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ELYSÉE-VERTRAG Hinter drei Türen

aus DER SPIEGEL 39/1964

Zu Ehren der Gäste hißten die AA -Pförtner die blaue Europa-Flagge. Fünf Minuten später, am Dienstag letzter Woche, vormittags um halb elf Uhr, winkte der Bundesgrenzschutzposten am Tor des Auswärtigen Amtes in der Bonner Wörthstraße - eine schwarze Panhard-Limousine ein.

Dem Wagen, der kein Diplomatenkennzeichen trug, entstiegen zwei Franzosen: Charles Lucet, Direktor der Politischen Abteilung im Pariser Außenamt, und Francois Puaux, Chef der europäischen Sektion am Quai d'Orsay.

De Gaulles Diplomaten wurden vor dem Ministerbau des AA von dem stellvertretenden Leiter der Ersten Politischen Abteilung des Amtes, Ministerialdirigent Dr. Hans Voigt, empfangen.

Ministerialdirigent Voigt führte den Direktor Lucet sofort zum Dienstzimmer von Staatssekretär Karl Carstens. Erstmals seit Präsident Charles de Gaulles mißglückter Bonn-Visite von Anfang Juli und seinen antideutschen Ausfällen auf der Pressekonferenz drei Wochen später, war damit wieder ein Dialog zwischen Bonn und Paris im Gange. Plattform: die im Elysée-Vertrag - neben den Treffen der Außenminister und Regierungschefs - vereinbarten monatlichen Konsultationen, die normalerweise zwischen den zuständigen Direktoren von AA und Quai d'Orsay geführt werden.

Wegen der Ungunst der Verhältnisse hatten sich diesmal in Bonn höhere Chargen eingeschaltet. Nach knapp einstündigem Rendezvous mit Carstens ging der Franzose Lucet drei Türen weiter zum zweiten AA-Staatssekretär Rolf Lahr. Nach Tisch - Carstens speiste mit den Pariser Beamten in Godesbergs renommiertem »Hotel zum Adler« - empfing auch der Minister den Gast aus Paris.

Die Herren tauschten Höflichkeiten aus. Beide beteuerten, alles sei halb so schlimm. Man werde die Schatten zu bannen wissen, die sich zwischen Bonn und Paris geworfen haben.

Dann zogen Staatssekretäre und Direktoren fünf Stunden lang bis in den Dienstagabend hinein in einem Frage- und Antwortspiel die magere Bilanz der deutsch-französischen Zusammenarbeit:

- Die Franzosen fragten nach dem

Stand der Bonner Europa-Vorschläge, die Kanzler Erhard im Juli in Aussicht gestellt hatte. Antwort: Die Pläne seien noch nicht spruchreif. Auch müßte jetzt noch die neue Europa-Initiative des Belgiers Spaak berücksichtigt werden*.

- Die Deutschen fragten, wann Paris die abschließende Fusion der drei europäischen Gemeinschaften (EWG, Montanunion und Euratom) billigen werde. Antwort: Zunächst müsse geklärt werden, ob der EWG-Ministerrat vertragsgerecht am 1. Januar 1966 vom Einstimmigkeitsprinzip zu Mehrheitsentscheidungen übergehe oder ob von den EWG-Partnern ein Aufschub gewährt werde.

- Die Franzosen fragten, wann mit der Komplettierung des EWG-Agrarmarktes gerechnet werden könne, die von Bonn verzögert werde. Antwort: Diese Angelegenheit wünsche die Bundesregierung innerhalb der EWG-Gremien weiter zu beraten.

- Die Deutschen fragten, ob Paris

damit einverstanden sei, bei Umzug der Montanunions-Behörden von Luxemburg nach Brüssel statt dessen das EWG-Parlament in Luxemburg zu etablieren. Antwort: Frankreich beharrt darauf, das Parlament in Straßburg zu behalten.

- Die Franzosen fragten, wie Bonn sich seine künftige Chinapolitik vorstelle. Antwort: Präsident Johnson sei versprochen worden, daß die Bundesregierung vor den amerikanischen Wahlen keinerlei Kontakte zu Peking aufnehmen werde; danach könne man weitersehen.

- Die Deutschen fragten nach dem politischen Konzept für de Gaulles Südamerika-Reise. Antwort: Paris hoffe auf starke deutsche Unterstützung bei der Entwicklungshilfe für Südamerika.

- Die Franzosen fragten, ob Bonn immer noch die US-Politik in Vietnam unterstützen wolle. Antwort: Bonn fühle sich verpflichtet, der Schutzmacht Amerika solidarisch zur Seite zu stehen, und betrachte die Neutralisierung geteilter Länder

- wie de Gaulle sie für Vietnam empfohlen hatte - weder in Europa noch in Asien als geeignetes Rezept.

- Die Deutschen fragten, welche Politik Präsident de Gaulle in Osteuropa zu verfolgen gedenke. Antwort: Frankreich bemühe sich mit allen Mitteln, seine traditionellen Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten neu zu beleben und so die Auflockerung des kommunistischen Ostblocks zu begünstigen.

An dieser Stelle erreichte die deutschfranzösische Konsultation der vorigen Woche ihren kritischen Punkt. Zwar will auch Bonn seine Beziehungen zu Osteuropa weiter verbessern, aber es ist nicht gesonnen, dafür den politischen Preis zu zahlen, den de Gaulle den kommunistischen Regierungen jenseits der Elbe in Aussicht gestellt hat: die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und eine Lockerung der Bestimmungen für den Osthandel.

Ausgangspunkt der deutsch-französischen Differenzen bleibt nach wie vor der Unwille de Gaulles darüber, daß Ludwig Erhard und Gerhard Schröder nicht bereit sind, der Idee eines von Frankreich geführten und von Amerika gelösten Europas zu folgen, und daß die Deutschen es ablehnten, die Entwicklung der französischen Atombombe indirekt durch eine massive deutsche Beteiligung an konventionellen Rüstungs-Projekten Frankreichs mitzufinanzieren.

Die erste Quittung gab Charles de Gaulle schon am 23. Juli auf einer Pressekonferenz. Er zählte Punkt für Punkt auf, über welche wesentlichen Fragen der Elysée-Vertrag noch zu keiner gemeinsamen Politik Frankreichs und der Bundesrepublik geführt habe, nämlich über

- das Verteidigungskonzept,

- die Zukunft der EWG,

- die Nato-Reform,

- die Anerkennung Chinas,

- die Indochina-Politik.

Diese Liste verärgerte Bonn schon deshalb, weil die Franzosen über die letzten drei Punkte noch gar keine Konsultationen gepflogen hatten.

Schockiert waren die Deutschen aber, weil de Gaulle noch hinzugefügt hatte, daß auch über »die Probleme der Grenzen und der Nationalitäten in Mittel - und Osteuropa« keine Einigkeit bestehe.

Alsbald nach der Pressekonferenz ließ das Bonner AA den Gesandten Karl-Hermann Knoke, Urlaubsvertreter des deutschen Paris-Botschafters Manfred Klaiber, bei Staatsminister Louis Livius Joxe vorsprechen und um Erläuterungen der De-Gaulle-Äußerungen bitten.

Knoke überreichte ein Aide-memoire, dessen wichtigste Frage lautete: Was hat der Präsident mit der Bemerkung über die »Grenzen und Nationalitäten« gemeint?

Die Franzosen antworteten prompt: Gemeint sei die Oder-Neiße-Linie und der von Bundesverkehrsminister Seebohm im Frühjahr neu heraufbeschworene Streit um das Münchner Abkommen betreffend die sudetendeutschen Gebiete.

Weiter: Daß de Gaulle für eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie eintrete, sei der Bundesregierung seit einer entsprechenden Erklärung des Präsidenten vom März 1959 bekannt. Lediglich aus Rücksicht auf Bonn verwende Paris in der Öffentlichkeit noch immer die alte Formel, die Grenzfragen könnten erst in einem Friedensvertrag endgültig geregelt werden.

Alle Versuche Bonns, die Diskussion mit Paris über die Grenzfragen wieder zu eröffnen, sind bisher gescheitert. Zweimal bemühte sich Botschafter Klaiber nach Rückkehr aus dem Urlaub um einen Termin im Elysée-Palast. Beide Male lehnte de Gaulle unter Vorwänden ab.

Als Kanzler Erhard und Staatssekretär Lahr Klaibers Wunsch nach einer Aussprache über das Grenzproblem dem französischen Botschafter in Bonn, de Margerie, vortrugen, schüttelte der Botschafter den Kopf. »Da gibt es nichts mehr zu erläutern.«

Am Dienstag letzter Woche schnitt Staatssekretär Carstens im Bonner Außenamt das Thema bei Lucet an. Lucet knapp: »Ich habe dazu keine weiteren Informationen.«

* Spaak hatte vorgeschlagen, ein Dreiergremiumaus aus den sechs EWG-Ländern zu bilden, das als Kernzelle einer künftigen politischen Einigung Europas zunächst für drei Jahre Koordinierungsaufgaben übernehmen soll.

AA-Staatssekretär Carstens

Zur Oder-Neiße-Grenze ...

Quai-d'Orsay-Emissär Lucet

... gibt es »nichts mehr zu erläutern«

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