem Jahr hat Präsident Johnson die Existenz dieser »Weltraum-Flak« bekanntgegeben.

Die Wirkweise der Raketen-Flak ist vergleichsweise simpel. Da etwaige Bomben-Satelliten der Sowjets nach den Gesetzen der Himmelsmechanik um die Erde kreisen würden, wäre ihre Bahn vorausberechenbar. Mit der zweistufigen Lastenrakete des Typs »Thor« würde nun im Ernstfall eine Schrotladung kleiner Stahl-Partikel oder auch Sprengladungen ins All befördert, auf eine Bahn, die der des feindlichen Satelliten gegenläufig ist. Rast dann die Weltraum-Bombe bei ihrem nächsten Umlauf mit einer Geschwindigkeit von acht Kilometern in der Sekunde heran, wird sie von der fliegenden Minensperre im Weltall zerfetzt.

So scheint der Nutzen der sowjetischen Raketen-Drohung vom vorletzten Wochenende, wie westliche Kommentatoren übereinstimmend meinen, auf zweierlei beschränkt: auf eine psychologische und eine politische Wirkung. Die neue russische Waffe, mit der die Sowjets die 1963 mit den Amerikanern getroffene Vereinbarung über den Verzicht auf atomares Sprenggut im All verletzten, vermag das atomare Gleichgewicht zwischen Ost und West nicht zu stören.

Wohl aber könnte das atomare Damoklesschwert von den Sowjets als Druckmittel benutzt werden. »Vielleicht«, so kommentierte die »New York Times«, »möchte Rußland auf diese Weise die Vereinigten Staaten zu einem Abkommen über die Nichtweitergabe von Atomwaffen bewegen.« Wenn Washington, so fährt der US-Kolumnist fort, zum Beispiel Westdeutschland aus jeder Atombeteiligung heraushielte, würden die Russen vielleicht von ihrer Drohung zurücktreten, den Himmel mit Bomben vollzuhängen.

Sowjetische Global-Raketen: Versehentlich auf Warschau?

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