NS-VERBRECHEN Hinten raus
Wie die meisten Mieter in großen Häusern großer Städte wissen die Parteien in der Berliner Tile-Wardenberg-Straße 28 nicht, bei wem sie eigentlich wohnen. Wie üblich hängt auch dort im Flur des grauen Altbaus lediglich der Name der Hausverwaltung aus, diesmal Wilhelm Droste & Co. vom Kurfürstendamm.
Die renommierte Firma nimmt, wie in der Branche selbstverständlich, dem Eigentümer alle Sorgen ab, vom Vertragsabschluß bis zur Kündigung, Müllabfuhr oder Dachreparatur. In einem Punkt allerdings fällt das Objekt aus dem geläufigen Rahmen: An jedem Monatsende, wenn die Mieter ihren Zins überweisen, finanzieren sie einen mutmaßlichen Massenmörder.
Denn das Haus mit 34 Wohnungen im Bezirk Tiergarten gehört seit April 1958 dem ehemaligen KZ-Arzt Dr. Aribert Heim, 64. Und der steht laut Haftbefehl des Amtsgerichts Baden-Baden unter dem dringenden Verdacht, im Konzentrationslager Mauthausen zahlreichen Häftlingen »Benzin (Petroläther) oder Chlormagnesium unmittelbar in das Herz gespritzt« und sie »bewußt dadurch getötet« zu haben. Heim wird seit nun bald 17 Jahren vergeblich gesucht.
Unmittelbar vor seiner geplanten Verhaftung in Baden-Baden konnte der ehemalige SS-Hauptsturmführer (SS-Nummer 367 744) entkommen -- offenbar zuvor gewarnt. »Wir hatten den Eindruck«, erinnern sich Beamte des Landeskriminalamtes Stuttgart, »daß er praktisch hinten raus ist, als wir vorne reinkamen.« Seither lebt das NSDAP-Mitglied Nummer 6 116 098 im Untergrund und vermutlich keineswegs schlecht -- dank seiner Mieteinkünfte.
Gezielt, wie der SS-Helfer von August bis Dezember 1941 neben Genickschußkeller und Gaskammer, zwischen Krankenbau und Krematorium andere ermordet haben soll, hat der Arzt nach Kriegsende seine Existenz abgesichert. Selbst gegenüber dem Finanzamt gibt er sich keine Blöße.
Jahr für Jahr geht dort die Steuererklärung des Mediziners ein, über den die Staatsanwaltschaft Linz ermittelte: »Weil er im Dienst Langeweile hatte« und »für persönliche Zwecke Totenköpfe besitzen wollte«, habe er »junge Häftlinge, die ein tadelloses Gebiß hatten, zu Operationen gezwungen«. Und »da er ihnen die Leber, die Gedärme, die Milz oder das Herz herausnahm«, seien sie »an diesen mutwilligen Eingriffen zugrunde« gegangen. Nach der Tötung, ergänzt der Haftbefehl, habe Heim einem Opfer auch noch »den Kopf abgenommen, ihn ausgekocht und den präparierten Schädel auf seinem Schreibtisch aufgestellt«.
Dennoch wurde der am 28. Juni 1914 im österreichischen Radkersburg geborene, zeitweise auch im KZ Buchenwald tätige Heim lediglich als gewöhnlicher SS-Truppenarzt von 1947 bis 1949 interniert. So konnte er gleich nach seiner Entlassung aus der staatlichen Sahne Jagstfeld bei Heilbronn damit beginnen, sich eine bürgerliche Legende zu spinnen.
Bereits im Juli 1949 heiratete Heim in Mannheim, zog dann mit Frau Friedl in deren elterliche Villa mit Park und bester Adresse (Maria-Viktoria-Straße 26) in Baden-Baden, bekam zwei Söhne, praktizierte bis 1962 mitten in der Stadt und galt etwas in der ortsansässigen Gesellschaft. Insgeheim aber organisierte der noch unerkannte KZ-Mediziner eine Rückendeckung, die bis heute gehalten hat.
Am 18. Februar 1958 erwarb er zum Preis von 159 238,84 Mark das Grundstück in der Berliner Tile-Wardenberg-Straße; zwei Monate danach beauftragte er Johann Eckert, den Generalbevollmächtigten der Firma Droste, mit der Verwaltung. Später schaltete er noch den Heidelberger Steuerberater Paul Barth ein und hinterlegte in Frankfurt bei den als Verteidigern in NS-Sachen bekannten Anwälten Hans Laternser und Fritz Steinacker für alle Fälle Generalvollmacht.
Und dieser Kreis betreut noch heute die wirtschaftlichen Interessen eines flüchtigen, massenmordverdächtigen Mandanten, unterstützt ihn auf diese Weise jedenfalls objektiv. Die wahrscheinlich entscheidende Starthilfe ins verborgene Leben des Dr. Heim allerdings leistete der Frankfurter Notar Dr. Walter Rebbe, bewußt oder unbewußt, jedenfalls recht unauffällig.
Am selben Tag, an dem der Haftbefehl erging, bewilligte Rebbe die Eintragung dreier Grundschulden auf dem Berliner Grundstück seines Mandanten zu dessen Gunsten. Wann und wie immer Heim an die Valuta von insgesamt 60 000 Mark gekommen sein mag -- der Betrag wird ihm als Fluchtgeld zupaß gekommen sein.
Dennoch verbittet sich der Notar nun »jegliche Unterstellung und jegliche Befragung«. Sein knapper Kommentar zur Entstehung seiner Urkundsrollen 377, 378 und 379 aus 1962: »Muß ich jedesmal fragen, wenn mir einer den Ausweis vorlegt?« Gewiß nicht, nur in Akten steht über den bei Rebbe erschienenen Dr. Heim: »Von Person bekannt.«
Das kann ohne Einschränkung nicht einmal die seit November 1967 geschiedene Frau Dr. Friedl Heim behaupten. Sie ist, wie sie sagt, auf ihren ehemaligen Mann regelrecht hereingefallen.
»Ich war nicht mal im BDM«, umschreibt die ebenfalls in Baden-Baden praktizierende Ärztin ihren Abscheu gegen nationalsozialistisches Gedankengut, erst recht gegen NS-Gewaltverbrechen. »Total überrascht« habe sie erst nach der Flucht des Ehemanns von dessen Vorgeschichte gehört, auch über das Grundstück in Berlin wisse sie »nichts im einzelnen«. Überhaupt »mit der ganzen Sache nichts zu tun« haben will Frau Heim. Und ihre bejahrte Mutter bekundet antinazistische Familientradition: »Die drei Geschwister meines Mannes sind von Hitler festgenommen worden. Wir haben so für die Juden gekämpft.«
Augenfällig näher steht dem Geflohenen da schon eine Blutsverwandte, Schwester Herta Barth aus dem Pirschweg 9 in Buchsehlag bei Frankfurt. Auch deren Ehemann Georg, der ein Ingenieurbüro unterhält, sollte das Da- und Fernsein des Schwagers nicht gleichgültig sein. Jedenfalls verbucht Herta Barth auf ihrem Konto die Mieteinnahmen, die von der Berliner Hausverwaltung für den Bruder eingehen.
Den weiteren Gang des Geldes, angeblich nur gut 2000 Mark netto monatlich, kennt die Schwester zumindest besser als die Kripo. Für die Fahnder steht lediglich fest, daß Bruder Aribert der Endverbraucher ist. Denn er versteuert Jahr für Jahr die ihm über Herta zufließenden Einkünfte. Vorbereitet wird die dafür notwendige Erklärung im Heidelberger Beraterbüro Barth. Das Unterzeichnen und Versenden ist dann in aller Regel Sache des Frankfurter Bevollmächtigten Steinacker -- seit dem Tod des Kollegen Laternser 1969.
Ohne Skrupel wirken bei diesem Geschäftsgang noch einige andere mit. So betrachtet der in der Firma Droste jetzt für die Verwaltung zuständige Prokurist Rolf Gallner sein Objekt in der Tile-Wardenberg-Straße zwar als Sonderfall. Einmal kenne er ausnahmsweise den Eigentümer nicht, zum anderen sei »vor ein paar Jahren mal die Kripo dagewesen«. Aber: »Wir haben einen Verwaltungsauftrag und sind keine moralische Anstalt.«
Mehr einfältig als diskret gibt sich Steuerberater Dr. Michael Barth. Ihm sei »völlig unbekannt, was Herr Heim tu irgendeiner Zeit irgendwann mal gemacht hat«. Vor etlichen Jahren habe er die Angelegenheit von seinem Vater übernommen und kenne »nur Andeutungen von Steinacker«. Daß da ein Haftbefehl existiere, »höre er zum erstenmal«, das »schwöre« er.
Steinacker selber dagegen macht kaum Hehl aus seinem Hintergrundfundus, weil er dessen Geheimhaltung im Interesse des Mandanten für geboten hält. Sogar die eigenen Aktivitäten findet der Anwalt straf- wie standesrechtlich unbedenklich -- obwohl er als Ehrenrichter über Kollegen, über den Stammheim-Verteidiger Hans-Heinz Heldmann beispielsweise, Standesmaßstäbe streng beachtete.
Der in NS-Verfahren geradezu allgegenwärtige Verteidiger (sowohl im Hamburger Arajs- als auch mi Düsseldorfer Majdanek- sowie im Frankfurter Fasold-Prozeß ist er tätig, und auch den nach Südamerika entsprungenen KZ-Arzt Mengele vertritt er noch) weiß offenbar, wo sein Mandant Heim sich aufhält. »Ich habe eine bestimmte Vorstellung«, räumt er gegenüber dem SPIEGEL ein, »aber ich möchte sie nicht konkretisieren.«
Diese Zurückhaltung allein darf einem Anwalt nicht vorgeworfen werden, im Gegenteil. Er ist sogar gesetzlich verpflichtet, ein ihm »anvertrautes« Berufsgeheimnis zu wahren. »Eine Pflicht, den Aufenthaltsort des Mandanten zu offenbaren«, so hielt denn auch Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel fest, »kennt das Gesetz nicht.«
Bemerkenswert ist dennoch Steinackers Mißtrauen gegenüber rechtsstaatlieber Justiz in der Bundesrepublik, wenn es um die Bewältigung eines NS-Verbrechens geht. »Jetzt kann man dem Mandanten nicht mehr raten, sich zu stellen«, argumentiert der Anwalt einerseits, weil dem sicher »kein fairer Prozeß« gemacht werde. »Vor 17 Jahren« aber sei es andererseits »noch viel schlimmer« gewesen. Damals »traute man sich noch nicht mal, den Mund aufzumachen«. Mithin sieht Steinacker seinen Mandanten sozusagen aus rechtsstaatlicher Überzeugung am liebsten im Untergrund.
Solche Einstellung macht vielleicht erklärlich -- wenn schon nicht die Höhe des vorgeblich nur »mühselig« einzutreibenden Honorars -, daß der Anwalt einen Kontakt zu seinem geflohenen Mandanten nicht scheut, der ihn selber gefährlich in die Nähe strafbarer Strafvereitelung bringt: Die Steuererklärung für 1976 war ausnahmsweise mit dem Namenszug »Heim« unterzeichnet. Anwalt Steinacker versicherte, daß die Unterschrift echt sei; im März 1977 war es Steinacker, der dem Finanzamt eine Stimme auf dem Tonband vorspielte zum Beweis dafür, daß der Steuerpflichtige noch lebe.
Hart an der Grenze des Erlaubten sind solche Praktiken sicher angesiedelt. Denn nur »soweit sich ein Rechtsanwalt bei seinem Vorgehen auf verfahrensrechtlich erlaubte Mittel beschränkt«, weiß auch Bundesjustizminister Vogel, »kann er nicht wegen Strafvereitelung belangt werden«. Und die Kehrseite dieses Prinzips kennt der Chef des Stuttgarter Landeskriminalamtes, Kuno Bux: »Unsere Fahndungsarbeit wird dadurch erheblich erschwert, daß manche Vertreter bestimmter Berufsgruppen von ihren Rechten, besser gesagt von ihren vermeintlichen Rechten, exzessiv Gebrauch machen.«
* Mit einer nach dem Krieg angelegten Friedhofsstätte.
Über 200 Leute wurden von LKA-Beamten bislang vergeblich vernommen, um den zirka 1,90 Meter großen, einst in Wien als Eishockeyspieler bekannten Lagerarzt Heim ausfindig zu machen. Hunderte von Spuren wurden verfolgt, doch weder der »ziemlich konkrete« Tip eines benachbarten Dienstes 1967 auf Ägypten noch ein Hinweis um die Jahreswende 1969/70 auf den deutschsprachigen Raum führten zum Versteck des KZ-Arztes.
Noch könnte in einer Strafverhandlung ein halbes Dutzend Tatzeugen den Mordvorwurf gegen Heim durch Aussagen untermauern. Vorsorglich wurden alle bereits 1976 richterlich vernommen -- damit die Strafverfolgung nicht vor dem Jahr 2006 verjähre und weil Heim sich womöglich als zählebiger erweisen könnte als diese Zeugen.
Sein Auskommen zumindest scheint auf längere Sicht abgesichert durch die Erträge aus seiner Liegenschaft. Zwar ist neuerdings die Berliner Finanzbehörde für Heim zuständig, weil er per 10. Juni 1976 von Amts wegen aus der Baden-Badener Maria-Viktoria-Straße 26 zwangsabgemeldet wurde. Doch Finanzsenatsdirektor Werner Heubaum sieht keine Möglichkeit, das Vermögen aus Steuergründen anzutasten: »Wenn ein Bevollmächtigter unterschreibt, können wir nichts machen.«
Immerhin wird der Vorgang ("Wir sind keine Ignoranten") gesondert und besonders gründlich bearbeitet. Falls die demnächst fällige Einkommenssteuererklärung für 1977 auch nur den geringsten Fahndungsansatz bieten sollte, will Heubaum umgehend die Kripo unterrichten.
Auf ganz ungewöhnlichem Rechtswege versucht der Berliner Innensenator, das noch mit 140 000 Mark belastete Heim-Grundstück zu konfiszieren. Die Handhabe fanden Senatsdirektor Jürgen Brinckmeier und Experten im fast vergessenen »Zweiten Gesetz zum Abschluß der Entnazifizierung« von 1955. Damals hat das Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen, »jene Hauptschuldigen gerechter Sühne zuzuführen, die es vielfach verstanden haben, sich oder ihr Vermögen dem Zugriff zu entziehen«. In einem »besonderen« Verwaltungsgerichtsverfahren kann zu diesem Zweck der Innensenator gegen ehemalige NS-Größen in eigener Kompetenz vorgehen.
Sogenannte Spruchkammern dürfen immer noch Sühnemaßnahmen beispielweise gegen jeden verhängen, der sich »in führender oder besonders verantwortlicher Stelle aktiv im Sinne des Nationalsozialismus betätigt« hat. Und zuständig sind Gerichte dieser Art unter anderem für alle nazistischen Extremisten, deren »Vermögen oder Nachlaß sich ganz oder teilweise im Lande Berlin befindet«. Als »Sühnemaßnahme« kann außer der Aberkennung eines Pensionsanspruchs etwa oder dem Verbot, als Lehrer oder Redakteur zu arbeiten, auch eine »Geldstrafe von unbegrenzter Höhe« verhängt werden -- eine Sanktion, die Heims Haus praktisch unter den Hammer brächte.
Allerdings wäre auch damit allenfalls die finanzielle Basis des mutmaßlichen Mörders ausgehöhlt. Und wegen dieser mäßigen Erfolgsaussicht zögern die baden-württembergischen Ermittler, der Berliner Behörde die Akten zu überstellen. Sie befürchten, daß schon in einem Spruchkammerverfahren Beweismittel für Heims strafrechtliche Aburteilung entkräftet werden könnten. Würden beispielsweise Zeugen vorzeitig durch einen Verteidiger vom Schlage Steinacker bedrängt, wären sie in einem Strafverfahren gegen einen doch noch dingfest gemachten Heim womöglich nur die Hälfte wert.
Zu umgehen ist dieses Risiko allenfalls durch überlegte Prozeßleitung. Die Spruchkammer könnte »das persönliche Erscheinen« des Angeschuldigten anordnen. Bliebe Heim, wie zu erwarten, der Verhandlung fern, wäre »Zwangsgeld« fällig. Auch das könnte ins Grundvermögen vollstreckt werden.
Doch nur weil Wissende schweigen und andere wohl gar nicht wissen, was sie tun, bedarf es solcher juristischer Finessen, um Gerechtigkeit herzustellen -- eine wahrlich bescheidene, gemessen an den Verbrechen, an denen der Arzt Heim nach den Berichten von Augenzeugen mitgewirkt haben soll.
Rund 120 000 Häftlinge wurden im Lager Mauthausen umgebracht; ein allem Anschein nach beteiligter Mörder aber kann unbehelligt seine Mieteinnahmen aufzehren -- weil ihm Hausverwalter, Steuerberater wie Rechtsanwalt gegen Honorar zur Verfügung stehen.