ISRAEL / RABBINAT Hirten gesucht
Mit der ihm eigenen Verschmitztheit hat Israels greiser Ministerpräsident David Ben-Gurion sein Land in eine religionspolitische Krise gestürzt, die herbeiführen soll, woran »B-G« und die Anhänger des laizigtischen Staates seit langem heimlich arbeiten: die völlige Trennung von Synagoge und Staat im Heimatland der Juden.
Derartige Bestrebungen wurden jüngst in einer Kabinettssitzung offenbar, in der Ben-Gurion seine Minister belehrte: »Wenn die Regierung bei der bevorstehenden Wahl des Oberrabbinats aus dem Spiele bliebe, hätten wir endlich erreicht, daß Israels Rabbinat nicht mehr ein Teil unseres Staates ist. Dann würden die Rabbiner nur noch von Leuten gewählt werden, die überhaupt ein Interesse am Bestehen des Rabbinats haben.«
Die konservativeren Partner im Koalitionskabinett des Sozialisten Ben-Gurion waren von den Eröffnungen des Premiers dermaßen überrascht, daß Innenminister Schapiro nur stammeln konnte: »So etwas Entscheidendes läßt sich doch nicht in einigen Minuten regeln, da ist eine
grundsätzliche Klärung notwendig.« Die rabbinatstreuen Minister hatten offensichtlich die Hartnäckigkeit unterschätzt, mit der David Ben-Gurion die engen Verstrickungen zwischen Staat und Synagoge beseitigen will.
Dieses Ziel erstrebt der Premier, seit die israelische Regierung der mosaischen Religionsgemeinschaft in allen Bereichen des öffentlichen Lebens derart viel Platz eingeräumt hat, daß schon mancher Kritiker argwöhnte, Israel sei im Grunde ein theokratischer Staat in modern-sozialistischem Gewand.
Tatsächlich ist die staatliche Gewalt von Anfang an mit der mosaischen Religion eng liiert worden; ein großer Teil der israelischen Rechtsprechung wurde den Rabbinern überantwortet. Allein rabbinische Gerichte dürfen Geburten und Todesfälle registrieren, Ehen scheiden und familienrechtliche Streitfälle behandeln.
Zum Symbol der engen Verquickung von Staat und Synagoge wurde das Oberrabbinat, höchstes Organ der mosaischen Religionsgemeinschaft; seine Mitglieder werden gemeinsam von Vertretern der Rabbinerschaft und des Staates gewählt. Ein besonderes Religionsministerium dient als zusätzliche Klammer zwischen Staat und Synagoge.
Die meist orthodoxen Religionsminister konnten freilich nicht verhindern, daß die Linksparteien - in den Koalitionskabinetten Ben-Gurions stets mit Schlüsselpositionen bedacht - allmählich gegen die Macht der Rabbiner aufbegehrten. Die alten Riten der mosaischen Religion, das zähe Festhalten an Sabbat-Regeln und die orthodoxe Sozialethik vieler Rabbiner behindern immer bedenklicher die Modernisierung Israels und die Eingliederung der aus allen Erdteilen zusammenströmenden, oft glaubenslosen Einwanderer.
Angesichts solcher Hemmnisse entschloß sich Ben-Gurion, die Verbindungen zwischen Staat und Rabbinat zu lockern. Eine Regierungsumbildung im November 1958 gab ihm die Chance, seinen orthodoxen Religionsminister auszubooten: Neuer Minister wurde nicht, wie zuvor, ein Vertreter der religiös-orthodoxen Parteien, sondern der 78jährige Rabbi Jakob M. Toledano, ein liberaler und ehrgeiziger Geistlicher,
der mit zahlreichen führenden Amtsbrüdern verfeindet war.
Toledano erwies sich als ein williger Diener seines laizistischen Herrn. Erschwächte den Einfluß der »National-Religiösen Front«, jener mit Ben -Gurion koalierenden Partei, die bis 1958 immer den Religionsminister gestellt hatte. Er dämpfte auch den weltlichen Ehrgeiz der mosaischen Amtsbrüder; Ben-Gurion dagegen hielt seinem Leibrabbiner selbst dann noch die Treue, als der Greis wegen seiner Heirat mit einer 25jährigen Rabbi-Tochter zur Spottfigur von Gassenjungen geworden war.
Toledanos Fehden mit den Rabbinern
brachten schließlich Ben-Gurion auf die Idee, die größte Schwäche der Rabbiner seinen Plänen nutzbar zu machen: ihre Uneinigkeit.
Die mosaische Religionsgemeinschaft ist nicht nur durch permanentes Rabbiner-Gezänk gespalten; das jahrtausendealte Auswandererschicksal hat die Juden auch kulturell in zwei feindliche Lager auseinandergerissen: In
- die Aschkenasim, die nach dem Urenkel des Noah (Aschkenas) genannten Juden aus Mittel- und Osteuropa, und
- die Sephardim, Juden aus West- und Südeuropa sowie, Nordafrika, deren Name mit der biblischen Weissagung des Propheten Obadja verbunden ist, wonach »die Verbannten Jerusalems in Sepharad (= Südland, Spanien), sind«.
Die beiden Lager führen einen ebenso lautlosen wie erbarmungslosen Kleinkrieg gegeneinander, in dem sich die Aschkenasim gegenüber den kulturell weniger entwickelten Sephardim als Vorkämpfer einer überlegenen Rasse gebärden. Der Streit entlud sich jüngst auch in einer Rundfunksendung, in der sich Backfische und Teenager als getreue Partisanen jener alten Fehde entpuppten - nach dem Urteil der »Jerusalem Post« eine »der alarmierendsten Sendungen seit langer Zeit«.
Piepste eine aschkenasische Jüdin ins Mikrophon: »Sephardim sind gleichbedeutend mit Primitivität und niedrigem Lebensstandard.« Eine andere: »Ich gehe mit keinen Sephardim aus und würde sie ganz bestimmt nicht nach Hause mitnehmen.« Dagegen eine sephardische Jüdin: »Die Aschkenasim ignorieren uns und rufen uns schmutzige Schimpfworte nach.«
Sephardim und Aschkenasim sind derartig miteinander verfeindet, daß die Spitzenorganisatton der mosaischen Religionsgemeinschaft - das Oberrabbinat - nur durch einen Kompromiß zustande kam: Die beiden Gruppen wählen getrennt je einen Oberrabbiner für eine Amtszeit von fünf Jahren, beide gemeinsam bilden eine Art jüdische Kirchenleitung. 1955 wählten Staat und Synagoge zum letztenmal die beiden Oberrabbiner; als Vertreter der Sephardim fungierte Rabbi Nissim, als Vertreter der Aschkenasim Rabbi Herzog.
Als nun Ende 1959 Oberrabbiner Herzog starb, witterte Laizist Ben-Gurion
eine Chance, endlich einen weniger orthodoxen Mann in das Oberrabbinat manövrieren zu können. Er fand schnell einen passenden Kandidaten: den Militärkaplan, Rabbi und Oberst Schlomo Goren.
Um den allen theokratischen Neigungen abholden Oberst an die Stelle Herzogs zu lancieren, ließ der Premier seinen Religionsminister eine Novelle zum Wahlgesetz ausarbeiten, wonach nur noch Rabbiner unter 70 Jahren und mit festem Wohnsitz in Israel zu Oberrabbinern wählbar sein sollten. Durch dieses Manöver wollte der Premier zwei Gegenkandidaten Gorens ausbooten.
Während Ben-Gurion die Wahl des neuen Oberrabbiners bis zum August 1960 hinausschob, um seinem Kandidaten Goren die erforderliche Popularität zu verschaffen, drohte der übriggebliebene Oberrabbiner Nissim die Pläne des Regierungschefs zu durchkreuzen. Nissim mußte nämlich erkennen, daß er keine Chancen hatte, nach Ablauf seiner Amtszeit als Oberrabbiner im Herbst 1960 wiedergewählt zu werden. Er propagierte deshalb ein neues Wahlgesetz, da das alte - in der Zeit des britischen Palästinamandats erlassen
- überholt sei, und verzögerte so auch,
seinerseits die Neuwahl des zweiten Oberrabbiners:
Damit war praktisch das Oberrabbinat lahmgelegt; ohne dieses Spitzenamt aber ist die mosaische Justiz aller Grundlagen beraubt.
In den neugegründeten Dörfern Israels können keine Gottesdienste stattfinden, da keines der beiden mosaischen Lager dem anderen die Ernennung eines Rabbiners erlauben will. Außerdem bleibt nicht-jüdischen Frauen der Übertritt zum Judentum und damit die Eheschließung vewehrt, weil die Rabbiner fehlen. Weitere Folge: Die Neugeborenen sind ihrer religiösen Rechte beraubt, die ihnen nur eingeräumt werden, wenn die Mutter der mosaischen Religion angehört.
Diese anarchischen Zustände schienen sich noch zu - verschärfen, als Ende vergangenen Jahres Ben-Gurions Religionsminister Toledano im Alter von 80 Jahren starb. Der Premierhatte damit seinen wichtigsten Bundesgenossen verloren.
Indes, gerade diesen Verlust wußte der Regierungschef zur Stärkung seiner Stellung zu nutzen. Er ernannte keinen neuen Minister, sondern ließ sich selber, bereits Ministerpräsident und Verteidigungsminister, im Sessel des Religionsministers nieder. Zugleich sperrte er dem renitenten Oberrabbiner Nissim das Gehalt und erklärte dessen Amtszeit für abgelaufen.
Die Drohung des neuen Religionsministers, notfalls werde sich der Staat grundsätzlich von der Wahl des Oberrabbinats distanzieren, machte schließlich den Rabbinern klar, daß sie sich bald zu einer Neuwahl des Oberrabbinats bequemen müssen, um den laizistischen Religionsminister Ben-Gurion wieder loszuwerden. Die Wahl Gorens scheint mithin gesichert.
Angesichts der Winkelzüge Ben -Gurions aber hoffte die »Jerusalem Post«, daß in Israel 2der Tag anbricht, da Religion aufhört, eine Staatsangelegenheit zu sein, und zu einer Sache wird, die ausschließlich zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer ausgetragen wird«.
Toledono
Israels Militärrabbiner Goren Rassenhochmut an Mikrophonen
Nissim