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FORESTIER Hinter einer frischen Leiche

aus DER SPIEGEL 41/1955

Was hat sich eigentlich geändert«, fragte Friedrich Sieburg in der letzten Ausgabe der »Gegenwart«, »seitdem man weiß, daß es den Dichter George Forestier gar nicht gibt? Seine Gedichte existieren doch und sind durch nichts aus der Welt zu schaffen.«

Geändert hatte sich immerhin insofern etwas, als sich damit der erfolgreichste junge deutsche Lyriker in ein Nichts auflöste. Geändert hatte sich auch dadurch etwas, daß dieser nicht existierende Dichter Forestier nun nicht mehr den ruhmlosen Fremdenlegionärstod in Indochina gestorben sein konnte, den ihm seine Biographen angedichtet hatten.

Der Düsseldorfer Eugen Diederichs Verlag, der die beiden ersten Gedichtbände George Forestiers*) herausgegeben hatte, mußte Anfang Juni in einem Rundschreiben bekennen, daß der Autor dieser Verse am Leben sei. »Der Ruhm einer solchen Leistung«, teilte der Verlag sicherheitshalber mit, »ist nicht an das Zufällige des Persönlichen gebunden. Er bleibt auch dann bestehen, wenn sich nun - zu unserer eigenen Überraschung - herausgestellt hat, daß der Name Forestier nur das Symbol für das Werk eines Ungenannten ist ...«

Am 2. März 1952 hatte ein Dr. Karl Friedrich Leucht aus Aschaffenburg, Bundeschorleiter

*) George Forestier: »Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße«; 48 Seiten; 3,80 Mark. »Stark wie der Tod ist die Nacht ist die Liebe«; 60 Seiten; 3,80 Mark. des Maintalsängerbundes, dem Inhaber des Diederichs Verlages, Dr. Peter Diederichs, die ersten Forestier-Gedichte zugeschickt. Er schrieb: »Auf Anraten von Herrn Dr. Gottfried Benn, dem ich die beiliegenden Gedichte meines jungen elsässischen Freundes George Forestier schickte, erlaube ich mir, Ihnen das gleiche Manuskript mit der Bitte um gelegentliche Lektüre vorzulegen ... Zur Person des Verfassers möchte ich Ihnen noch sagen: George Forestier wurde am 13. Januar 1921 in Roufach (Elsaß) geboren, studierte in Straßburg und Paris und nahm als SS-Freiwilliger am Ostfeldzug teil. Nach seiner Verurteilung als Kollaborateur hielt er sich einige Zeit unter fremdem Namen in Marseille auf, um dann als Freiwilliger nach Indochina zu gehen. Seit den Kämpfen um den Song-Woi im November vergangenen Jahres ist er vermißt. Die vorliegenden Gedichte sind seinen Briefen entnommen, die er im Laufe der Jahre an mich gerichtet hat. Die Gedichte sind deutsch geschrieben. Forestiers Mutter war Deutsche, die etwas eigenwillige Interpunktion erfolgte nach der Handschrift ...«

Am 21. März 1952 antwortete der Verleger Diederichs dem Dr. Leucht, auch er fände die Verse »in der Tat ungewöhnlich«, und es sei da in Indochina »zweifellos ein sehr großes Talent dahingegangen«. Der Verleger fragte bei dieser Gelegenheit, ob von Forestier nicht vielleicht noch mehr erhalten geblieben sei.

»Ein nahezu unwahrscheinlicher, aber um so glücklicherer Zufall«, antwortete ihm am 6. April 1952 Leucht, gebe ihm die Möglichkeit, noch weitere achtzehn Gedichte zu liefern. Die Frau eines französischen Kameraden Forestiers habe sie ihm geschickt. Leider habe dieser Legionär keine Gewißheit bringen können, ob Forestier etwa nur in Gefangenschaft geraten sei. Die Einheit habe von dem ganzen Vorposten, dem Forestier angehörte, nichts mehr gehört. Auch von dem Romanmanuskript, an dem Forestier angeblich gearbeitet habe, fehle jede Spur. Bei dieser Gelegenheit wolle er, Leucht, fragen, ob der Diederichs Verlag bereit sei, »das gesamte Manuskript ... zu übernehmen.«

Der Diederichs Verlag übernahm es. Ein Versuch, den prominenten deutschen Dichter Gottfried Benn zu bewegen, ein Vorwort zu schreiben, mißlang allerdings. Gottfried Benn entschied: »Ich finde nirgends Spuren davon, daß George Forestier, wie Sie meinen, mein Jünger ist ...«

Die erste Auflage der Forestierschen Gedichte erschien im September 1952 unter dem Titel »Ich schreibe mein Herz in den Staub der Straße«. Das Herz im Straßenstaub wurde ein ansehnlicher Erfolg. Im Nachwort gab der Herausgeber, Dr. Leucht, dem Lesepublikum einige Hinweise auf die Person des Autors. Sie stimmten im wesentlichen mit dem überein, was Leucht schon dem Dr. Peter Diederichs geschrieben hatte.

Die Andacht jenes Publikums, das überhaupt Interesse an Gedichten hat, wurde allerdings mit einigen weiteren Bemerkungen nicht ungeschickt provoziert: »Seine (Forestiers) Gedichte finden sich zwischen Gedichtblättern Gottfried Benns in einer schmutzigen Kladde, die er einem Kameraden übergibt, bevor seine Truppe im Herbst 1951 erneut in Marsch gesetzt wird. Seit diesem Zeitpunkt fehlt von ihm und seiner Vorpostengruppe jede Spur. George Forestier schrieb seine Gedichte ohne Hoffnung, sie eines Tages veröffentlicht zu sehen. Er maß seinem erzählerischen Werk, das als verloren gelten muß, größere Bedeutung bei ...«

Ohne Arg und ohne Hoffnung, dieses erzählerische Werk je zu Gesicht zu bekommen, begnügte sich das Publikum mit den wenigen Versen. Während es sonst zuweilen schwer hält, von einem Gedichtband auch nur ein paar hundert Exemplare abzusetzen, mußte der Diederichs Verlag von Forestiers erstem Band eine Auflage nach der anderen drucken. Es erschienen:

▷ die 1. Auflage September 1952

▷ die 2. Auflage November 1952

▷ die 3. Auflage Februar 1953

▷ die 4. Auflage August 1953

▷ die 5. Auflage Januar 1954

▷ die 6. Auflage August 1954

▷ die 7. Auflage März 1955.

Bis heute hat der Diederichs Verlag das Buch in einer für deutsche Nachkriegslyrik wohl einzigartigen Höhe von über 18 000 Exemplaren verkauft.

So lebhaft das Publikum diese Verse kaufte, so wohlwollend, ja begeistert urteilte - zum überwiegenden Teil - die Kritik. Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die bereits vor der Veröffentlichung des Buches das Nachwort Leuchts und einige Gedichte abgedruckt hatte, fand in diesen Versen den »Beweis, daß dies im Chaos gezeugte, im Chaos großgewordene Geschlecht wunderbarerweise doch nicht zu den verlorenen Generationen gehört«. Durch alle »Stationen des Kreuzweges« dieser Generation »lebte und dichtete George Forestier die unruhvolle Genialität des Abendlandes«. Das »Heidelberger Tageblatt« konstatierte: »Forestier steht in Schicksal und Gedicht für das Europa unserer Tage«, und der Kritiker der Frankfurter »Abendpost« meinte, Forestier habe alles getan, »was ein Mensch von heute für die Lyrik tun kann«.

Karl Schwedhelm, selbst Lyriker, malte sich und seinen Lesern in der »Deutschen Rundschau« ausführlich die Atmosphäre, in der dieser Repräsentant des Nachkriegs-Europas gelebt haben mochte: »In jenem Herbst 1951, als ihn der Dschungel verschlang, war er gerade dreißig Jahre alt, seit drei Jahren bei der Legion. Die Haut des Gesichts gegerbt von der Sonne und dem feinen Sandschliff in den marokkanischen Garnisonen. Die Gestalt sehnig und mittelgroß vielleicht, wahrscheinlich dunkelhaarig. Möglich, daß sein Photo irgendwo in Lyon oder Marseille in der Handtasche oder im Schubfach einer jungen Frau noch ein paar Jahre weiterleben wird ...

»Schwer war es, zwischen den kartenspielenden Kameraden an der Ecke des Tisches einen Platz für sich zu erobern. Die Hände, die einen Brief schreiben wollten, und das Papier waren sogleich von Schwärmen von Fliegen übersät. Doch dann war die trostlose Umwelt vergessen, und plötzlich standen ein paar Verszeilen auf dem Blatt ...«

Was den Erfolg dieser paar Verszeilen beim deutschen Publikum ausgemacht hat, ist heute mit Sicherheit kaum zu bestimmen. Die Gedichte, geschickt und flüssig geschrieben, handeln von vielen Gegenden der Welt, die der Kriegsfreiwillige und spätere Fremdenlegionär Forestier gesehen hat. Es ist auch ausreichend von Dirnen und Liebe die Rede, und der Mann, der sein Herz »in den Staub der Straße vom Ural bis zur Sierra Nevada« schrieb, bekennt sich am Ende zu Europa:

»Europa stirbt nicht. Es kann nicht sterben, solang' du es liebst.«

Ob es nun wirklich die Verse waren, auf die sich der Erfolg gründete, oder ob nicht auch die Forestier-Legende ihren Teil daran hatte oder ob es am Ende nicht überhaupt nur die Legende war - sicher ist, daß diese Legende kaum maßgerechter für den Geschmack der Gedichtband-Käufer zu ersinnen gewesen war.

Der junge Elsässer, der sich für den Gedanken eines einigen Europas begeistert, einem tristen Elternhaus entflieht, sich freiwillig zur Waffen-SS meldet und dort schnell vom hitlerischen Krieg enttäuscht wird, ein verbitterter junger Mann, der 1945 beim Zusammenbruch von den Franzosen zum Tode verurteilt wird, sich zur Fremdenlegion meldet, um sein Leben zu retten, und obendrein ein Dichter ist - ein besseres Symbol war für die deutsche Nachkriegsjugend nicht zu wünschen. Sie konnte in Forestier ihre eigene Begeisterung und ihre eigene Enttäuschung wiederfinden. Sie konnte sich, mit Forestier, aus ihrem Dilemma in die Europa-Begeisterung retten, und sie konnte sich obendrein an dem romantisch-melancholischen Dasein des Poeten Forestier erwärmen.

Die heftige Abneigung der Deutschen gegen die Fremdenlegion wurde zugleich benutzt und geschürt. Daß sich Forestier »freiwillig« zur Legion gemeldet hatte, war vom Herausgeber in bittere Anführungszeichen gesetzt worden. Nun hatte diese Fremdenlegion obendrein den hoffnungsvollsten deutschen Lyriker auf dem Gewissen.

Indes, ganz so spärlich waren die lyrischen Signale nicht geblieben, die Forestier hinterließ, ehe er in den feuchten Dschungeln unterging. Immer neue, immer weniger wahrscheinliche Zufälle machten es möglich, daß der Diederichs Verlag bereits im Februar 1954 einen zweiten Gedichtband von George Forestier auf den Markt bringen konnte.

Diesmal klang das Lob der Kritik freilich schon leiser, ein Lob blieb es aber im allgemeinen doch. Der Lyriker Heinz Piontek, der diesen zweiten Band - »Stark wie der Tod ist die Nacht ist die Liebe« - für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« besprach, fand allerdings heraus, daß Forestier keinesfalls ein Benn-Schüler sein könne, sondern »daß kein anderer als Garcia Lorca dem jungen Dichter in die Bügel half«. Pionteks Vorstellung vom Leben seines berühmteren Kollegen Forestier klingt fast ein wenig neidisch: »Er sitzt mit untergeschlagenen Beinen an Lagerfeuern im Dschungel Indochinas und vor den Hütten der weizenfarbenen Ukraine, singt in schäbigen Hafenbordells und in verwanzten Kasernen.« Das ist zweifellos ein Schicksal ganz anderer Art, als es jungen deutschen Lyrikern sonst beschieden ist.

Trotz des zurückhaltenderen Tones der Kritik - der Lyriker Hans Egon Holthusen entdeckte nur noch »einige echte Goldkörner« zwischen »massenhaft nichtssagendem Sprachgeröll« - mußte auch dieser zweite Band, der ebenfalls von Dr. Leucht herausgegeben wurde, schon nach zwei Monaten neu aufgelegt werden. Bis heute sind etwa 6000 Exemplare verkauft worden.

Aber noch immer kamen neue Hinterlassenschaften Forestiers zum Vorschein. Im Sommer dieses Jahres brachte der bis dahin ziemlich unbekannte Georg Büchner Verlag, Darmstadt, als »eine letzte, von seinen Freunden oft geforderte Ergänzung zu den beiden vorliegenden Lyrikbänden des Dichters« einen Band mit Briefen, Versen und Tagebuchnotizen heraus, die Forestier angeblich zwischen 1940 und 1943 geschrieben hatte*).

Der Eindruck der Echtheit dieser Texte, die wiederum von Dr. Leucht herausgegeben wurden, war noch dadurch verstärkt worden, daß einige Wörter als »unleserlich« ausgespart blieben und auf dem Einband des Buches obendrein das Gedicht »Reims« (aus dem zweiten Gedichtband) im Faksimile wiedergegeben wurde, mit allen Streichungen und Verbesserungen eines Skizzenblattes, besiegelt mit den Anfangsbuchstaben des Autors. Was die Käufer nicht wissen konnten, war, daß dieses mit Korrekturen übersäte Faksimile samt Unterschrift von dem Darmstädter Graphiker Walter Geppel entworfen worden war.

Der Inhalt dieses Briefbandes hätte nun allerdings eine kritischere Gemeinde schon stutzig machen können. Was dieser Forestier

*) George Forestier: »Briefe an eine Unbekannte«; Georg Büchner Verlag, Darmstadt; 96 Seiten; 5,80 Mark. der Feldpost anvertraut hatte, dürfte jeden anderen unweigerlich vor ein Kriegsgericht gebracht haben. Er zieht nicht nur über die Offiziere, über die Nationalsozialisten und über den Krieg im allgemeinen in einer höchst drastischen und unverhohlenen Weise her, er teilt auch stets genauestens mit, an welcher Stelle der Front er sich befindet - was generell verboten war. Forestier schreibt bereits im Juni 1941 seiner Freundin, an welchem Tage der Rußlandfeldzug beginnen werde, er legt aber auch diesem Brief bereits das Gedicht »Karussell des Todes« bei, in dem von erhängten ukrainischen Partisanen die Rede ist. Mit ukrainischen Partisanen kann aber die Wehrmacht vor Beginn des Ostfeldzuges unmöglich schon in Konflikt geraten sein.

Immerhin hatte die Forestier-Gemeinde nun schon aus drei Büchern ungefähr einen Eindruck von der Person, den Fähigkeiten und der Biographie dieses Dichters gewonnen. Es liegt aber im Zug der Zeit, und es lag durchaus auch im Wesen der Forestier-Legende, daß dieses Interesse an der Person des Autors und an seinen abenteuerlichen Schicksalen mit jedem neuen Buch nur zunehmen konnte. Es erwies sich als höchst wünschenswert, für das Publikum wenigstens ein Bild des George Forestier aufzutreiben.

Auch das sollte gelingen. In der ersten Ausgabe der Verlagszeitschrift »Der Diederichs Löwe«, die der Düsseldorfer Verlag 1952 nach jahrelanger Pause »für die Freunde des Diederichs Verlages« wieder ins Leben gerufen hatte, wurde das Photo einer Forestier-Büste abgedruckt. Sie zeigte den schmalen, gereckten Kopf eines gutaussehenden Jünglings, der - zugleich seherisch und klaglos - mit stolz geschlossenem Mund geradeaus blickt.

Der Mann, der dieses Photo für die Verlagszeitschrift zurechtmachte, dürfte mit einiger Heiterkeit am Werk gewesen sein. Die Büste auf dem Photo stellte nämlich niemand anderen dar als ihn selber. Nur war sie dem Bildhauer Erich Sperling, der sie im Jahre 1939 hergestellt hatte, mißlungen und deshalb nicht vollendet worden. Die Gipsbüste hatte sich beim Brennen ganz gegen den Plan in die Länge gezogen und einen schönen, schmalen und idealischen Dichterkopf ergeben, der mit den Gesichtszügen des rundköpfigen Modells nur noch eine sehr bedingte Ähnlichkeit hatte.

Daß aber der Herstellungsleiter des Diederichs Verlages, Dr. Karl Emerich Krämer, das mißlungene Gipsabbild seines eigenen Kopfes als Forestier-Büste deklarierte, war insofern kein Betrug, als er, Krämer, auch sämtliche Forestier-Gedichte, Briefe, Tagebuchnotizen und sogar die Forestier-Biographie selber geschrieben hatte.

Krämer wurde am 31. Januar 1918 in Düsseldorf als Sohn eines Ingenieurs geboren. Das unfreundliche Elternhaus, das er Forestier angedichtet hatte, war sein eigenes: Mit zwölf und mit sechzehn Jahren unternahm er vergebliche Versuche, von zu Hause auszureißen. Daß er bereits 1932 in die Hitler-Jugend eintrat, brachte ihm später das HJ-Ehrenzeichen ein. 1934/35 volontierte er bei der »Kölnischen Zeitung«, später bei der »Rheinischen Landeszeitung«. Im Jahre 1937 holte er als Externer sein Abitur nach.

Anschließend studierte Krämer in Bonn und Frankfurt am Main Germanistik und Staatswissenschaften. 1939 wurde Krämer zu einem Artillerieregiment einberufen und brachte es zum Hauptmann und Abteilungskommandeur. Nach einer schweren Verwundung im Jahre 1943 wurde er zunächst zum Generalkommando in Nürnberg, von dort 1944 nach Würzburg abkommandiert und in Würzburg für die Parteiarbeit abgestellt: Die Hitler-Jugend ernannte ihn zum Oberbannführer.

In dieser Stellung gelang es ihm, für seinen alten Freund, den Dr. Leucht, etwas zu tun, der damals irgendwo als Unteroffizier Dienst schob. Krämer machte Leucht zu seinem Stellvertreter und HJ-Kulturamtsleiter in Würzburg. Bereits während des Krieges hatte Krämer einige literarische Erfolge verbuchen können. Die Reichsschrifttumskammer erkannte ihm mehrere Preise zu, für sein Batterie-Tagebuch erhielt er einen Preis des Oberkommandos der Wehrmacht. Dreimal hintereinander gewann der Kriegsschriftsteller Krämer einen von der Jugendzeitschrift »Hilf mit« gestifteten Preis.

Ende 1944 wurde Krämer als Sonderbeauftragter ins Oberkommando der Wehrmacht kommandiert. Bei Kriegsende geriet er in das Internierungslager Hersbruck, aus dem er - mit einem von der Lagerspruchkammer verhängten Schreibverbot - Mitte 1946 wieder entlassen wurde. In Hersbruck hatte er sich mit einem SS-Mann namens Förster angefreundet, der später von den Amerikanern an die Franzosen ausgeliefert und von den Franzosen in die Fremdenlegion gesteckt wurde. Dieser elsässische SS-Mann Förster ist dann in Indochina verschollen. Seinen Namen und sein Schicksal benutzte Krämer später für die Forestier-Legende - er übersetzte einfach das Wort Förster ins Französische ("Forestier").

Trotz des Schreibverbots veröffentlichte Krämer bald einige dünne Bücher. Er schrieb unter seinem Namen - für verschiedene Verlage - einen Gedichtband »Mit beiden Händen«, den er seinem Freunde Dr. Leucht widmete, einen Band Märchen »Die Rosenstadt«, einen Band Weihnachtsgedichte unter dem Titel »Wenn er schneit ...« und sieben theaterstückähnliche »Spiele« - ohne daß einer dieser Veröffentlichungen ein nennenswerter Erfolg beschieden war.

Im Jahre 1950 ging Dr. Karl Emerich Krämer als Herstellungsleiter zum Düsseldorfer Eugen Diederichs Verlag und war auf diesem Posten für die technische Seite der Verlagsproduktion zuständig. Er wurde aber bald in das Lektorengremium aufgenommen, dem auch der Verlagsinhaber, Dr. Peter Diederichs, und dessen Frau, Dr. Ursula Diederichs, angehörten. Für den Diederichs Verlag gab Krämer - im Auftrage des nordrhein-westfälischen Sozialministeriums - die Buchreihe »Deutscher Osten« heraus.

Einige Zeit später plante der Diederichs Verlag, durch die Publikation von »Lyrikbogen«, gehefteten Gedichtbändchen, »das deutsche Publikum ... aus seiner Lethargie gegenüber der heutigen Lyrik aufzurütteln ...«. Der Verlag bekennt heute: »Der Erfolg dieser Bemühungen war gleich null.«

Das war für Dr. Krämer das Signal, diesem Propagandaunternehmen für Lyrik, das er dem Verlag empfohlen hatte, auf seine Weise auf die Beine zu helfen. Er suchte einige alte Gedichte, die er während des Krieges geschrieben, aber nicht veröffentlicht hatte, wieder heraus. »Gleichzeitig kam mir«, berichtet er, »die deutsche Ausgabe von Lorca in die Hände. Lorca hat mich ... dazu animiert, meine alten Gedichte zu überarbeiten. Da ich selbst im Diederichs Verlag arbeitete, konnte ich die Gedichte nicht persönlich einreichen, so trat Leucht als Vermittler in Funktion.«

Frau Dr. Diederichs erinnert sich heute: »Ich wunderte mich damals, daß Krämer bei der Beurteilung der Gedichte so zurückhaltend war. Sonst hielt er mit seinem Urteil nicht zurück.« In jedem Fall ist aber auch der Diederichs Verlag der Ansicht: »Forestier hat für die junge deutsche Lyrik eine Schlacht gewonnen.« Was mit allen Lyrikbogen mißlang, schaffte Forestiers Band auf Anhieb. Das Eis war gebrochen. Die Leute fingen wieder an, Gedichte zu kaufen: Forestiers Gedichte.

Fast ein Jahr lang ahnte Peter Diederichs nicht, daß er Schulter an Schulter mit einem seiner berühmtesten Autoren arbeitete. Erst 1953 schöpfte der Verleger Verdacht. Er berichtet: »Als Herr Dr. Leucht bei unserem ersten persönlichen Zusammentreffen in Düsseldorf Mitte 1953 offen zugab, daß Herr Dr. Krämer der Verfasser der Forestier-Gedichte sei, stand ich vor der schwerwiegenden Frage, ob sowohl der bereits erschienene erste Band wie der in Vorbereitung befindliche zweite Band zurückgezogen werden sollten. Dafür sprach die Tatsache, daß der biographische Hintergrund in einer Weise, die ich Herrn Dr. Leucht gegenüber als überaus leichtsinnig bezeichnete, fingiert worden war; dagegen sprach, daß es sich nach meiner Überzeugung um eine zwar noch nicht ganz ausgereifte, jedoch ungewöhnlich begabte Versdichtung handelte, deren rein dichterischer Wert mir von Kritikern bestätigt worden war, deren absolut unbestechliches Urteil mir bekannt war.

»Ich entschloß mich dafür, Forestier als Lyriker weiterhin eine Chance zu geben und auch den zweiten Band dem Urteil der Kritiker zu stellen. Der Autor erklärte mir ausdrücklich, das Pseudonym hinfort nicht mehr zu verwenden.«

Krämer bestreitet nun energisch, daß er ein solches Versprechen jemals gegeben habe. Er sagt: »Als Diederichs Verdacht, ich sei Forestier, von Dr. Leucht bestätigt wurde, war Diederichs enttäuscht. Er warf mir mangelndes Vertrauen vor. Ich bot meinen Austritt aus dem Verlag an. Schließlich einigten wir uns auf weitere Zusammenarbeit.« Dennoch wechselte Krämer noch 1953 die Stellung und wurde Prokurist im Karl Rauch Verlag, Düsseldorf.

Als Krämer Anfang 1955 gesprächsweise dem Dr. Diederichs einen dritten Forestier-Band ("Briefe an eine Unbekannte") anbot, kam es zu ernsten Auseinandersetzungen. Dazu Krämer: »'Wenn der dritte Band Forestier woanders erscheint, gibt es einen Skandal', hat Diederichs wörtlich gesagt. Das habe ich als Drohung aufgefaßt. Der Sinngehalt dieses Ausspruches war: 'Wenn er bei Diederichs erscheint, ist es gut, dann passiert nichts; wenn er in einem anderen Verlag erscheint, mache ich Krach.'«

Zu dieser Angelegenheit sagt Verleger Diederichs: »Anfang 1955 überraschte Herr Dr. Krämer mich mit der Mitteilung, daß er ein Buch mit Forestier-Briefen herauszugeben gedächte, um die mich zu bewerben er mir freistellte ... Ich wies ihn meinerseits nicht nur auf den Bruch seines seinerzeit gegebenen Versprechens hin, sondern versuchte ihm klarzumachen, daß die Herausgabe eines solchen Buches in gar keiner Weise zu verantworten sei ... Für mich ist angesichts der ganzen Sachlage die Herausgabe der Briefe im Eugen Diederichs Verlag keinen Augenblick in Frage gekommen.«

Immerhin steht fest, daß Diederichs die Briefe lesen wollte. Er sagt: »Um die von mir vorausgesehene prekäre Lage zu vermeiden, die sich Herr Dr. Krämer nach meiner Ansicht selbst bereitete, bat ich ihn, das Manuskript dieser Briefe mir einmal zur Einsicht zur Verfügung zu stellen. Ich hoffte, so noch Zeit zu gewinnen und den Autor von seinem überaus bedenklichen Entschluß abzubringen ...«

Dagegen Krämer: »Diederichs hätte den dritten Band unter Umständen gedruckt ... Diederichs wollte sich die Briefe ansehen. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Ich habe ihm das Manuskript nicht mehr gegeben.«

Die »Briefe an eine Unbekannte« erschienen dann im Georg Büchner Verlag, Darmstadt. Krämer gibt an, sich diesen Verlag mit der Hilfe Schweizer Freunde aufgebaut zu haben. Er will ihn endgültig übernehmen, sobald er beim Rauch Verlag ausscheidet. Bis jetzt besteht der ganze Büchner Verlag in Darmstadt aus einer Art Postsammelstelle, die alle Post an Dr. Krämer nach Düsseldorf schickt und die vordatierten Antworten von dort unterschrieben zurückbekommt. Die Briefe brauchen dann in Darmstadt nur noch in den Briefkasten geworfen zu werden.

Mit der Veröffentlichung der Forestier-Briefe im Georg Büchner Verlag kam der Stein ins Rollen. Was Dr. Diederichs seit 1953 wußte, gab er im Juni 1955 bekannt: In einem Rundschreiben an eine Anzahl von Buchhandlungen wurde mitgeteilt, daß der Autor der Forestier-Gedichte lebe.

Krämer ist der Ansicht, daß sein Konflikt mit Diederichs tiefere Ursachen hat: Er sagt von sich: »Ich gehöre einer Generation an, die genau weiß, was Managertum wert ist. Deshalb Forestier statt Förster. Ein neuer Verlegertyp ist im Kommen, der sich bei jedem Buch fragt: Kann ich das verkaufen, um mein Geld wieder hereinzukriegen, oder nicht.«

In dieser Einstellung sah sich Krämer im Gegensatz zu Diederichs als dem typischen Vertreter eines bürgerlich-traditionellen Verlegers. Und so verteidigt er auch seinen Forestier-Mythos: »Forestier ist eine doppelte Abrechnung. Mit den Verlegern der alten Generation und mit den Kritikern, die sich als Autoren immer gegenseitig Lob spenden ... Mit Forestier wurde eine neue Lyrikwelle ausgelöst. Andere Verlage brachten nun plötzlich auch wieder Lyrik, als sie merkten, daß man Lyrik verkaufen kann ...

»Da ich ein junger Managerverleger bin und nicht über eigenes Kapital verfüge, sind die 'Briefe an eine Unbekannte' ein stilles Kapital für mich, das ich irgendwie realisieren mußte. Deshalb nehme ich die Briefe als Startkapital mit in den Büchner Verlag.«

Über die mäßige Qualität der Forestier-Briefe gibt sich Krämer keiner Illusion hin. Zu seinen Gedichten sagt er: »Ich versuchte eine Art Hemingway-Stil in der Lyrik.« In Mexiko und Afrika und in Indochina ist er nie gewesen, aber er meint: »Dante ist auch nicht in der Hölle gewesen.«

Dagegen bestreitet Krämer lebhaft, daß er auch noch den Forestier-Roman schreiben wollte, von dem soviel die Rede war und dessen Manuskript als verschollen ausgegeben wurde: »Ich kann den Gedichten nichts Gleichwertiges an die Seite stellen, das heißt kein gleichwertiges Romanmanuskript produzieren, dazu habe ich einfach nicht die Kraft.«

Immerhin fand Krämer durchaus die Kraft, ziemlich umfängliche Romane zu schreiben - wenn auch nicht unter dem Namen Forestier, so doch ebensowenig unter dem Namen Krämer. Den Schlüsselroman »Zwei Frauen"*), den er unter dem Pseudonym André Forban veröffentlichte, möchte er zwar selbst »heute nicht mehr lesen«. Dagegen wurde der Roman »Im Regen, der über Europa fällt"**), den Krämer als Georg Jontza schrieb, vom Bourg Verlag als »die literarische Sensation des Jahres« angekündigt, die er dann allerdings doch nicht geworden ist.

Jontza hat mit Forestier gemeinsam, daß die Interpunktion dem Manuskript »und nicht den gebräuchlichen Regeln« folgt, und ebenso wie Forestier ist der Autor Jontza

*) André Forban: »Zwei Frauen«; Bourg Verlag, Düsseldorf; 270 Seiten; 9,80 Mark.**) Georg Jontza: »Im Regen, der über Europa fällt«; Bourg Verlag, Düsseldorf; 302 Seiten; 9,80 Mark. mit einem Geheimnis umgeben. Der Verlag schreibt über diesen Roman-Autor: »Der Name ist ein Pseudonym. Sein Bild kennen wir nicht. Wir fanden das Manuskript unter unserem Posteingang mit dem Poststempel Kassel. Ein Absender war nicht vermerkt ...«

Ebenso wie Forestier kommt der Held in Jontzas Buch wegen seiner NS-Vergangenheit in Schwierigkeiten. Er wird unter dem Verdacht, ein Werwolf-Führer zu sein, in ein Internierungslager gebracht. Und wenn insgesamt auch die NS-Zeit nicht besonders günstig abschneidet, so kommen doch die Sieger kaum weniger gut weg. Es gibt wüste Prügelszenen, die von CIC-Leuten*) veranstaltet werden, ein Lagerführer bringt nach und nach die gesamte Habe seiner Häftlinge widerrechtlich an sich, die Häftlinge müssen Galgen, Verbrennungsöfen und Gräber bauen, die dann von alliierten Photographen als Zeugnisse des NS-Terrors dokumentarisch festgehalten werden. Im übrigen ist wiederum dafür gesorgt, daß ausreichend von Mädchen und von Liebe gehandelt wird.

Aber auch damit ist die Skala der Krämer-Pseudonyme und -Stile noch nicht erschöpft. Auch die strikt antimilitaristischen Verse, die ein Gerhard Rustesch im Büchner Verlag unter dem Titel »Bitte gehorsamst melden zu dürfen"**) veröffentlichte, sind vom Chef dieses Verlages, Dr. Krämer, verfaßt worden.

In diesen Versen rechnet der Artillerieoffizier Krämer ziemlich schnöde mit dem Amte Blank ab:

Es ist so schön, Soldat zu sein,
sei still, du wirst es wieder.
Schon übt der Generalsverein
die alten Heldenlieder ...

Wir fallen wieder mal herein,
frag' nicht, wie soll das enden.
Von Hamburg bis zum Vorderrhein
muß sich jetzt alles wenden ...

Dennoch kann sich keiner der Autoren des Krämer-Konzerns auch nur annähernd mit dem Erfolg Forestiers messen. So konnte es auch nicht ausbleiben, daß die Verlagserklärung, die Diederichs an die Buchhandlungen schickte, ziemlich bald zu einem Stoff für die Glossenspalte der deutschen Tageszeitungen wurde.

Der Ton dieser Glossen scheint dann aber zuweilen dem Diederichs Verlag nicht behagt zu haben. So schickte er kürzlich seiner Erklärung eine zweite, undatierte »Richtigstellung« nach, in der er alle Verantwortung von sich fortschob: »Durch namentliche Zeichnung als Herausgeber übernahm Dr. Leucht dem Verlag und der Öffentlichkeit gegenüber für die Richtigkeit seiner Angaben die volle Verantwortung. Wir haben unsererseits den Gedichten ... nach mehreren eingehenden Rückfragen guten Glaubens den Text des Herausgebers angefügt - ohne daß wir diesem Nachwort eine besondere Bedeutung für die Verbreitung des Buches beimaßen. Nachdem uns bekannt geworden war, daß der Verfasser der Forestier-Verse noch lebe, haben wir uns - von niemandem gedrängt - aus freien Stücken zu einer öffentlichen Richtigstellung entschlossen ...«

Was der Diederichs Verlag nicht bekanntgab, ist, daß ihm die Identität Forestier-Krämer schon bekannt war, bevor noch der zweite Gedichtband Forestiers bei Diederichs erschien. Ebensowenig wurde mitgeteilt, daß zwischen dieser Entdeckung und der Richtigstellung ungefähr zwei Jahre vergangen waren.

Daß der Diederichs Verlag soviel Wert darauf legt, von der Qualität der Verse

*) CIC = Counter Intelligence Corps = Spionage-Abwehr-Dienst der amerikanischen Armee.**) Gerhard Rustesch: »Bitte gehorsamst melden zu dürfen«; Büchner Verlag, Darmstadt; 48 Seiten; 3,80 Mark. zu sprechen und die Bedeutung der beigefügten Forestier-Legende zu verkleinern, dürfte auf die Kommentare zurückzuführen sein, die in den Zeitungen gegeben wurden. Die »Süddeutsche Zeitung« schrieb »Wer ist dieser Ungenannte, dem es meisterhaft gelang, eine so fabelhafte moderne Poetenstory zu ersinnen? Der Gedanke, daß er bei einer Tasse Kaffee im gemütlichen Eigenheim seine ... Inspirationen hatte, dürfte die geprellten Liebhaber des George Forestier aus dem Häuschen bringen. Zweifellos waren in der erlogenen Dichter-Existenz Leben und Werk so sehr verschmolzen, daß es uns jetzt schwerfallen wird, bei der Lektüre die biographische Patina abzustreifen.«

Auch »Die Zeit« vertrat die Ansicht, daß sich Lyrik nur dann verkaufe, wenn sie so »abenteuerlich drapiert« wird. Besonders böse wurde die »Rheinische Post": »In fremde Gestalten zu schlüpfen, ist durchaus poetischer Brauch. Einem Toten aber die Werbetrommel in die Hand zu geben, sich hinter einer frischen Leiche zu verstecken, das blieb dem Forestier-Autor vorbehalten. Wenn es ein literarisches Strafgesetzbuch gäbe: Hier müßte der Literatur-Anwalt einschreiten.«

Und Friedrich Sieburg, der listig genug gewesen war, Forestiers Bücher überhaupt nicht zu besprechen, resümiert: »Einen Autor mit einer so drohenden Biographie, die eine einzige Anklage gegen die Zeit darstellt, unter die kritische Lupe zu nehmen, ist heutzutage eine heikle Sache ... Man wird es müde, ... herzlos da auf Qualität zu bestehen, wo die Zeit überhaupt nicht am Werk, sondern nur am sozialen Anklagestoff interessiert ist.«

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