PRÜGELSTRAFE Hirn statt Hosenboden
Der Säugling Marion Mucha lebte nur zehn Monate -- in einem »Martyrium« von »wahnsinnigen Schmerzen«, wie ein Frankfurter Schwurgericht feststellte. Arme und Beine waren dem Kind gebrochen worden, Schläge auf den Kopf führten schließlich zu einer tödlichen Hirnlähmung. Als die Mutter Monika im Juni letzten Jahres zu zehneinhalb Jahren und deren Verlobter Helmut Broda zu elf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, gab es im Zuschauerraum Beifall und Zwischenrufe. »Die Strafen sind richtig.«
Fast zehn Jahre lang leitete ein Pädagoge eine Hamburger Heimschule -- im Bewußtsein, daß Prügel als »symbolische Handlung« von Nutzen seien, wie er sagte. Im August 1976 wurde er angeklagt, vier Schüler mit dem Stock auf das Gesäß und in die Knie geschlagen zu haben. Als er freigesprochen wurde, weil die Schläge einem Gewohnheitsrecht entsprachen, gab es im »Hamburger Abendblatt« nur lobende Leserworte: »Wenn ein Schüler irgend etwas Saudummes anstellt«, meinte etwa die Hausfrau Doris Steiner, Mutter dreier Kinder, »soll er schnell etwas hinter die Ohren bekommen.«
Applaus für das harte Urteil, Beifall zum Freispruch -- das paßt gut zusammen. Im Volksempfinden der Deutschen wie in ihrer Rechtsprechung wird fein unterschieden zwischen Kindesmißhandlung und Kindeszüchtigung.
Daß eine anständige Tracht nichts schade, daß tüchtig was hinter die Ohren Wunder wirke, das ist gesellschaftliches Gemeingut. 70 Prozent der Bundesbürger billigen nach einer Allensbacher Umfrage Prügel für Kinder -- entweder als traditionellen Erziehungsstil (28 Prozent) oder als »letztes Mittel« (42 Prozent).
Zwar wird immer Entrüstung laut, wenn ein Kind dabei körperlichen Schaden nimmt. Doch zu den sichtbaren Zeichen der Kindesmißhandlung wie blaue Flecken und blutige Striemen addiert sich nach der Erfahrung deutscher Kinderpsychiater ein zahlenmäßig »viel größeres« Ausmaß von seelischen Schäden durch das gewöhnliche Verprügeln.
Derart »fürchterliche Folgen« der Maulschellen-Manie sieht die »Deutsche Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychiatrie« (500 Mitglieder), daß sie nun nach monatelangen Diskussionen beschloß, »gesellschaftspolitisch was zum Wohl des Kindes rauszuholen« -- so der Vorsitzende Manfred Müller-Küppers, Heidelberger Professor für Kinderpsychiatrie und Vater von drei Kindern, die er in »gelebter Überzeugung« nie geschlagen hat.
In einer jüngst veröffentlichten Stellungnahme macht die Vereinigung gegen die Zweiteilung der Prügelstrafe in eine gebilligte und eine bestrafte Form mobil. Und so hart bekamen es Mütter und Väter noch nicht gesagt:
>"Körperliche Züchtigung bedeutet Hilflosigkeit des Erziehers, wie immer diese zu erklären sein mag.«
* »Zwischen dem Schlag ins Gesicht (der sogenannten »Ohrfeige") und der schweren Mißhandlung eines Kindes gibt es in dieser Hinsicht keinen grundsätzlichen Unterschied.«
* »Geschlagene Kinder sind seelisch gefährdete Kinder.«
Das generelle Verdikt der Vereinigung gegen eine Erziehung mit Schlägen basiert, wie Müller-Küppers erläuterte, »auf allgemeinem kinderpsychiatrischen Erfahrungsgut«. In den ersten Lebensjahren, einer Zeit, in der Kinder oftmals einen Klaps auf die Hände oder den Mund bekommen, gilt den Fachmedizinern jeder Schlag und die dadurch ausgelöste Angstreaktion als negative Veränderung der oralen Wunschwelt. Die herkömmliche Psychoanalyse deutet etwa Fett- und Magersucht, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, vegetative Magen- und Darmerkrankungen, Depressionen und Selbstmord als neurotische Verarbeitungsformen von oralen Konflikten.
In den späteren Lebensphasen eines Kindes können Prügel zur Über- oder Untersteuerung der Triebenergien führen -- nach herrschender Psychologen-Lehre der Beginn einer Entwicklung, die womöglich später in Lernunlust und Sexualstörungen, Verwahrlosung und Gewaltkriminalität mündet.
Vor allem die anglo-amerikanische Forschung hat in etlichen empirischen Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen Körperstrafe und seelischer Fehlentwicklung bis hin zur Kriminalität hergestellt. Die beiden einzigen grundlegenden Untersuchungen in der Bundesrepublik weisen in die gleiche Richtung: Bei der Hälfte von 200 Patienten der Kölner Universitätskinderklinik, die durch Schulschwierigkeiten, Bettnässen, Lügen, Stehlen, Fortlaufen oder Entwicklungsrückstände auffielen, machten die Ärzte eine »wahrscheinliche bis sichere Beziehung« zwischen den Schwierigkeiten und Schlägen aus. Von 150 Kindern, die mit Überforderungserscheinungen bei der Marburger Erziehungsberatung vorgestellt wurden, hatten 65 Prozent prügelnde Väter und 51 Prozent prügelnde Mütter -- die teils täglich zuschlugen.
Wenngleich es wohl nur unter ungünstigen Umständen zu extremen Persönlichkeitsstörungen kommt. halten die Kinderpsychiater Schläge generell für »schädigend«. Zwar könnten Prügel »kurzfristig das Verhalten eines Kindes beeinflussen«, aber »ihre andauernde Wirkung« sei »einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung entgegengerichtet. In ihrer Erklärung warnt die Vereinigung: Bei einer Erziehung«, die sich der Gewalt bedient, lernen Kinder letzten Endes, daß nicht Einsicht und Verständigung, sondern Gewalt der geeignete Weg ist, um seine eigener Absichten zu verwirklichen. Sie werden später nicht nur ihre eigenen Kinder wieder schlagen, sondern auch als Erwachsene bereit und fähig sein, sich entweder auf der einen Seite mit Gewalt und Willkür zu behaupten und sich auf der anderen Seite ohne Rücksicht auf Recht oder Unrecht fremdem Zwang zu fügen. Ihre Mitwirkung an einem freien demokratischen Gemeinwesen wird dadurch entscheidend behindert.
Mit ihrem Plädoyer für eine gewaltlose Erziehung wollen die Kinderpsychiater, so Müller-Küppers, keinesfalls einer antiautoritären Erziehung« das Wort reden, »denn nichts ängstigt ein Kind mehr, als wenn man ihm keine Grenzen setzt«. Klare Grenzen aber wollen die Seelenärzte auch Deutschlands Erziehern weisen. Sie fordern, »körperliche Züchtigung von Kindern durch Erwachsene in Erziehungsberufen mit eindeutigen gesetzlichen Regelungen völlig zu untersagen« sowie »allen Eltern den Verzicht auf körperliche Züchtigung als ein Erfordernis unserer Gesellschaft dringend nahezulegen«.
Kommt es wirklich zu einem Gesetz, so wäre die letzte geschlossene Gruppe von der Prügelstrafe befreit. Denn mit fortschreitender Humanisierung hat der Staat den Freiraum für strafloses Schlagen immer mehr eingeschränkt. Abgeschafft wurde das Züchtigungsrecht
* der Herrschaft gegenüber dem Gesinde mit Aufhebung der Leibeigenschaft in Preußen (um 1807).
* des Ehemannes gegenüber der Ehefrau mit Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches (1900).
* der Strafanstalten gegenüber den Häftlingen (1918),
* der Lehrherren gegenüber den Lehrlingen (1951).
Lehrern und Erziehern indessen hat der Bundesgerichtshof im Jahre 1957 ausdrücklich ein Gewohnheitsrecht zur maßvollen Züchtigung zugebilligt eine Entscheidung, aufgrund deren immer wieder Lehrer sogar dann freigesprochen wurden, wenn etwa einem Schüler durch eine Ohrfeige das Frommelfell geplatzt war. Auch wenn ein Lehramtsanwärter Kopfnüsse austeilt, ist das nach einer Entscheidung des Augsburger Verwaltungsgerichts vom August letzten Jahres noch kein Grund, ihn nicht zum Beamten zu machen.
Dabei haben mittlerweile alle Bundesländer das Schlagen an Schulen in irgendeiner Form eingeschränkt: unbestimmt durch eine »Soll«-Anweisung (in Hamburg), präzise, aber ohne Gesetzeskraft durch einen Runderlaß (etwa in Nordrhein-Westfalen) oder rigoros durch ein gesetzliches Verbot (wie in Rheinland-Pfalz). 1975 ausdrücklich erlassen mit dem Ziel, das dubiose Gewohnheitsrecht auszuhöhlen. Ob es gleichwohl noch gilt oder ob es durch das immer dichter gewordene Netz von Vorschriften und Verfügungen, Ministererlassen und Dienstanweisungen gegen die Züchtigung in Vorschulen und Schulen. Kindergärten und Kinderheimen bereits verdrängt wurde
darüber streiten die Gelehrten, urteilen die Gerichte unterschiedlich.
Mit Hinweis auf die vielfältigen Meinungen billigte im August vergangenen Jahres der Bundesgerichtshof einem Kinderheimleiter, der seine Hilfserzieher angewiesen hatte. Jungen mit dein Rohrstock auf den Hintern zu hauen, einen Verbotsirrtum zu. Und daß nun das höchste deutsche Gericht »nicht mehr ausdrücklich auf das Gewohnheitsrecht abgehoben hat«, empfindet der Tübinger Rechtsprofessor Albin Eser als »neuen Ductus": »Die Rechtslage ist ausgesprochen unsicher geworden.«
Auch wenn Eltern ihre Kinder schlagen, befinden sie sich auf einem unsicheren Rechtsfeld, dessen »Grenzen fließend sind« so der Ministerialrat Gottfried Knöpfel aus dem Bundesjustizministerium. Denn 1957 wurde im Zuge der Gleichberechtigung die gesetzliche Prügelgenehmigung ("Der Vater kann kraft des Erziehungsrechts angemessene Zuchtmittel ... anwenden") gestrichen und beiden Eltern ganz allgemein die »Gewalt« über ihre Kinder übertragen.
Seither ist es den Gerichten überlassen, abzuwägen zwischen dem Grundrecht auf »körperliche Unversehrtheit«. das auch ein Kind genießt, und dem Elternrecht, das zwar nicht mehr ausdrücklich, aber doch gewohnheitsmäßig die Züchtigung mit einschließt. Sie hat nach herrschender Rechtsprechung jedoch »sachgemäß« und nicht »übermäßig« zu sein -- wobei es nach den kinderpsychiatrischen Erkenntnissen zweifelhaft erscheint, ob Schläge überhaupt »sachgemäß« sein können.
Der Appell der psychiatrischen Vereinigung, so hoffen die Verfasser, könnte den Gesetzgeber dazu bringen, diesen Schwebezustand irgendwann durch ein eindeutiges Prügelverbot abzulösen. Die Experten haben sich allerdings, so Müller-Küppers, »auf einen langen Marsch« eingerichtet -- weil wohl »nur mit einer Veränderung des Bewußtseins auch das Recht zu ändern« sei. Der Professor: »Schläge müssen durch Vorbilder und Wörter ersetzt werden, denn Erziehung hat nicht am Hosenboden, sondern im Gehirn anzusetzen.«