»Hinterhältige, gemeine Bestien«
Am 27. Januar 1942, das Thermometer stand auf zwölf Grad minus, notierte Oberleutnant Heinz Dieter Meyer in sein Tagebuch: »Zugegeben, ein zartbesaiteter Mensch kann von dem Anblick zuviel kriegen.«
Weil er sich jedoch »als Chronist verpflichtet« fühlte und »der Vorgesetzte die Arbeit seiner Männer kennen muß«, registrierte der junge Offizier ganz genau, was sich in der winterlichen Heide im deutschen Norden abspielte. Auszug aus dem Tagebuch: _____« Die kriegsgefangenen Grabschaufler, mit Spitzhacken » _____« und Spaten, haben Mühe, in den hartgefrorenen Boden » _____« einzudringen. Als ich neben dem offenen Massengrab » _____« wartete, kam die letzte Fuhre für heute angefahren. »
Rund 20 sowjetische Kriegsgefangene zogen einen Karren, »Fleischwagen« genannt, der »bis obenhin mit aufeinandergeschichteten nackten Leichen bepackt« war. Arme und Füße hingen über den Rand. _____« Und dann das Abladen! Die steifgefrorenen Körper, » _____« ausgemergelte Gerippe, polterten von oben herab. Krachend » _____« schlug ein Kopf auf Eis, und es ist ein Wunder, daß er » _____« bei dem Sturze dran blieb. »
Nach dem Abladen fuhr der leere Wagen über den Leichenhaufen hinweg, »so daß die vereisten Glieder krachten«. Der Tagebucheintrag dokumentiert das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener im Mannschaftsstammlager »Stalag X D/310«, in Wietzendorf am Rande des Wehrmachtsübungsplatzes Bergen-Belsen.
Mindestens 14 000 Soldaten der sowjetischen Armee landeten im Wietzendorfer Heideboden, verhungert, gestorben an Fleckfieber, durch Gewehrschüsse und Mißhandlungen. Nur wenige Rotarmisten überlebten den Winter, niemand kennt die genaue Zahl. Von den mehr als 5,7 Millionen Sowjetbürgern, die im Zweiten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft gerieten, sind in den besetzten Gebieten rund drei Millionen umgekommen oder ermordet worden. In Lagern auf westdeutschem Boden verloren 365 000 Gefangene ihr Leben.
Daß Zehntausende gezielt in den Tod geschickt wurden, ist die gesicherte Erkenntnis einer Arbeitsgruppe der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Das vierköpfige Team hatte den Auftrag, eine Dokumentation über das KZ Bergen-Belsen für die neue Gedenkstätte zusammenzustellen, die am Sonntag nach Ostern mit einer Ausstellung eingeweiht wird.
In Bergen-Belsen, dem Ort des Grauens, wurden von 1943 bis 1945 mehr als 50 000 Menschen umgebracht, mehr als die Hälfte waren Juden. In aller Welt bekannt wurde das Konzentrationslager, in dem auch das jüdische Mädchen Anne Frank starb, durch einen Dokumentarfilm, den britische Kriegsberichterstatter nach der Befreiung am 15. April 1945 drehten. Die Bilder von Leichenbergen und halbverhungerten Menschen lösten weltweit Entsetzen aus.
Bis heute kaum bekannt ist jedoch, was deutsche Wachmannschaften in Bergen-Belsen mit den Menschen machten, die ihnen schon 1941 als sowjetische Kriegsgefangene in die Hände fielen.
Auf einem Areal, von den Einheimischen »Russenfriedhof« genannt, liegen direkt neben einer Panzerstraße des jetzigen Nato-Truppenübungsplatzes Bergen-Hohne »50 000 sowjetische Soldaten« in Massengräbern, wie ein bescheidener Gedenkstein verrät. Seit fast 50 Jahren kümmert die Ruhestätte, außerhalb des KZ-Geländes hinter einem Erdwall gelegen, vor sich hin - mehr ein Ort des Vergessens als des Gedenkens.
Bei ihren Recherchen für die Ausstellung stießen die Mitarbeiter der Niedersächsischen Bildungszentrale auf bisher unbekannte Dokumente und Fotos. Sie fanden sich in alten Keksdosen und Zigarrenkisten, verborgen in Schubladen und Schränken. Angehörige von Wachleuten aus der Umgebung hatten sie verwahrt und oft nur verschämt nach bald 50 Jahren herausgerückt.
Am Truppenübungsplatz der Wehrmacht Bergen-Belsen trafen im Sommer und Herbst 1941 Zehntausende von Rotarmisten ein, die nach dem Überfall der Hitler-Armee auf die Sowjetunion gefangengenommen worden waren. Allein bei den großen Kesselschlachten nahe Kiew im September waren 665 000 Gefangene gemacht worden, Mitte Oktober bei Wjasma und Brjansk noch einmal 662 000.
»Die Russen kamen schon vollkommen unterernährt hier an«, erinnerte sich ein Wachmann später, »ein scheußlicher Anblick.« Tausende waren bereits auf dem Transport umgekommen. Die Überlebenden wurden auf die »Stalags« Belsen, Fallingbostel-Oerbke und Wietzendorf verteilt, wahrscheinlich mehr als 60 000 Menschen.
Deutsche Wachmannschaften trieben sie auf übersichtlichen Flächen unter freiem Himmel zusammen. Das einzige, was es für die Gefangenen reichlich gab, war Stacheldraht - zur Umzäunung der Flurstücke. »Zehntausende von Menschen, zusammengepfercht auf engstem Raum, ohne Möglichkeit zur einfachsten Hygiene: Der Tod war programmiert«, sagt der Regierungsdirektor Wilfried Wiedemann, 49, Leiter der niedersächsischen Dokumentationsgruppe.
Keine Baracke, kein Dach schützte die Gefangenen. Gegen Regen, Kälte und Schnee gruben sich die Gefangenen Erdhöhlen, die sie mit Stöcken und Zweigen abstützten. Fast wahnsinnig vor Hunger und Durst aßen viele Gefangene Gras und tranken verseuchtes Wasser. »Von allen Bäumen haben sie die Rinden abgeschält und gegessen«, vermerkte Oberleutnant Meyer in seinem Tagebuch.
Der massenhafte Tod der Kriegsgefangenen war, entgegen den internationalen Konventionen, Teil der Strategie der Nazis und von Wehrmachtführern.
Die Linie hatte Hitler selber ausgegeben. Am 30. März 1941 erläuterte er Generalen der Wehrmacht seine Ziele im bevorstehenden Krieg gegen die Sowjetunion, ein Offizier notierte Stichworte: _____« Kampf zweier Weltanschauungen gegeneinander. » _____« Vernichtendes Urteil über Bolschewismus, ist gleich » _____« asoziales Verbrechertum . . . Wir müssen von dem » _____« Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der » _____« Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein » _____« Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf. »
In einem »Aufruf an die Soldaten der Ostfront« wurde Hitler noch deutlicher: »Dieser Feind besteht nicht aus Soldaten, sondern zum großen Teil nur aus Bestien.« Die Wehrmacht, keineswegs die SS allein, wurde Instrument des Nazi-Plans zur Ausrottung des ideologischen Gegners.
Die Wehrmachtsführung in Mitteilungen an die Truppe: _____« Was Bolschewiken sind, das weiß jeder, der einmal » _____« einen Blick in das Gesicht eines der Roten Kommissare » _____« geworfen hat . . . Es hieße die Tiere zu beleidigen, » _____« wollte man die Züge dieser, zu einem hohen Prozentsatz » _____« jüdischen Menschenkinder, » _____« tierisch nennen. Sie sind die Verkörperung des » _____« Infernalischen, Person gewordener Haß gegen alles edle » _____« Menschentum. In der Gestalt dieser Kommissare erleben wir » _____« den Aufstand des Untermenschen gegen edles Blut . . . »
Die Instruktion basierte auf dem sogenannten Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941. Die politischen Kommissare der Roten Armee, hieß es darin, seien »Urheber barbarisch-asisatischer Kampfmethoden«, ihre sofortige Liquidierung wurde befohlen.
Im Sommer 1941 beschloß die SS-Führung unter Heinrich Himmler in Abstimmung mit dem Oberkommando der Wehrmacht unter Wilhelm Keitel, bei den sowjetischen Kriegsgefangenen in den »Stalags« seien Parteifunktionäre, Angehörige der Intelligenz sowie alle Juden und »Asiaten« auszusondern und zu ermorden.
»Daraufhin«, fanden die niedersächsischen Dokumentare heraus, »erschienen in den ,Stalags' Oerbke, Wietzendorf und Bergen-Belsen SS-Kommandos aus Hamburg und führten Selektionen durch.« Die Todgeweihten seien in einem »Sonderpferch« zusammengefaßt und dann in das KZ Sachsenhausen transportiert worden. In der dortigen »Genickschußanlage« seien allein im Herbst 1941 »mindestens 1500« Kriegsgefangene aus der Heide ermordet worden.
Insgesamt fielen der Selektion, wie der Heidelberger Historiker Christian Streit*, 47, herausgefunden hat, »vermutlich bis zu 450 000 Gefangene zum Opfer«.
Der Tod des größten Teils der Internierten habe freilich andere Ursachen gehabt. Historiker Streit: »Die absolut unzureichende Ernährung, die völlig ungenügende Unterbringung und die Art und Weise, in der die Gefangenen abtransportiert wurden.«
Die sowjetischen »Untermenschen« wurden, wenn überhaupt, wie Vieh ernährt. Zum Beispiel mit einem speziellen »Russenbrot«, das »20% Zellmehl und 10% Strohmehl oder Laub« enthalten sollte, so eine Anordnung. In Armeebefehlen hieß es, die Gefangenen seien »mit den primitivsten Mitteln zu ernähren«. * Christian Streit: »Keine Kameraden - Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 - 1945«. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1978.
Selbst daran mangelte es häufig. So kam es auch zu Kannibalismus, Tagebuchschreiber Meyer vermerkt Zwischenfälle aus Wietzendorf: _____« Mehrere Gefangene hatten einem schlafenden Kameraden » _____« eine Drahtschlinge um den Hals gelegt, sie zugezogen und » _____« mit ihr den Kopf bis auf die Wirbelsäule » _____« durchgeschnitten. Fleischteile haben die ausgehungerten » _____« Bestien herausgelöst. Lunge, Herz und Leber gebraten, und » _____« den Rest des Körpers haben sie verscharrt. Man fand » _____« Leichen, denen aus den Schenkeln große Fleischstücke » _____« herausgetrennt waren, und im Kochgeschirr eines Russen 2 » _____« Menschenohren. »
Die deutschen Wachmannschaften verrohten völlig. Auch ihnen wurde, wie der kämpfenden Truppe an der Ostfront, der »Kommissarbefehl« bekannt gemacht. Der Studienrat Hans Stille, der als Schreibkraft im Wehrmachtslazarett des Lagers Bergen-Belsen beschäftigt war, protokollierte am 2. Januar 1942 das entmenschte Verhalten der deutschen Wachmannschaften: _____« Die russischen Gefangenen versuchten, sich in » _____« Erdhöhlen gegen den harten Winter und den tiefen Schnee » _____« zu schützen. Es schien nun sehr sinnvoll, die Höhlen » _____« nachts zu verstopfen, dann waren die Russen morgens » _____« erstickt, und die Landesschützen brauchten sie nicht erst » _____« totzuschlagen! Daß die Russen mit Knüppeln in die Augen » _____« geschlagen wurden und froh waren, daß sie endlich der » _____« tödliche Streich traf, wird nicht mehr Wunder nehmen. Man » _____« ließ sie um einen Eßnapf einen Gladiatorenkampf » _____« austragen, bis einer tot am Boden lag und der andere den » _____« Napf ausfraß! Morgens hingen sie an den Stacheldrähten, » _____« die das Lager umgaben, entweder durch die Wachsoldaten » _____« erschossen oder entkräftet oder ausgeblutet. »
Möglich wurde die Massenvernichtung nur aufgrund einer von den Nazis geschürten »traumatischen Bolschewistenfurcht«. Die habe, so Streit, das Offizierkorps »mit den Mittel- und Oberschichten« geteilt.
Anfangs wollten die Nazis die »Russen« im Reichsgebiet nicht einmal als Arbeitssklaven in der Produktion einsetzen. Goebbels fürchtete in den Fabriken eine »Geisteskatastrophe«, der NS-Propagandachef: »Es darf nicht vergessen werden, daß in unserem Volk noch 5 000 000 Menschen leben, die früher einmal kommunistisch gewählt haben.«
Der tiefsitzende, im Kalten Krieg wiederbelebte Antibolschewismus sei Ursache dafür, daß die »sowjetischen Gefangenen im öffentlichen Bewußtsein bisher kaum als bemitleidenswerte Opfer des Nazi-Terrors anerkannt« wurden, so Projektleiter Wiedemann.
Dabei wußten schon damals viele Heidjer genau über die Zustände in den Lagern Bescheid. In einer Glosse über »Herrn Bramsig und Frau Knöterich«, die als weichliche Dorftrottel beschrieben werden, fängt der Nazi-Redakteur der lokalen Böhme-Zeitung im Januar 1942 die Stimmung unter den Bürgern auf.
»Wir haben russische Gefangene gesehen«, läßt er Frau Knöterich sagen, »o Gott, wie sahen die aus! Zerrissene Uniformen, Säcke über den Kopf gezogen. Und wie die gefroren haben bei der Kälte!« Die bibbernde Frau Knöterich würde gern helfen. Doch da ist der NS-Schriftleiter vor: Diesen »hinterhältigen, gemeinen Bestien« wolle sie Mäntel und Wolldecken bringen? »An hoffnungslosen Außenseitern«, klärt der Schreiber auf, »geht das Leben vorbei.«
In Fallingbostel-Oerbke war im Winter 1941/42 für mindestens 14 000 Sowjetsoldaten das Leben vorbei. f