VIETNAM HipHop mit Onkel Ho
Wenn Pham Hoang An zurückdenkt an die Nacht der Nächte im Jahr 1975, kurz vor dem Fall Saigons, an damals, als es höchste Zeit war zu fliehen, dann erinnert er sich fotografisch genau, kann die Erinnerungen nach Bedarf hervorzaubern wie von einem für die Ewigkeit gespeicherten Chip.
Alles ist ihm gegenwärtig: die Geräusche, die Gerüche, das Gezerre. Die Verzweiflung der Zurückgebliebenen, die es nicht mehr in das amerikanische Flugzeug geschafft hatten. Das schweißtreibende Chaos an Bord, als jeder mit jedem um Quadratzentimeter Platz kämpfte. Das lähmende Schweigen, das einsetzte, als die Stadt verschwand, als unter ihnen nur noch das Meer war, weites, unendliches Meer, und allen bewusst wurde, auch ihm, dem stets vor allem Unheil behüteten Zwölfjährigen an der Hand der Mutter: Dies war der Abschied von der Heimat, womöglich auf lange Zeit, vielleicht für immer. Und am schlimmsten: Den Vater hatten sie zurückgelassen.
Doch dann ist es ganz anders gekommen - eine Geschichte, so abenteuerlich, so absurd, so typisch vietnamesisch eben, wie sie sich nicht einmal die literarischen Landeskenner Graham Greene oder Marguerite Duras hätten ausdenken können.
Die Kommunisten hatten Saigon erobert, wie erwartet. Ans Vater Pham Xuan, Korrespondent für das US-Nachrichtenmagazin »Time«, hatte ausgeharrt, wie geplant. Einige wenige Reporter, Italiener und Deutsche, ließen sich an seiner Seite von den kommunistischen Streitkräften überrollen - für den Vietnamesen, der nie mit seinen Insider-Informationen hinterm Berg gehalten hatte, für den »Chef du Continental«, wie sie ihn nach seinem Lieblingshotel nannten, wo er Hof hielt, schien das Risiko am größten.
Und als der Zurückgebliebene, knapp ein Jahr nach der Machtübernahme der rigiden neuen Herren, nach Amerika schrieb, die Familie solle kommen, da warnten Freunde vor dieser Tollkühnheit: Die Vietcong hatten alle Landsleute, die sie der »Kollaboration« mit dem alten Regime überführen konnten, in Straflagern verschwinden lassen.
Doch Frau An packte in Kalifornien sofort die Sachen, zog mit ihren vier Kindern zurück nach Saigon, das nun Ho-Tschi-minh-Stadt hieß. Bald schon sickerte durch: Pham Xuan An, der »Time«-Korrespondent, hatte ein Doppelleben geführt - er war »hauptberuflich« ein hoher Geheimdienstoffizier der Feindaufklärung, eine Spitzenkraft der Vietcong, ein Meisterspion. Zu seinen Hauptinformanten hatte auch der damals in Saigon stationierte US-Repräsentant William Colby gehört, der spätere CIA-Chef.
Mehr als 30 Jahre ist das jetzt alles her. Aber wenn Pham Hoang An die Geschichte seines Vaters und der ersten Nachkriegsjahre erzählt, dann zittern immer noch seine Hände.
Er hat in sein Lieblingscafé nahe der Kathedrale gebeten - es ist eines dieser neuen, schicken Treffpunkte, wie sie jetzt dutzendweise in der Stadt entstehen, Ausdruck für das boomende Vietnam. Mit Espresso-Maschine (die »Sozialistische Republik« ist inzwischen zweitgrößter Kaffee-Exporteur der Welt), mit klebrig-süßen Reisküchlein (auch bei der Ausfuhr von Reis gilt das Land als Nummer zwei) - und mit Internet-Zugang. In einer Ecke chatten einige Dandys lässig mit ihren Freundinnen, aber die meisten an den Bildschirmen
gehen ernst und hochkonzentriert zur Sache: Sie spielen. Kein Videogame, sondern an der Börse, 144 Prozent Plus im vergangenen Jahr. Kurse flackern auf, neue Firmen werden als Geheimtipps gehandelt, Gewinne eingestrichen, Verluste mit Schnaps hinuntergespült.
An, 43, Designer-Jeans, offenes Hemd, Kettenraucher, gehört nicht zu den Spekulanten, »obwohl, ein paar Aktien habe ich auch, die braucht man einfach in seinem Portfolio«. Er ist Abteilungsleiter im Außenministerium, betreut Staatsgäste, jettet zwischen Hanoi und Saigon, wie die Stadt umgangssprachlich längst wieder heißt. Dass er sich unter vielen ähnlichen ausgerechnet das Café an der Kathedrale als bevorzugten Platz ausgesucht hat, könnte einen Psychologen interessieren: Es heißt »Papa« - und das, gesteht An, ist sein Thema, das ihn nicht loslässt, nie loslassen wird: Papa, der Übervater.
Sie haben zu Hause lange nicht über das Doppelleben gesprochen, nur Mutter hatte alles gewusst. Aber als An dann zum Jugendlichen heranwuchs und die richtigen Fragen stellte, zog ihn sein Vater manchmal zur Seite und erzählte knapp, stockend, rauchig die stets flüsternde Stimme. Zeigte seinem Sohn die unsichtbare Tinte, mit der er nachts seine Geheimdossiers geschrieben hatte, seine in Reisrollen und Fischbäuche verpackten Filmrollen, die er per Kurier in die nahe Saigon verborgenen Tunnelsysteme transportieren ließ und in die er manchmal, unter Lebensgefahr und wenn es gar nicht anders ging, selbst hinuntergekrochen war. Über die kambodschanische Grenze geschmuggelt, dann aus der chinesischen Hafenstadt Kanton nach Hanoi geflogen, erreichten die Exklusivinformationen das Hauptquartier des Revolutionsführers Ho Tschi-minh, mit Hochspannung erwartete Ware.
»Wir sitzen mit am Tisch des amerikanischen Kriegskabinetts!«, rief damals nach Angaben von Politbüro-Mitgliedern der legendäre nordvietnamesische General Vo Nguyen Giap triumphierend aus.
»Mein Vater hat wohl wesentlich zum Sieg der Kommunisten beigetragen, aber er sah sich als vietnamesischer Patriot - nie als Feind der Amerikaner«, sagt der Sohn. Dass die Geheimdienstinformationen auch US-Soldaten das Leben gekostet haben, darüber sprach der Vater nicht, wie er sich in so vielen Dingen nie ganz öffnete: immer auf der Hut, immer hinter einem schützenden Panzer zurückgezogen. Aber es muss ihn geschmerzt haben, ihn, den Amerika-Bewunderer, der von sich sagte, die »entspanntesten und schönsten Jahre« habe er während seines Journalistikstudiums in Kalifornien erlebt.
Bewiesen ist, dass Pham Xuan An versucht hat, Journalisten aus der Schusslinie herauszuhalten, wenn er Informationen über Vietcong-Attacken hatte. Und dass er mit seiner Meinung, das neue Vietnam könne
beim Aufbau des Landes viel von den USA lernen, gegenüber den neuen Machthabern nicht hinterm Berg hielt. »Seine Freunde hatten ihn wohl schon zu sehr mit westlichem Denken infiltriert«, sagt An junior mit einem ironischen Lächeln.
Die Versöhnungsvorschläge stürzten den Meisterspion und seine Familie ins Unglück. Die Hardliner an der Spitze des wiedervereinigten Vietnam hielten den Helden in ihrer Paranoia nun für ein »Sicherheitsrisiko«. Sie sperrten ihn 1978 in ein Umerziehungslager. Jeder Kontakt mit Ausländern wurde ihm verboten, viele Monate hatte die Familie keine Informationen über seinen Aufenthaltsort.
Der junge An tröstete die Mutter, kümmerte sich um die Geschwister, wurde viel zu früh der Mann im Haus. Und paukte Tag und Nacht für seine eigene Karriere, vietnamesische Geschichte, marxistische Literatur, russische Vokabeln - geschmeidig war er gegenüber den Autoritäten, auf dringenden Wunsch der Mutter. Ein Revolutionär, ein Renegat in der Sippe, meinte sie, sei mehr als genug.
Als Pham Xuan An in den Zeiten der »Doi Moi«, der wirtschaftlichen Öffnung der Partei 1986, endgültig rehabilitiert wurde und innerhalb der KP-Hierarchie zum General aufstieg, konnte An junior in Moskau studieren. Doch bei allen Ehrenbezeugungen gegenüber dem »Helden der Volksarmee": In die USA ließ die Partei ihren so schwer berechenbaren Meisterspion nicht einmal zu einer Konferenz ausreisen. Und alle Anträge des Sohns auf ein Studium in den Vereinigten Staaten wurden abgelehnt, Vorwand: mangelnde Devisen.
Die Vietnam-Kriegsveteranen der amerikanischen Presse bekamen Wind von dem Problem - und entschlossen sich, für den Spross ihres alten Freund-Feindes zu sammeln. Mehr als 30 000 Dollar kamen zusammen. Dass fast alle mitmachten, die seinen Vater gekannt hatten, dass sie ihm offensichtlich nichts nachtrugen und seine Loyalitäten verstanden, hat Pham Hoang An zutiefst beeindruckt. »Es macht mich bis heute glücklich«, sagt er. An konnte an der University of North Carolina Journalismus studieren, er machte im Jahr 2002 dann auch noch seinen Master an der Duke University. Wie sein Papa mochte er die Herzlichkeit seiner Gastgeber, genoss alle Freiheiten - und dachte doch keinen Augenblick daran, in den USA zu bleiben.
Er pflegte nach der Rückkehr seinen krebskranken Vater, führte dessen deutsche Schäferhunde aus, fütterte die gezüchteten Kampfhähne im Garten der Familienvilla, der früheren Residenz eines britischen Diplomaten. Er hielt das Vermächtnis des Seniors fest, der nun offener erzählte und der ihm ein Leben lang doch weniger Vater war als verehrtes Vorbild. »Ich konnte nicht anders handeln, die amerikanischen Politiker mit ihrem ungerechten Krieg, mit ihren Bombenteppichen gegen die Zivilbevölkerung haben mich in meine Rolle gezwungen«, gab der Vietcong-Agent zu Protokoll.
Am 20. September 2006 ist Pham Xuan An im Alter von 79 Jahren gestorben - als »Kundschafter des Friedens« bekam der Spion, der auch seine Feinde liebte, ein Staatsbegräbnis. Sein Sohn freute sich über die Beileidsbriefe der amerikanischen Weggefährten mindestens ebenso wie über die Bekundungen der Parteispitze.
Er ist stolz auf seine Heimatstadt, stolz auf die Fortschritte seines Landes. Die Wirtschaft wächst derzeit fast so schnell wie die in der Volksrepublik China. Innerhalb von 15 Jahren fiel die Anzahl der Allerärmsten, die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen, von 51 Prozent auf 8 Prozent. »Wir gelten als der neue Tiger Asiens«, sagt An, »die Veränderungen sind atemberaubend, die Investoren stehen Schlange.« Führende Wirtschaftsexperten wie Neil Hickman sehen in Vietnam schon das »nächste Dubai«. Und ein internationales Konsortium will an der Küste ein Vergnügungszentrum für vier Milliarden Dollar bauen, mit einem von Greg Norman entworfenen Golfkurs, einem 1200-Zimmer-Hotel und einem Riesencasino: Las Vegas grüßt Onkel Ho.
Von den 84 Millionen Vietnamesen sind rund zwei Drittel jünger als 30 Jahre - es ist eine ideologieferne, unternehmungslustige, dynamische, zukunftsorientierte Generation, für die Depression ein Fremdwort ist und ein Blick zurück im Zorn eine Zeitverschwendung. Die Fortschrittsgläubigen orientier-
ten sich Richtung Westen, ohne die nationalen Leitbilder zu verleugnen. Eine aktuelle Meinungsumfrage in Vietnam sieht Bill Gates knapp hinter Ho Tschi-minh und General Giap als Nummer drei der meistbewunderten Persönlichkeiten. Eigeninitiative steht hoch im Kurs, der Beweis dafür ist an jeder Ecke zu sehen: Saigon brodelt - eine Sechs-Millionen-Stadt und gleichzeitig ein Meer von Ich-AGs.
Da ist Staatsdiener An eher eine Ausnahme, aber mit der Konsumlust der anderen hält er durchaus Schritt. Er mag neue Kleidung, hat sich einen Kleinwagen gekauft; im Alltag allerdings bevorzugt er sein Motorrad. Wer von der Zweigstelle seines Ministeriums hinunterblickt, weiß warum: Da unten ist Chaos, mindestens den halben Tag und fast die gesamte Nacht.
Zwischen den Fahrzeugen turnt ein junger Mann und bietet Raubdrucke an, von den aktuellsten Reiseführern bis zu den Vietnam-Klassikern, schwarz gebrannte DVDs mit Hollywood-Erfolgen von Oliver Stone ("Born on the Fourth of July"), Francis Ford Coppola ("Apocalypse Now") und Phillip Noyce ("The Quiet American"); junge Mädchen klopfen an Windschutzscheiben, Rosen im Angebot; Kleinst-unternehmer bieten zwischen den Ampeln »Tiger«-Bier an, während manche der Fahrer ihren neben dem Lenkrad geparkten PC hervorholen. Nur keine Sekunde verschwenden. Selbst im Stau wirkt Saigon wie auf Speed.
Wer ist der reichste Mann im Land?, fragt unsozialistisch direkt der Online-Nachrichtendienst »VNExpress« und druckt eine Rangliste, angeführt vom knapp 200 Millionen Dollar schweren Chef einer Telekommunikationsfirma, Truong Gia Binh heißt der Viet-King. Wer wird der nächste Superstar?, fragt das Fernsehen, und schickt Möchtegernschlagersänger im Caravelle Hotel vor die mit einem Viet-Bohlen besetzte Jury und eine Schar kreischender Teenager.
Wolkenkratzer, Baustellen und brandneue Hotels der internationalen Ketten: Hyatt, Sheraton, Sofitel; auch die Top-Designer sind mit ihren Boutiquen längst vertreten. Das Land trimmt sich auf Weltniveau, saugt begierig alle Einflüsse auf, ohne Vorurteile, ohne Vorbehalte. Die Geschichte lässt hoffen, dass so nicht nur ein menschenverachtender Manchester-Kapitalismus entsteht, sondern eine auch von Familientraditionen geprägte Marktwirtschaft. Denn Geschäftssinn und Bereitschaft zur Innovation existierten in Vietnam schon lange vor den vom Westen propagierten und vom Osten aufgezwungenen Modellen.
Manchmal dreht An eine Nostalgierunde zu den Lieblingsplätzen seines Vaters. Geht auf einen Drink in den nach Frangipani-Blüten duftenden Garten des Continental, wo der Meisterspion seine Informationen sammelte und wo von der gegenüberliegenden Straßenseite immer eine Schöne herüberrief: »la guerre, l'amour, la vie«, der Krieg, die Liebe, das Leben, die einzigen Worte, die sie auf Französisch konnte oder brauchte. Das Hotel aus Kolonialzeiten, auf dessen frühere Veranda - vielleicht nach dem Tipp eines Spions - auch mal Bomben krachten, ist seit dem Sieg des Vietcong in Staatsbesitz. Eine leicht verstaubte, fast schon liebenswert anachronistische sozialistische Insel inmitten des kapitalistischen Aufbruchs.
Und dann zieht An weiter, ins neue Saigon. In den Schickeria-Bars mit Namen wie Gossip und MGM vergnügen sich die Neureichen, und die bunten Drinks heißen Good Morning Vietnam, Sex on the Beach oder B-52, wobei letzteres Kürzel vier von fünf Partygängern für eine Popgruppe oder eine Parfum-Marke halten. Nur einer sagt: »War das nicht ein amerikanischer Bomber?« Gelegentlich weist An einem abenteuerlustigen Besucher auch den Weg zur Disco Apocalypse Now, berüchtigt für besonders zielstrebige junge Damen und besonders
rauflustige junge Herren - nicht die Welt des sanften Schöngeistes.
Zu seinen Verpflichtungen im Außenministerium gehört die Betreuung von Staatsgästen. Manche EU-Parlamentarier hat er schon zum Cu-Chi-Tunnelsystem geführt. »Ich überlege dann immer, welche Ängste Papa ausstehen musste bei seinen nächtlichen Ausflügen durch die feindlichen Linien«, sagt An. Sein Anzug- und Krawatten-Alltag hat wenig mit dem väterlichen Agentenleben auf der Rasierklinge gemein. So wenig wie das Kriegsspielen der Touristen - zehn Schuss aus einer alten Kalaschnikow für zwei Dollar, und tragen Sie sich bitte ins Gästebuch ein - mit dem wahren Krieg.
Er verschweigt gegenüber den Gästen seine familiäre Vorgeschichte. Auch wenn er die Offiziellen zum Kriegsreste-Museum in der Innenstadt bringt, das in den früheren Zeiten der ideologischen Scharfmacher Museum der amerikanischen Kriegsverbrechen hieß. Furchtbares ist da ausgestellt: Bilder triumphierender Soldaten nach dem My-Lai-Massaker, deformierte Föten, Folterkäfige südvietnamesischer Militärs. Doch die Halle der Grausamkeiten ist schwach besucht. Draußen vor dem Gebäude auf dem Museumshof ist mehr los, da spielen vietnamesische Kinder zwischen amerikanischen Flugzeugwracks, und Ex-GIs auf Urlaubsreise posieren vor Panzer-Ruinen für Erinnerungsfotos. Man erfrischt sich an einem Kiosk, »es grüßt als Sponsor Pepsi Cola«.
Einigen Europäern ist so viel Nonchalance peinlich angesichts der Bilanz von über 3000 Kriegstagen, den rund zwei Millionen toter Zivilisten, der über 44 Millionen Liter versprühten Entlaubungsmittel Agent Orange, der vielen Behinderten - auch nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen vor über einem Jahrzehnt noch ohne einen Dollar Entschädigung. Aber Pham Hoang An beruhigt seine hohen Gäste dann immer. »Schon okay«, sagt er ihnen. »Wir sind kein Volk, das ständig seine Tragödien beschwört. Wir schauen nach vorn, voller Optimismus.«
Amerika war gut zu ihm; und so ist er auch gut zu amerikanischen Repräsentanten. Als George W. Bush im vergangenen Jahr zu Besuch in Vietnam war, hat An für ihn übersetzt und gern mit ihm für ein Erinnerungsfoto posiert. »Er ist persönlich ein sehr herzlicher Mann«, formuliert An vorsichtig. Und was denkt er über den US-Präsidenten als Politiker, wie schätzt er Bushs jüngste Bemerkung ein, die amerikanischen Streitkräfte hätten Vietnam zu früh verlassen, man werde einen solchen Fehler im Irak nicht wiederholen?
Dazu schweigt er diplomatisch, nur sein Gesichtsausdruck verrät die Empörung. Pham Hoang An will keinen Fehler machen. Leute, die es wissen müssen, sagen dem geschmeidigen Parteigänger eine steile Karriere in der Politik voraus. Der Sohn des Vietcong-Agenten, der nun seine kranke Mutter pflegt - abgetragene Dankesschuld für ein behütetes Leben -, könnte in ein paar Jahren Außenminister der Sozialistischen Republik werden. Oder Botschafter in Washington.
So ist Vietnam: Es besiegte seine Feinde, darunter die Weltmächte Frankreich und USA; es vertrieb immer wieder auch seinen mächtigen Nachbarn China, der das Land ungleich länger beherrscht hat als die westlichen Kolonialisten. Es ist gewohnt, fremde Einflüsse aufzunehmen und zu verarbeiten. Wenn man das Land nicht brechen will, dann biegt es sich, flexibel wie der Bambus im Wind.
Auf den Feldern hat sich auch durch die jetzigen Umbrüche wenig verändert. Für
die Bauern mag zutreffen, was Graham Greene einst geschrieben hat: »Wenn ich an Gott und das Leben im Jenseits glaubte, ich würde meine künftige Harfe darauf wetten, dass es in 500 Jahren kein New York und London mehr gibt, aber dass sie immer noch Reis auf ihren Feldern anbauen, ihre Ware, auf langen Holzstangen balancierend, zum nächsten Markt tragen.«
Aber durch die prächtigen alten Städte Hue und Hoi An, beide von der Unesco zum Weltkulturerbe deklariert, ziehen Touristenströme; in der pittoresken Ha-Long-Bucht wie an den pulverzuckersandigen Stränden von Nha Trang und Da Nang geben längst Urlauber aus dem Westen mit den Ton an, die Besucherzahl lag 2006 bei rund 3,6 Millionen.
Die Metropolen des Südens und des Nordens machen sich Konkurrenz, unterschiedliche Schönheiten im scharfen Wettbewerb. Saigon, grellgeschminkt, sehr sexy, leicht zu haben, schwer zu halten, eine Dirne, die weiß, wo es langgeht. Hanoi, nach langem Mauerblümchendasein aufgewacht und nun mit tiefroten Lidschatten so verrucht wie verzückend, eine Dame, die nicht erobert werden will, sondern selbst ihre Liebhaber bestimmt.
Wenn Than Trong Phuc zurückdenkt an den Tag der Tage, bevor Saigon 1975 fiel und er in einen der letzten Helikopter kletterte, der von der US-Botschaft
abhob, dann erinnert er sich noch fotografisch genau. An die Luftwirbel der Rotoren, die ihm die Haare zerzausten und ihm den Plastikbeutel mit den Büchern aus der Hand zu reißen drohten. An die gellenden Schreie der Zurückgebliebenen, an das ineinandergeknäulte Chaos. Die Mutter rief immer wieder, er solle sich nicht abdrängen lassen, Blickkontakt halten. Und besonders schlimm: den Vater hatten sie zurücklassen müssen.
Frau Phuc hatte als Angestellte am US-Konsulat in Da Nang und dann in Saigon gearbeitet, ihr drohten Repressalien durch die Vietcong, sie hatte Anspruch darauf, ausgeflogen zu werden. Ihr kriegsversehrter Mann aber hatte es in den Wirren der Kämpfe nicht mehr in die Hauptstadt des Südens geschafft. Sie waren sich einig, dass ihr Sohn im Fall einer Trennung die Chance auf ein besseres Leben im Westen bekommen sollte. Auch um den Preis einer zerrissenen Familie.
Der Jugendliche wurde im Durcheinander der Flucht von seiner Mutter und den drei Geschwistern getrennt. »Meine Schuld«, sagt er im Rückblick. »Ich war zu aufgeregt und hatte einfach nicht aufgepasst.« Monatelang musste Phuc auf der US-Militärbasis Guam ausharren, bevor die anderen gefunden wurden, sie waren zuerst auf den Philippinen gelandet. Im neuen Zuhause in Kalifornien aber ging es dann aufwärts. Langsam, unspektakulär. Die Mutter arbeitete hart und sparte eisern. Phuc dankte es ihr mit Bestnoten, er schaffte es auf die University of California, wo er 1985 sein Examen in Computer-Wissenschaften bestand.
Der Ehrgeizige wollte um jeden Preis in Amerika Karriere machen - und dann, sobald es die politischen Verhältnisse erlaubten, ins Land seiner Väter zurückkehren. Er heuerte bei Intel im kalifornischen Santa Clara an, dem größten Chip-Hersteller der Welt. Als der Konzern beschloss, nach Vietnam zu expandieren und einen »Country Manager« suchte, war er im Jahr 2000 zur Stelle. Diesmal ließ er die Mutter zurück, die es sich in Los Angeles mit seinen Geschwistern gut eingerichtet hatte, und er traf den so viele Jahre vermissten Vater wieder.
Lange ist die Exilantengemeinde der Viet Kieu von den Chefideologen der KP geschmäht worden; inzwischen sind die Flüchtlinge, die in Kriegszeiten vor den Vietcong oder später als Boatpeople vor dem Elend flüchteten, als Investoren hoch- willkommen. Zwölf Milliarden Dollar schickten sie schon seit 2002 in die alte Heimat. Und viele entschlossen sich, dem Land
als Lebensmittelpunkt eine zweite Chance zu geben: Than Trong Phuc, 46, ist nur ein heimgekehrter Sohn unter vielen in Vietnam - allerdings einer der erfolgreichsten.
Der Manager gehört nicht zu den Sentimentalen, dafür ist sein Job zu hart und fordernd. Die Kapitalanlagen seiner Firma haben nichts mit Wiedergutmachung für amerikanisches Unrecht zu tun, sondern mit nüchternem Geschäftskalkül: Vietnams Löhne sind noch immer sehr niedrig, die Arbeitskräfte leicht anzulernen und zuverlässig, die Profit-Margen erfreulich. So denken auch deutsche Unternehmen wie Siemens oder Metro, die am Mekong expandieren. Kaum einer allerdings investiert in Vietnam so viel Geld wie Phucs Firma Intel - im vergangenen Jahr wurde das Gesamtvolumen auf eine Milliarde Dollar aufgestockt. »Das bedeutet Fortschritt, das bedeutet Arbeitsplätze«, sagt der Manager und Ex-Flüchtling. »Ich bin stolz darauf, dabei mitzuhelfen, dass meine Heimat nach all den düsteren Jahren einen großen Schritt nach vorn macht.«
Er mag Saigon, er liebt Hanoi. Phuc, der Frauentyp, der sein Clark-Gable-Bärtchen abgeschnitten hat und nun noch freundlicher, glatter daherkommt, ist in beiden Städten zu Hause. Traditionell galt der Sitz der Regierung mit dem Ho-Tschiminh-Mausoleum als die zwar hübsche, aber wirtschaftlich schwerfällige, in jeder Beziehung zurückgebliebene Schwester der südlichen Boom-City. Damit ist es seit einigen Jahren vorbei: Auch Hanoi explodiert nun vor Lebenslust und Unternehmergeist, zukunftstrunken und gleichzeitig so, als gäbe es kein Morgen.
Wer diesem neuen Hanoi nachspüren will, muss sich nur in der Ngo-Quyen-Straße umsehen, wo Phucs Büro liegt und fast wöchentlich eine neue Galerie ("Lackmalereien, Picasso zum Quadratmeterpreis von 40 Euro"), ein neues Textiliengeschäft ("in 24 Stunden ein Armani-Anzug, auch Übergrößen"), ein neues Restaurant ("no like, no pay") eröffnet. Oder mit ihm durch eine der 70 Gassen der Altstadt schlendern, deren Namen mit »hang« beginnen, dem vietnamesischen Wort fürs Business.
Vor Hunderten von Jahren ist das Viertel entstanden, jede der handtuchengen Passagen spezialisiert auf ein Gewerbe: Korbmacher, Kofferverkäufer und Kanarienvögelexperten, Silberschmiede, Seidenschneider und Stäbchenfabrikanten, Matratzenfachleute, Mückenwedelanbieter und Mohnknödelköche. Dazu noch in der »Gesundheitsgasse« die Hausmittel, für die Potenz das Seepferdchenextrakt, gegen Schlaflosigkeit der Saft junger Lotosblätter.
Die Händler beklagen sich hinter vorgehaltener Hand über die Korruption der Regierenden. Die Partei kennt das Problem, ihren Vizetransportminister, der es gar zu toll trieb, ließ sie verhaften. Phuc nennt seine Verhandlungen mit den Ministerien »vorbildlich und fair«. Aber er spielt in einer anderen Klasse als die Kleinhändler, der Staat braucht die großen Investoren und legt ihnen den roten Teppich aus.
Als Auslandsvietnamese genießt Phuc noch ein Privileg - er darf die Spielcasinos besuchen, die in mehreren großen Hotels probeweise eingerichtet wurden. Anders als den Schon-immer-Einheimischen traut die Partei den Viet Kieu wohl zu, beim Zocken das rechte Maß zu finden. Der Manager spielt lieber Golf.
Dass der wirtschaftlichen Liberalisierung in Vietnam noch keine ideologische gefolgt ist - der politische Fortschritt ist trotz der Verjüngung des Politbüros allenfalls eine Schnecke -, Phuc weiß es. Aber eine kritische Bemerkung über die Mächtigen ist ihm nicht zu entlocken. »Ich bin ein vietnamesischer Patriot«, sagt er, als erkläre das alles. Die westlichen Diplomaten freilich schütteln den Kopf über die Unsicherheit der Partei in diesen Zeiten der großen wirtschaftlichen Erfolge: Gewerkschaftler, katholische Priester, Menschenrechtsanwälte - alles, was auch nur in etwa so aussieht wie eine oppositionelle Bedrohung, wird derzeit weggesperrt.
Vielleicht liegt es daran, dass »der Alte noch lebt« und die Kreise des Politbüros stört.
Nicht Ho Tschi-minh ist gemeint - der ist Geschichte, wachsfigurenstarr und einbalsamiert in seinem Mausoleum. Ein entrücktes Idol mit Popcharakter; »HipHop mit Onkel Ho« nannte sich kürzlich die Konzertveranstaltung von Musikern in einem Hanoier Park. Gemeint ist der sehr lebendige General Giap, 95, der Bezwinger der Franzosen, der militärische Sieger über die Amerikaner. Pensionär Giap wohnt in einer alten Villa an der Hoang-Dieu-Straße - und liest seinen Nachfolgern an der Parteispitze noch heute regelmäßig die Leviten.
Sein letzter, in der staatlich kontrollierten Presse unveröffentlichter, aber in Diplomatenkreisen kursierender Brief, stammt vom Frühjahr. Darin beklagt Giap die Vetternwirtschaft in Vietnam, die Selbstbereicherungs- und Selbstbeweihräucherungsmentalität der Kader mit harschen Worten. Und er warnt vor einem Ausverkauf der Bodenschätze an Ausländer. »Wirtschaftlicher Fortschritt ist gut«, schreibt der Altrevolutionär. »Aber ihr dürft sie nicht um jeden Preis herbeiführen, nicht um den Preis der Aufgabe unserer nationalen Identität. Sind Hunderttausende Vietnamesen gestorben, damit ihr euch in amerikanischen Edelrestaurants vollstopft und in deutschen Luxuskarossen herumchauffieren lasst?«
General Vo Nguyen Giap ist ein Nationalheld und unantastbar. Aber seine Villa steht unter Beobachtung, Besucher werden nicht mehr zugelassen. Die Revolution frisst ihre Gründer. Ihre Kinder sind längst schon zu neuen Ufern aufgebrochen.
* Oben: anlässlich seines Begräbnisses am 23. September 2006; unten: US-Helikopter am 29. April 1975, nahe der amerikanischen Botschaft in Saigon. * In Hanoi 2006, vor Ho-Tschi-minh-Büste.