»Hinhören müssen die Sowjets nicht«
Alle Wahljahre wieder erlebt eine betagte Klamotte ihre Reprise: Amerikas Präsident übernimmt die Hauptrolle in einem außenpolitischen Verwandlungsstück.
1976: Gerald Ford, seit Amtsantritt auf Entspannungskurs, sah sich in der eigenen Partei vom rechten Ronald Reagan bedroht und warf sich prompt in einen neuen Anzug - er setzte das Reizwort »Detente«, Entspannung, auf den Sprach-Index des Weißen Hauses, und fertig war das neue, konservative Kostüm.
1980: Jimmy Carter, seit Amtsantritt Befürworter der Abrüstung, fühlte sich nach dem Sowjet-Einmarsch in Afghanistan von demselben rechten Reagan bedroht, und schon war's aus mit der Rolle des friedlichen Hausvaters:
Carter sagte »nein« zu Olympia in Moskau und startete das gewaltigste Rüstungsprogramm seit Jahren; niemand sollte ihm vorwerfen können, er wäre »weich« angesichts der aggressiven Russen.
Vergessen war seine Warnung vor »unangemessener Kommunisten-Furcht«. Nun nahm er Moskau sehr ernst, sein Sicherheitsberater Brzezinski zeigte sich mit MPi an der afghanischen Grenze.
Umgekehrt 1984: Ronald Reagan, 73, Eisheiliger eines neuen Kalten Krieges, sah seine Chancen wenige Monate vor der erhofften Wiederwahl von seinem eigenen Falken-Image bedroht und schlüpfte prompt ins ungewohnte Federkleid einer Taube. Niemand sollte ihm weiterhin vorwerfen können, er habe es nicht wenigstens versucht mit den Sowjets.
Und so sprach Ronald Reagan plötzlich von einem (Vorwahl-)Gipfel mit Kreml-Chef Tschernenko; da lockte er dieselben Sowjets, die Amerikas Olympische Spiele boykottieren, mit einem neuen Kulturabkommen.
Seine Mitarbeiter ließen durchsickern, daß die Tür zu den Sowjets noch längst nicht zugeschlagen sei: Um falschen Rückschlüssen Moskaus zuvorzukommen, werde dem Kreml jede größere US-Flottenverschiebung im Golf von Persien signalisiert. Von der Lieferung der Stinger-Flugabwehrraketen an die Saudis erfuhren die Sowjets noch vor dem (zustimmungspflichtigen) US-Kongreß.
Stilistischer Höhepunkt der Avancen: Sowjetbotschafter Dobrynin durfte bei einem Diplomaten-Empfang im Weißen Haus neben dem Mann sitzen, der noch vor Jahresfrist im Kommunismus die Inkarnation des schlechthin Bösen sah.
In den ersten Reagan-Monaten mußte der russische Doyen unter den Diplomaten Washingtons auf Weisung des Weißen Hauses seinen Privilegiertenparkplatz im State Department aufgeben.
Jetzt lautete Reagans überraschende Botschaft für den Diplomaten: Amerika nehme den sowjetischen Vorschlag an, über die Rüstungskontrolle von Weltraumwaffen zu verhandeln.
Solchem Wandel mißtraut indes die andere Seite, deren Führung sich nicht einig ist: Außenminister Gromyko, 74, möchte - im Einklang mit den meisten russischen Militärs - jeglicher Abrüstungsabsprache aus dem Wege gehen, vielleicht weil in der Weltraumrüstung die UdSSR auf einem Feld noch führt: Seit über einem Jahrzehnt schon können die Sowjets »Killer«-Satelliten in eine Erdumlaufbahn bringen, welche andere Satelliten durch eine Explosion zerstören.
Weil aber Amerikas hochcomputerisierte Kriegstechnik auch im All die Sowjets zu überholen droht und weil unter den Kosten eines Wettlaufs die Moskowiter viel mehr leiden müßten als die Amerikaner, schlug schon im Juni 1983 der damalige Parteichef Andropow
ein Stopp-Abkommen vor. Nachfolger Tschernenko zog gleich nach Amtsantritt im März nach:
»Das nukleare Wettrüsten darf nicht in neue Bereiche einschließlich des Kosmos übertragen werden. Schritt für Schritt sollte auf der Grundlage des Prinzips der gleichen Sicherheit eine Reduzierung der nuklearen Rüstungen aller Arten bis hin zu ihrer völligen Beseitigung angestrebt werden.«
Reagans Regierung hielt davon erst einmal gar nichts. Der amerikanische Präsident hatte Gefallen gefunden an der Idee seiner wissenschaftlichen Berater, den Weltraum mit einer Maginot-Linie aus Laser- und Partikel-Strahl-Satelliten gegen anfliegende Sowjet-Raketen zu rüsten. So könne man auch das moralische Manko der Abschreckungsstrategie - daß Zivilisten zu Geiseln der atomaren Friedenssicherung gemacht werden - aufheben.
Außerdem würde sich der von den Sowjets vorgeschlagene Stopp der Weltraumrüstung nicht kontrollieren lassen. Das gehe doch, erwiderte Tschernenko, 72, im Juni; vorsichtig fügte er hinzu: »Vor allem mit nationalen Mitteln.« (Einem anderen Tschernenko-Vorschlag, die Abrüstung chemischer Waffen durch gegenseitige Inspektionen überprüfen zu lassen, hatte ein hoher Militär in der »Prawda« energisch widersprochen.)
Da meldeten die USA einen aufsehenerregenden technischen Erfolg: Eine experimentelle Abfangrakete schoß im Juni ein anfliegendes Projektil in 160 Kilometer Höhe im Fluge ab. »Zum ersten Mal in der Geschichte«, so der Chef des US-Weltraumkommandos, »ist es gelungen, mit einer Kugel eine andere Kugel zu treffen.«
Die Amerikaner lagen plötzlich in der Vorbereitung des Sternenkrieges vorn.
Dem um so verhandlungswilligeren Tschernenko trat ein Spitzenmilitär zur Seite, der Generalstabschef Ogarkow. Der Marschall hatte im Mai in seinem Militärorgan »Roter Stern« verkündet, was seine Kameraden völlig konsternieren mußte: Der nukleare Raketenwettlauf zwischen den Supermächten, überhaupt jedes weitere Atom-Aufrüsten werde »sinnlos«, wenn in Zukunft hochmoderne, technisch schon mögliche und auch noch ziemlich billige Waffen mit konventionellem Sprengstoff dem Verteidiger eine Überlegenheit über den Angreifer verschaffen.
Tatsache ist, daß beide Großmächte bereits heute darauf verzichtet haben, ein Mammut-Atombombenarsenal von mehreren Megatonnen zu bauen. Der Kollateral-Schaden, die »Nebenwirkung« der Superwaffe, ist zu gewaltig, um sie für den Einsatz in einem begrenzten Atomkrieg tauglich zu machen. Der konsequente nächste Schritt, auch »normale« Atomsprengköpfe - in strategisch möglichen Grenzen - abzurüsten, wird im Westen längst erwogen (SPIEGEL 42/1981).
Nato-Befehlshaber Bernard W. Rogers hält eine derartige Alternative zur atomaren Abschreckung für realistisch. Ogarkow nannte es jetzt einen »schweren Fehler«, diese Lösung zu übersehen, und zitierte Tschernenko: Die Militärs müßten sich von »Konservatismus und Unbeweglichkeit« trennen.
Am letzten Freitag im Juni wurde Tschernenkos Verständigungsidee in Sachen Weltraumwaffen in eine diplomatische Initiative gegossen: Botschafter Dobrynin übergab im Namen »der Führung«, also Tschernenkos, dem US-Außenminister George Shultz eine »Erklärung«, die dem Kollegen Gromyko mißfallen mußte: Sowjets und Amerikaner sollten sich noch vor den US-Wahlen an einen Tisch setzen und über die Ächtung sämtlicher Weltraumwaffen verhandeln - im September in Wien. »Schnelle« Antwort erbeten.
Damit die Offerte nicht als Gelegenheitsäußerung abgetan werden konnte, veröffentlichte die »Prawda« am nächsten Tag den Text, bevor die Empfänger in Washington überhaupt Zeit hatten, ihn eingehend zu studieren.
Amerikanische Sowjet-Experten erklärten sich dieses ungewöhnliche Vorgehen so: Moskau habe offenkundig eine negative amerikanische Reaktion erwartet und wollte gleich einen Propaganda-Punkt einheimsen. Wenn das stimmt, tat Reagan dem Kreml auch diesmal keinen Gefallen - er beriet sich kurz mit George Shultz und beauftragte dann, bevor er ins Wochenende ging, dessen Vize Armacost, den Staatssekretär im Pentagon Ikle und seinen Sicherheitsberater McFarlane, eine Antwort zu entwerfen.
Die Gruppe war sich im Handumdrehen einig: Washington müsse schnell, öffentlich und vor allem so antworten, daß die Verantwortung wieder bei den Sowjets landen würde. Nachdem Reagan, Shultz und Reagans Stabschef Baker III telephonisch zugestimmt hatten, trat McFarlane nur wenige Stunden nach dem Dobrynin-Besuch bei Shultz vor die Presse und erklärte, *___Washington nehme den Vorschlag zu Gesprächen im ____September an; *___man solle bei diesen Gesprächen aber nicht nur über ____Weltraumwaffen, sondern auch über die Begrenzung von ____Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen reden.
Diese Koppelung macht schon deshalb Sinn, weil die erste Begrenzung ballistischer Raketenabwehrsysteme auch Teil des Vertrags über die Kontrolle strategischer Offensivwaffen von 1972 (Salt 1) gewesen ist.
Von den sowjetisch-amerikanischen INF- und Start-Raketengesprächen hatten sich die Sowjets im vorigen Jahr zurückgezogen: aus Protest gegen die Nachrüstung in Westeuropa. Für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen stellt Außenminister Gromyko seither die Bedingung, erst einmal müßten die neun Pershing-2-Raketen und 32 Cruise Missiles aus Europa abgezogen werden.
Gromyko, konservativ und unbeweglich, wollte offenkundig keine Verhandlungen. Jetzt behauptete er schlicht und unrichtig, die Amerikaner machten ihrerseits Raketen-Gespräche zur Bedingung für Weltraumwaffen-Gespräche.
Wieder einmal hatte der Griesgram der Sowjetdiplomatie ungewogene Worte des US-Verteidigungsministers Weinberger überbewertet, der im Fernsehen geäußert hatte, es mache keinen Sinn, »einfach nur nach der sowjetischen Tagesordnung« zu verhandeln, »und nicht über die wirklich wichtigen Dinge: Das ist jetzt, diese Atomraketen zu vermindern«.
(Schon Gromyko-Kollege Haig hatte alle Hände voll zu tun, die Schäden von »Weinbergers Stammtisch-Diplomatie« zu begrenzen.)
Postwendend erklärte am vorletzten Sonntag die Sowjetagentur Tass, »daß die Antwort der amerikanischen Regierung auf die Erklärung der sowjetischen Führung völlig unbefriedigend ist«. Sie sei negativ, sogar unehrlich, »offensichtlich darauf zugeschnitten, den Weltraum in eine Arena der Stationierung von Massenvernichtungswaffen zu verwandeln«.
Der scharfe Tass-Ton, so spekulierten West-Diplomaten in Moskau, deute klar darauf hin, daß die Sowjets mit einer Ablehnung ihres Vorschlags gerechnet hätten und einfach zu unbeweglich seien, um auf eine moderate Wortwahl umzuschalten - als ob der Kreml eine positive Reaktion des Wahlkämpfers Reagan gar nicht einkalkuliert hätte. Und so kam es denn zur nächsten Kuriosität im sowjetisch-amerikanischen Dialog mit gebrochenen Stimmen:
Die eigentliche Ablehnung des Tschernenko-Vorschlags erfolgte aus Moskau selbst. Am vorigen Montag sagte Gromyko in seiner Tischrede für den angereisten britischen Außenminister Sir Geoffrey Howe: »In Wahrheit will Washington keine Gespräche, es meidet sie und häuft zu diesem Zweck Vorbedingungen auf.«
Gromyko redete auch noch von Amerikas »Allergie auf die Entspannung«, »kriminellen Methoden bis hin zum Staatsterrorismus«, »Kult des Terrorismus«. Die »Prawda« beschuldigte die US-Administration, sie strebe »nach neuen, noch gefährlicheren Stufen der Konfrontation«.
Verkehrte Welt - nun saßen die Amerikaner am längeren Hebel, und Reagan kostete das aus: Moskau vergebe sich doch nichts, so redete er dem Kreml-Botschafter bei einem Gartenfest im Weißen Haus zu, wenn man über all diese schrecklichen Waffen rede.
Vorigen Dienstag versicherte schließlich ein Sprecher des Weißen Hauses: Es sei ganz eindeutig ein »Mißverständnis«, wenn die Sowjets glaubten, Washington habe für die Gespräche in Wien Vorbedingungen stellen wollen; »wir beschäftigen uns bereits mit dem Verhandlungsort, dem Zeitplan und der Zusammensetzung unserer Delegierten«.
Natürlich wolle man auch gern über strategische und Mittelstreckenwaffen reden, aber »wenn die Sowjets nicht wollen, brauchen sie dann ja nicht hinzuhören«. Reagan-Sprachrohr Larry Speakes: »Wir werden im September da sein.«
Dobrynin wurde zur Berichterstattung nach Moskau gerufen. Zum Nationalfeiertag der USA am 4. Juli gratulierte »Seiner Exzellenz Ronald Reagan« das Präsidium des Obersten Sowjet und verhieß Zusammenarbeit. Präsident des Präsidiums ist Tschernenko.